Im 3. Schlesischen Ulanen-Regiment
Idyllische Jahre - keine himmlischen Jahre
Autor mit Vater in Weißrussland, Mochylew 1916
Ich bin 1908, einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, in Zamosc, einer polnischen Stadt im Bezirk Lublin, geboren. Unser ständiger Wohnsitz war die kleine Stadt Wladimir Wolynski (das heutige Wolodymyr in der Ukraine), wo mein Vater Michal Piotr Milewski als Berufsoffizier in der russischen Armee diente.
Dort kommandierte er die Leibgarde namens »Zar Alexander III«. Obwohl er Pole war, stieg er in diesem Regiment vom Leutnant bis zum Rang eines Hauptmanns auf. Dies war, wie er selbst sagte, in der zaristischen Armee eine außergewöhnliche Ausnahme.
In der Offizierskaserne stand uns eine schöne, geräumige Wohnung zur Verfügung, in welcher eine patriotische Atmosphäre herrschte. Bis heute klingt noch die Melodie des berühmten Marsches Tausende Kämpfer verlassen Warschau von 1831 in meinen Ohren. Auf unserem Grammofon, das einen riesigen Trichter besaß, wurde dieser Marsch oft gespielt. Zu Hause sprachen wir ausschließlich Polnisch und lasen polnische Literatur.
Ich hatte zwei Schwestern, Lunia und Irka. Ein junges Kindermädchen betreute die Kinder. Es gab auch den Offiziersburschen Ignat, der für uns unentbehrlich war. Er konnte fast alles, auch Wäsche waschen und bügeln.
Es ging uns sehr gut. Manchmal hörte ich sogar, wie meine Mutter meinem Vater Vorwürfe machte, weil er seinen Lohn nicht in Geldscheinen, sondern in goldenen Münzen nach Hause brachte - davon gingen wohl die Hosentaschen kaputt.
Die Mutter des Autors: Janina, geb. von Puck (1925)
Den Sommer verbrachten wir meistens in Szczebrzeszyn, einem Ort in der Nähe von Zamosc. Dort besaßen meine Großeltern einen großen Gutshof am Fluss Wieprz. In der Stadt wohnten sehr viele Juden. Häufig führte ich mit den Sprösslingen der bärtigen, schläfenlockigen Anwohner so erbitterte Kämpfe, dass ich mich oft nur dank meiner schnellen Beine vor ihnen retten konnte.
Trotz meiner Rangeleien mit den kleinen Vertretern Israels schwärmte ich von den wohlschmeckenden Hefezöpfen, von den Brezeln und von den knusprig gebackenen Kuchenplätzchen mit Zwiebeln und Mohn, die ich später nirgendwo mehr finden konnte.
So verging meine unbeschwerte Kindheit frei von jeglichen irdischen Sorgen. Diese idyllische Kinderzeit dauerte aber nicht mehr lange. Zwei tödliche Schüsse, die Gavrilo Princip auf das Erzherzogspaar in Sarajevo am 28. Juni 1914 abfeuerte, veränderten plötzlich die Weltgeschichte. Kurz danach begann Russland mit der Mobilisierung seiner Armee.
Einen Monat später zog unser Vater in den Krieg. Wir hingegen fuhren mit unserer Mutter auf das Gut der Großeltern nach Szczebrzeszyn, wo es noch ruhig war. Doch die Front kam schnell in die Nähe unseres Zufluchtsorts. Die russische Armee zog sich in Eile zurück, nachdem sie mit dem heftigen Widerstand der feindlichen Truppen konfrontiert wurde. Im Frühsommer 1915 - meiner Meinung nach völlig sinnlos - flohen große Menschenmassen Richtung Osten. Um den immer näherkommenden preußischen Truppen zu entfliehen, schloss sich auch unsere Familie der Flüchtlingswelle an. Mittlerweile dauerte der Krieg schon fast ein Jahr, die vier legendären apokalyptischen Reiter hielten eine reiche Ernte.
Für längere Zeit hielten wir uns in Chelm Lubelski auf, wo gewaltige Flüchtlingsströme sämtliche Straßen und Plätze der Stadt versperrten. Es fehlte an Wasser, Nahrung und Medikamenten. Kein Wunder, dass bald die Choleraepidemie ausbrach, an der viele Menschen starben.
Auch unsere Familie wurde von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. Die älteste Schwester Lunia - eine sehr gute Schülerin - hatte sich in der Nachbarschaft angesteckt. Bereits am zweiten Tag der Erkrankung mussten wir von ihr Abschied nehmen. Sie starb an Cholera, weil sie ohne ärztliche Versorgung und Medikamente zurückgelassen wurde. Lunia war gerade elf Jahre alt geworden.
Obwohl der Rest unserer Familie auch erkrankte, überlebten wir, weil diese heimtückische Krankheit bei uns nur einen milderen Verlauf nahm. Nach der Genesung sahen wir jedoch so erbärmlich wie Schatten unserer selbst aus.
In diesen schweren Zeiten kam uns Tante Stasia zu Hilfe. Sie lud unsere Familie auf ihren Gutshof Czwarte in Wolyn ein, wo ihr Vater Felicjan Motwill Forstmeister war.
Auf diesem Landsitz genossen wir himmlische Ruhe und konnten uns bald erholen. Nicht selten brachte uns Herr Motwill, ein begeisterter Jäger, einen Auerhahn oder ein anderes Wild, das er geschossen hatte.
