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Obsession
Als ein junger britischer Offizier mit Namen William Richard Hamilton im Herbst des Jahres 1801 das sagenumwobene Alexandria betrat, fand er sich in einer erstaunlichen Szenerie wieder - tiefstes Elend vor der Kulisse der verlorenen Pracht der Pharaonen. Die Stadt Alexandria, einst ruhmreiches Zentrum der Gelehrsamkeit, war jetzt eine brennende Ruine, gefangen in einem Krieg, den Europa auf afrikanischem Boden austrug. Nach dem niederschmetternden Sieg der Briten über das napoleonische Frankreich vegetierten verwundete Soldaten sterbend in der sengenden Sonne; aus ihren Kerkern befreite Häftlinge schleppten ihre zerschundenen Leiber durch die Gassen; ausgehungerte Familien kämpften um die letzten toten Armeepferde. Für Hamilton jedoch bot sich just in diesem Moment die Chance seines Lebens. Der vierundzwanzigjährige Cambridgeabsolvent und Altphilologe war zu einem ganz bestimmten Zweck nach Ägypten geschickt worden: Er sollte den Stein von Rosette aufspüren.
Nachdem sie jahrhundertelang von den europäischen Eliten ignoriert wurde, die nur der glorreichen Geschichte Griechenlands und Roms huldigten, rückte neuerdings die noch ältere ägyptische Kultur mit ihren erstaunlichen Errungenschaften immer mehr in den Fokus wissenschaftlichen Interesses und wurde somit zu einer neuen, besonders begehrten Trophäe für die nach militärischer und kultureller Vorherrschaft strebenden Großmächte Europas. Drei Jahre zuvor, im Sommer 1798, war Napoleon Bonaparte in der Hoffnung, Großbritannien durch die Blockade des Landwegs nach Indien zu schwächen, an der ägyptischen Küste gelandet. Dieser militärische Schachzug war zwar nicht außergewöhnlich, doch er ebnete auch einer weitaus kühneren wissenschaftlichen und kulturellen Eroberung den Weg. Im Kielwasser seiner Invasionstruppen schickte Napoleon noch eine weitere gut ausgebildete Armee ins Land - die der Gelehrten. Um Frankreich die Oberhoheit über die altägyptische Kultur zu sichern, hatten diese ehrgeizigen jungen savants den Auftrag erhalten, alles an sich zu nehmen, was sie den Gräbern und dem Erdreich zu entreißen vermochten. Sie vermaßen das Haupt der Großen Sphinx, kartographierten Kairo und weitere Städte und bildeten alles ab, was sich nicht zusammenrollen und fortschaffen ließ. Diese Männer - Botaniker und Ingenieure, Künstler und Geologen - lebten, wie einer von ihnen aufgeregt nach Hause schrieb, »im Zentrum eines flammenden Kerns der Vernunft«. Und in ihren Augen gab es nichts, was die militärische und geistige Überlegenheit Frankreichs besser hätte symbolisieren können als die Beschlagnahmung des Steins von Rosette.
Obwohl seine fein säuberlich eingeritzten Hieroglyphen zur damaligen Zeit noch nicht entziffert werden konnten, verhieß dieser Stein den europäischen Gelehrten Zugang zu den spektakulären Geheimnissen, die am Ufer des Nils ihrer harrten - Geheimnisse aus uralter Zeit, noch gänzlich unerforscht, Geheimnisse, die ihnen ein völliges Umschreiben der bisher bekannten Geschichte ermöglichen würden. Zwei Jahre zuvor hatten französische Soldaten, die im Hafen von Rosette am Westufer des Nils eine baufällige alte Festung auszubessern suchten, die 1,12 Meter hohe Stele ausgegraben. Die Offiziere erkannten sofort den außerordentlichen Wert des dunkelgrauen Steins: Forscher hofften oft ein Leben lang vergebens auf einen solchen Fund. In seine Stirnseite war ein zweitausend Jahre alter Gesetzeserlass eingeritzt, verfasst in drei verschiedenen Sprachen: zwei davon waren unbekannt - das Demotische, einst die Alltagssprache des ägyptischen Volkes, sowie die verlockend mysteriöse Sprache seiner Priester in Hieroglyphen -, die dritte hingegen bekannt, das Altgriechische. Mit seiner Hilfe würden sich die beiden anderen zu gegebener Zeit entschlüsseln lassen. Die Nachricht von dem Fund hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und schon bald sprachen Gelehrte und Wissenschaftler in ganz Europa mit gedämpfter Stimme über den Stein von Rosette.
Dass Napoleon einen so kostbaren Wegweiser zu antiker Weisheit besaß, war Frankreichs imperialem Rivalen Großbritannien schier unerträglich. Nachdem die Briten aus der blutigen Belagerung Alexandrias als Sieger hervorgegangen waren, forderten sie nun entsprechend ihre Rechte als Eroberer ein: jeden Sarkophag, jede Skulptur, jeden goldglänzenden Skarabäus und - vor allem - den Stein von Rosette. Den besiegten Franzosen blieb nichts anderes übrig, als die Stele zu verstecken. Und so hatten Napoleons Soldaten sie ungeachtet ihres Umfangs und Gewichts - Schätzungen zufolge eine Dreivierteltonne - bereits dreimal bewegt, zuerst vom Fundort in ihr Lager, dann nach Kairo und schließlich nach Alexandria. Dort befand sie sich in einem Lagerhaus, verborgen zwischen Stapeln unauffälliger Frachtkisten und mit Matten bedeckt. Um die Briten zu täuschen, streuten die Franzosen das Gerücht, der Stein habe das Land bereits verlassen; er sei an Bord eines Schiffes geschmuggelt worden, welches im Schutz der Nacht die Segel gesetzt und nach Europa aufgebrochen sei, genau wie Bonaparte selbst es getan hatte, als die Niederlage unausweichlich schien.
