Schweitzer Fachinformationen
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Wiederholt war er in den letzten Tagen weniger gewarnt als auf ziemlich allmächtige Art belehrt worden, dass Gott diese Woche Freitag das Schwimmen verbot. Und heute war Freitag. Er hatte sich das Meer jeden Tag viele Male beguckt, und es war tatsächlich rauer und rauer geworden und die Farbe des Wassers ganz komisch. Nicht grün oder blau, sondern irgendwie grau und an manchen Stellen sogar schwarz, und jetzt, wo das Wasser vor Sünden kochte, hauten die Wellen so hart auf den Sand, dass der Kantstein, auf dem er saß, bis ganz in seinen Rücken rauf bebte. Irgendeine Verbindung kam unter dem Strand durch und verlief sich hier am Ende der Straße.
Die Wellen schlitterten heran wie große, trunkene Häuser, dann fielen sie platt aufs Gesicht und zerspritzten auf dem harten Sand. Er hielt in den schwellenden Fratzen der Brecher weiter Ausschau nach den bärtigen Sünden, die da draußen, wie er wusste, herumtrieben wie Seetang, und manchmal erhaschte er einen kurzen Blick. Sie waren wie Bärte, nur meterlang, und das Gesicht des Mannes, aus dem sie wuchsen, sah man nicht. Es waren irgendwie mehrere Bärte, aber sie gehörten alle zu demselben Gesicht. Als würde dort ein Mann knapp unter Wasser treiben, dann schnell wie ein Fisch verschwinden und wieder an einer anderen Stelle treiben. Weil nämlich heute und morgen Tischa beAv oder Rosch ha-Schana oder Jom Kippur oder einer dieser Feiertage war, von denen Grandpa und die anderen alten Männer irgendwie immer wussten, wann sie da waren - Tage, an denen sich alle herausputzten und er diesen Tweedanzug und eine Fliege und neue Schuhe tragen musste und alle den ganzen Tag lang nichts essen durften außer ihm, weil er noch keine sechs war und noch keine Hebräischstunden hatte. Wenn er erst sechs wäre, würde er außerdem Klavier- oder Geigenstunden haben, und sobald er mit Klavier oder Geige angefangen hätte, würde er an einem Feiertag wie diesem auch nichts essen dürfen, genau wie sein Bruder nicht. Bis dahin aber durfte er seinen Bruder und den Vater in der Synagoge besuchen, musste aber nicht. Es zu tun war zwar richtig, aber wenn er ungeduldig wurde und raus wollte an die frische Luft, dann konnte er gehen, ohne dass ihm jemand Vorwürfe machte oder ihn auch nur beachtete. Er durfte praktisch alles, weil er immer noch erst fünf war.
Heute Morgen nach dem Frühstück, das er ganz allein an dem mit Wachstuch bespannten Küchentisch eingenommen hatte, nachdem sein Vater und sein Bruder zum Beten gegangen waren, hatte er beschlossen, danach den ganzen Tag keinen einzigen Bissen mehr zu sich zu nehmen. Aber um elf hatte seine Mutter ihm wie immer draußen ihr Marmeladenbrot hinterhergetragen und, als er es nicht essen wollte, gemeint: »Nächstes Jahr .«, und da hatte er ihr zuliebe ein Auge zugedrückt und gegessen. Es hatte gut, aber nicht köstlich-gut geschmeckt, und prompt war er böse geworden, weil sie es ihm aufgedrängt hatte. Dann war sie mittags wieder aufgetaucht, um ihn zum Essen zu rufen, und missmutig hatte er schon wieder gegessen. Und jetzt wünschte er sich hier auf seinem Kantstein, während er auf das Meer hinausstarrte und dem Donnergebrüll lauschte, wirklich sehr, sein Vater oder sein Bruder hätten ihm klipp und klar verboten, überhaupt zu essen. Das hätte er gekonnt. An der Seite seines großen Vaters und seines guten Bruders hätte er sogar den ganzen Tag ohne Wasser überstanden. So, wie er jetzt zum Beispiel nicht im Traum daran dachte, ins Meer zu gehen, obwohl ihn der Tweedanzug im Nacken und an den Schenkeln pikste und obwohl er es sich nicht verkneifen konnte, sich vorzustellen, wie prima sich das Wasser auf der Haut anfühlen würde. Seine Mutter hatte gesagt, es wäre in Ordnung, wenn er statt des Anzugs Baumwollshorts anzöge, aber er dachte gar nicht daran, das piksige Ding abzulegen. Ein Feiertag war ein Feiertag. Er versuchte, aus seinem Gedächtnis zu tilgen, dass er zu Mittag gegessen hatte. Er versuchte, Mordshunger zu haben, konnte sich aber an das Gefühl nicht genau erinnern. Wenigstens war er seit dem Mittagessen nicht wie sonst auf ein Glas Milch in den Bungalow zurückgekehrt. Er zählte nach und tröstete sich, halb überzeugt, damit, dass er heute immerhin schon dreimal gefastet habe, dann wischte er etwas Sand von seinen Schuhen, um ganz rein zu sein. Gleich darauf aber fühlte er sich schon wieder rastlos; allein konnte er an nichts glauben, und er wünschte, sein Bruder oder sein Vater wäre da, um zu sehen, wie rein er war. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass er, ohne sich groß beherrschen zu müssen, schon den ganzen Tag nicht in der Nase gebohrt hatte, und fühlte um sich Silberglanz. Nur war keine Menschenseele da, es zu sehen.