Ich erinnere mich daran, dass ich eines Tages am Himmel den zigarrenförmigen Körper eines riesigen Zeppelins sah. Als ich voller Staunen und Furcht dastand, holte Herr Motwill seine Flinte und schoss zweimal in Richtung des merkwürdigen Himmelskörpers. Seit dieser heroischen Tat war Herr Motwill für uns Kinder der größte Held der Welt.
Bald erfuhren wir, dass ein Teil unserer Familie sich in Sumy im Gouvernement Charkòw in der Ukraine angesiedelt hatte. Also nahmen wir Abschied von unseren gastfreundlichen Helfern und zogen nach Sumy. Dort bekamen wir eine Zweizimmerwohnung mit Gartennutzung und Verpflegung bei Frau Cybulnikow in der Kostiukowa-Straße 38. Trotz des Krieges gelang es unserer Wirtin, uns mit gutem Essen zu verwöhnen.
In Sumy gab es bereits eine große polnische Kolonie. Ich erinnere mich an die Familien: Kalcki, Bujacki, Waldo und Potocki. Vor unserer Ankunft wohnten dort auch unser Onkel Stanislaw, Onkel Zygmunt und Tante Stefa sowie die beiden Schwestern des Vaters, Tante Pola und Tante Hela. Bei den häufigen Zusammentreffen unserer großen Familie wurden alle Neuigkeiten ausgetauscht, wobei die Frontnachrichten die größte Rolle spielten.
Oft kamen zu uns Gäste, um Préférence oder ein anderes Kartenspiel zu spielen. Manchmal tanzten die Erwachsenen den damals berühmten Walzer Na sopkach Mandzurii, den Herr Waldo meisterhaft auf einem Haarkamm spielen konnte. Bei solchen Anlässen leerten unsere Gäste Mutters Konfitürengläser, die sich auf dem Küchenschrank befanden.
Zu dieser Zeit begannen meine Schuljahre. Ich musste in die Schule gehen, oft gegen meinen Willen, vor allem an Tagen mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher. An solchen Tagen wurde ich von dem seichten Fluss Psjol, der durch Sumy floss, mit seinem sandigen Boden magisch angezogen.
In Sumy besuchte ich zum ersten Mal ein Kino, das man damals als »Illusion« bezeichnete. Ich erinnere mich an das Kino »Lux«, wo man in der Wochenschau die aktuellen Kampfereignisse beinahe aus ganz Europa verfolgen konnte; mit vor Staunen geöffnetem Mund, fasziniert und versunken im Kinosessel, nahm ich die neuesten Berichte auf. Ab und zu besuchten wir das Polnische Haus. Dort hing an einer Wand eine Landkarte Polens vor der Teilung, an der gegenüberliegenden Wand ein Porträt von Tadeusz Kosciuszko, einem polnischen Nationalhelden, flankiert von zwei Bahnen der polnischen weiß-roten Nationalfahne.
In dieser Zeit kämpfte mein Vater an der Nordfront gegen die Deutschen in der Nähe von Dünaburg und Illuxt. Offenbar hatte er sich dort verdient gemacht, weil er ständig befördert wurde und viele Male eine neue Auszeichnung erhielt.
Mein Vater wurde viermal verletzt und zweimal bei einem Gasangriff fast vergiftet. Das war das erste Mal, dass die Deutschen an der Ostfront Giftgas einsetzten. Nach der letzten schweren Vergiftung wurde mein Vater ins Lazarett nach Zarskoje Selo gebracht, das für die Garderegimenter bestimmt war. Sein Zustand war sehr bedrohlich, und die Ärzte rechneten mit einer viermonatigen Behandlung.
Aufgrund dieser Diagnose und nach der persönlichen Nachricht von Zarin Alexandra, die die Ehefrauen verwundeter hoher Offiziere nach Zarskoje Selo einzuladen pflegte, beschloss meine Mutter, zu ihrem Mann zu fahren.
Während der Abwesenheit unserer Mutter kümmerte sich Frau Danilowska um uns, die in dieser Zeit bei uns wohnte. Kurz vor Ostern 1916 erhielten wir eine wunderschöne Postkarte aus Zarskoje Selo, die einen Ausschnitt der Hauptfassade der Zarenresidenz zeigte. Nach einem Monat kehrte unsere Mutter zurück. Tagelang erzählte sie von ihren Erlebnissen am Hofe des russischen Imperators: Unmittelbar nachdem sie in Zarskoje Selo angekommen war, wurde ihr eine luxuriöse Zweizimmerwohnung zugewiesen.
Die gesamte Zarenfamilie erwies sich im Alltag als zugänglich und sehr freundlich gegenüber meiner Mutter. Zarin Alexandra mit ihren ältesten Töchtern Olga und Tatjana versorgte in der Ordenstracht der Barmherzigen Schwestern verwundete Soldaten im Krankenhaus. Der Kronprinz Alexej stand aufgrund seiner vererbten Hämophilie unter Obhut eines riesigen Kosaken, der dem Thronfolger nicht von der Seite wich. Besonders begeistert war unsere Mutter von den prächtigen Chören in der Hofkapelle und von den bezaubernd schönen Vorführungen des russischen Balletts. In Anbetracht der Pracht der höfischen Umgebung und der glamourösen Uniformen der Gardisten war es kein Wunder, dass die Zeit in Zarskoje Selo noch lange das Hauptthema in unserem Familienkreis war.
Nach der Genesung kam endlich unser Vater zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Hause, diesmal im Rang eines Oberstleutnants.
Die gemeinsame Zeit mit unserem Vater verging wie im Fluge. Danach wurden wir wieder mit unseren Sorgen und der politisch unsicheren Zukunft allein gelassen.
Es brach das Jahr 1917 an....