William Richard Hamilton weigerte sich jedoch, dergleichen Ausflüchte gelten zu lassen. Er wühlte sich durch die Trümmer der Stadt, da er nicht glauben mochte, dass der Stein von Rosette Ägypten verlassen hatte, und bestand darauf zu erfahren, wo er versteckt sei. Der kommandierende französische General, der einen Großteil der kulturellen Plünderungen persönlich überwacht hatte, geriet angesichts der irritierenden Beharrlichkeit des jungen Mannes außer sich, und warf den Briten vor, ihm gleichzeitig die Daumenschrauben anzulegen und die Pistole auf die Brust zu setzen. Dabei gab er einen Satz zum Besten, der als ewige Karikatur imperialer Doppelmoral in die Geschichte eingehen würde: »Wir haben nirgendwo je geplündert!«, schimpfte er verächtlich. Bald darauf stieß Hamilton, der keine Sekunde daran gezweifelt hatte, dass es so kommen würde, auf das Versteck des Steins. Und fünf Monate später erreichte dieser an Bord der beschlagnahmten französischen Fregatte HMS L'Égyptienne endlich London, wo er sogleich zum kostbarsten Schatz des British Museum erklärt wurde.
Mit der Ankunft des Steins von Rosette war Europas Interesse an den Geheimnissen des Nils noch längst nicht erloschen. Der »Orientalismus«, eine jahrzehntelange Leidenschaft für das alte Ägypten und die Kulturen des Nahen Ostens, war entfacht. Als zwanzig Jahre später ein französischer Gelehrter namens Jean-François Champollion es endlich schaffte, die Hieroglyphen zu entschlüsseln, steigerte sich die Begeisterung der Europäer für die Geschichte Ägyptens und das Niltal zur regelrechten Raserei. Kaum waren die kryptischen Geheimnisse der vergessenen Sprache der Pharaonen gelüftet, öffneten sich die Schleusen des wissenschaftlichen Forscherdrangs, dessen Erkenntnisse sich wiederum bis in die Populärkultur ergossen. Archäologie und Kunst, Poesie und Mode erlagen nach und nach dem Zauber dieser glanzvollen versunkenen Hochkultur. Generationen von Aristokraten investierten Zeit und Geld, um im Wettstreit miteinander immer wieder neue Erkenntnisse über diese antike Welt zu gewinnen und sie mit der klassischen griechischen und römischen Literatur und Geschichte abzugleichen, die ihren Schulalltag geprägt hatte. Zu den reizvollsten Geschichten, die sie gelesen hatten, gehörten die verschiedenen Theorien zu den Quellen des Nils, von den Spekulationen des griechischen Historikers Herodot bis hin zu den gescheiterten Expeditionen der Prätorianergarden Kaiser Neros.
Hamilton hatte sein Land an die Spitze des neuen Trends katapultiert und seine Faszination für die Geheimnisse des Nils, die er mit dem Rest der Welt teilte, wuchs stetig. Mit zunehmendem Alter intensivierte er seine Forschungen und veröffentlichte eine eigene Übersetzung der griechischen Inschrift auf dem Rosetta-Stein. Außerdem half er dabei, die Parthenon-Skulpturen vom Meeresgrund zu bergen - eines der Schiffe, die sie transportiert hatten, war gesunken -, und ergänzte damit seine ohnehin schon beachtliche Bilanz um eine weitere umstrittene kulturelle Ikone. 1830 trug er dazu bei, Großbritanniens nationales Interesse in einer Institution zu verankern, indem er zunächst Gründungsmitglied, später dann Präsident der Royal Geographical Society wurde. Auch ihr lateinisches Motto - Ob terras reclusas, »Der Erschließung neuer Gebiete« - entstammte seiner Feder.
Großbritannien, das seine klügsten Köpfe und ein gewaltiges Vermögen darauf verwendete, den Ursprüngen der Menschheit nachzuspüren, nahm in den neuen Forschungsbereichen, die sich dabei auftaten, schon bald eine führende Rolle ein. Als Hauptorganisatorin und -fürsprecherin in diesem Zusammenhang fungierte die Royal Geographical Society. Doch während sie das British Museum mit Artefakten bestückte, derer man sich mit imperialer Gewalt bemächtigt hatte, scheiterte die Society in ihrem Bestreben, dem antiken Ägypten bis zu den Quellen des Nils nachzuspüren, an der schieren Länge des majestätischen Stroms, des längsten der Welt, der sich bereits unzähligen Vorstößen zu seinen Ursprüngen widersetzt hatte. Unermesslich weite, unerforschte, von indigenen Völkern und zahllosen Widrigkeiten der Natur heftig verteidigte Gebiete, die angeblich das geheime Erbe der gesamten modernen Welt bargen, vereitelten jeden Erkundungsversuch.
Anstatt sich stromaufwärts zu kämpfen, nur um dann entscheiden zu müssen, welcher der verwirrend vielen...
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