Das Meer donnerte weiter. Der Strand war weiß wie Salz und menschenleer. Es gab kein Eiswagenbimmeln, kaum mehr Autos vor den Bungalows an der Straße, weil schon September war, und die kleinen Veranden, eine genau wie die andere, waren fast alle leer. Es standen auch so gut wie keine Mülltonnen draußen. Wenn er in der Tasche die Hand an seinen Schenkel drückte, spürte er das verrostete Taschenmesser, das er letzte Woche im verlassenen Bungalow der Levines erbeutet hatte. Es war der beste Schatz, den er je zu Saisonende gefunden hatte, wenn er den anderen Jungen auf ihren Raubzügen folgte. Er fragte sich beiläufig, warum Mütter eigentlich immer so viele Haarklammern und haarige Seifenstücke zurückließen. Bei den Vätern waren es Rasierklingen, aber die steckten nicht in den Ritzen der Schubladen und unter Matratzen. Er fragte sich, warum Mütter verstummten oder das Thema wechselten, wenn er ein Zimmer betrat. Unter ihren Röcken war es dunkel. Väter redeten munter weiter, beachteten einen kleinen Jungen, der hereinschneite, so gut wie gar nicht, und bei ihnen war einfach mehr Licht.
Eine neue Seltsamkeit auf dem Meer zerstreute solche Erinnerungen. Er sah die Oberfläche sich aufrichten. Weit, weit draußen erhob sich ein Kamm so breit wie das Meer selbst, und es kündigte sich ein neues Grollen an, das tiefer war als alles, was er bisher gehört hatte. Er schoss herrlich erschreckt hoch, bereit, die Flucht zu ergreifen. Höher und höher wuchs der Kamm, bis da eine einzige, gerade Wand fast schwarzen Wassers stand. Niemand sonst sah sie, begriff er, nur er und der Sand und die leeren Veranden. Und jetzt kippte die Wand, schwer und steinhart, und er hörte sie fast vor sich hin kreischen, als sie kopfüber aufschlug und die Gischt hochspritzte wie fünfzig Gartenschläuche auf einmal. Er wandte sich ab, froh, dem Tod entronnen zu sein, und machte sich auf den Weg nach Hause, um zu berichten. Die freudigen Worte formten sich schon in seinem Mund. »Das Wasser ist ganz, ganz hart geworden, wie die Straße, und dann ging es hoch in die Luft, bis ich den Himmel gar nicht mehr sehen konnte, und dann, stell dir vor, dann hab ich den Bart gesehen!« Er blieb abrupt stehen.
Er war sich nicht sicher, plötzlich, ob er den Bart gesehen hatte. Er erinnerte sich, ihn gesehen zu haben, aber er war sich nicht sicher, ob er ihn wirklich gesehen hatte. Er stellte sich seine Mutter vor; sie würde ihm glauben, wenn er es ihr sagte, wie sie immer alles glaubte, was er von seinen Erlebnissen erzählte. Doch gleich beschlich ihn ein trauriges Gefühl und machte ihn unschlüssig, weil ihm einfiel, dass sie in letzter Zeit weniger begeistert war von dem, was er ihr erzählte. Zwar nannte sie ihn nicht einen Lügner, wie es sein Bruder Ben tat, oder fragte ihn aus wie der, bis unstimmige Details alles verdarben. Aber in letzter Zeit war etwas an ihr wie nicht genau zuhören, nicht wie sonst immer. So dass er selbst bei ihr neuerdings ausschmücken musste, damit sie ihm überhaupt noch zuhörte, mit Sachen, von denen er wusste, dass sie nicht stimmten. Wie das mit dem Pferd vom Milchmann und der zertretenen Fliege. Es hatte wirklich eine Fliege zertreten, aber als sie zu seinem Bericht nur genickt hatte, hatte er außerdem gesagt, dass das Pferd dann noch mal den Huf gehoben, auf den Boden gesehen, gewartet und eine zweite Fliege zerstampft hatte, und sogar eine dritte. Sein blasses Gesicht verdüsterte sich. Wenn er ihr jetzt mit der Sache vom Meer kam, würde er wahrscheinlich sagen müssen, dass er unter Wasser nicht nur den Bart, sondern auch das Gesicht gesehen hätte, und womöglich die Augen beschreiben. Im Geiste sah er die Augen ganz deutlich - sie waren blau mit fetten weißen Lidern, und sie konnten durchs salzige Wasser glotzen, ohne zu blinzeln -, aber das war nicht dasselbe wie wissen, dass er die Augen wirklich gesehen hatte. Wenn sie es glaubte, dann hatte er sie wahrscheinlich wirklich gesehen, aber wenn sie nur nickte, wie sie es in letzter Zeit tat, ohne vor Staunen nach Luft zu schnappen, dann käme er sich am Ende lumpig und schlecht vor, weil es eine Lüge wäre. Mit ihr war es langsam fast so, wie seinem Bruder was zu erzählen. Er bekam eine Wut auf sie, während er dastand und danach lechzte, ihr wenigstens von der Welle zu erzählen. Für ihn geschah nur, wovon er erzählen konnte, und in letzter Zeit war es schwierig geworden, noch irgendwas zu erzählen.
Er ging an die Bungalowtür und betrat bitter vor Unschlüssigkeit das kleine Wohnzimmer. Er sah sie drüben in der Küche mit Töpfen hantieren. Sie warf ihm einen Blick zu und sagte: »Trink ein Glas Milch.«
Milch! Wo sein Vater und sein Bruder in diesem selben Moment in der Synagoge standen und mit rissigen Lippen und gelb vor Hunger zu Gott beteten. Er gab keine Antwort. Er konnte sich nicht einmal überwinden, in die Küche zu gehen, an den gesegneten Ort, wo er so gern mit dem Kinn auf dem kühlen Wachstischtuch saß, ihr beim Kochen zusah und von den erstaunlichen Dingen erzählte, die er draußen in...
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