Schweitzer Fachinformationen
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Die Mitglieder der Organisation hatten den gefangenen Frauen sämtliche Habseligkeiten abgenommen, auch ihre goldenen Eheringe. Helen allerdings besaß keinen Ring, sondern hatte stattdessen eine Tätowierung auf dem Finger, die einen Vogel zeigte. Während sie noch wie gebannt darauf starrte, schrie plötzlich einer der Männer: »Siebenundzwanzig! Nummer siebenundzwanzig!« Erst realisierte sie nicht, dass sie gemeint war, doch als der Mann erneut losbrüllte, dachte sie, er sei wütend auf sie, weil sie ihren Platz in der Schlange verlassen hatte und zu Amina gerannt war. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als sie ihre beste Kindheitsfreundin Amina auf der anderen Seite der Halle hatte stehen sehen, und auch Amina hatte ungläubig den Mund aufgerissen. Aber sie hatten sich kaum ein paar Sekunden weinend in den Armen gelegen, da schrie der Mann schon wieder. »Siebenundzwanzig ist verkauft!« Er zeigte mit der Hand auf Helen. In der anderen hielt er einen Karton mit den Handys der gefangenen Frauen. »Lass sie los!«, rief Amina mit kaum vernehmbarer Stimme. Im selben Moment begannen sämtliche Handys im Karton zu klingeln. Die Angehörigen machten sich Sorgen, weil niemand auf ihre Kontaktversuche reagierte.
Der Mann in seinem schwarzen, bis zu den Knien reichenden Hemd und den oberhalb der Fußknöchel endenden Hosen versetzte Amina einen so heftigen Stoß, dass sie fiel. Helen beugte sich zu ihr hinunter, um ihr aufzuhelfen, doch der Mann packte sie an der Hand und zog sie in einen anderen Raum, wo er sie zu Boden stieß. Dann ging er hinaus und verschloss die Tür hinter sich. Ringsum saßen weitere Frauen auf dem Boden, alle mit gesenkten Köpfen. Jede von ihnen hatte ein Etikett an ihrer Kleidung, auf dem eine Zahl stand, so wie weit entfernte Sterne bloß noch mit Ziffern bezeichnet werden. Die einzige Frau ohne Nummer saß an einem Schreibtisch und reichte Helen ein Dokument. »Das ist deine Heiratsurkunde. Dein Ehemann kommt gleich.«
Ohne einen Blick daraufzuwerfen, gab Helen es ihr zurück. »Ich bin schon verheiratet.«
»Abu Tahsin hat dich online gekauft, er ist bereits auf dem Weg hierher«, sagte die Frau.
Von einem Markt, auf dem man Frauen verkaufte, hatte Helen noch nie gehört. Sie hätte so etwas noch nicht einmal für möglich gehalten. Obendrein irritierte sie, dass dieser Markt in einer Schule abgehalten wurde. Laut dem Transparent vor dem Eingang hieß sie »Blumen von Mosul«, und sie hatte große Ähnlichkeit mit der Grundschule, die sie selbst mit ihrem Zwillingsbruder Azad besucht hatte. Nicht einmal ihrer gestrengen Direktorin Sitt Ilham hätte man die Vorstellung von einem Frauenmarkt begreiflich machen können. Für Sitt Ilham war schon Kaugummikauen unmoralisch, sogar während der Pause. Azad hatte deshalb einmal einen Verweis von ihr erhalten, als sie ihn auf dem Schulhof dabei erwischte. Er, ein großer Liebhaber der Marke mit dem Pfeil auf der Packung, war davon ausgegangen, dass es mit Kaugummi nicht anders war als mit den Süßigkeiten, die die übrigen Schüler in der Pause konsumierten, ohne je Probleme zu bekommen. Und nun stand er entsetzt in Sitt Ilhams Büro. Vielleicht würde sie ihm mit der scharfen Kante ihres Lineals auf die Hand schlagen, wie sie es vor seinen Augen schon bei ein paar anderen Schülern getan hatte, die nach dem Klingeln nicht gleich in ihre Klasse gegangen waren. Schließlich hatten sie vor Ankunft des Lehrers auf ihren Plätzen zu sein, um respektvoll aufstehen zu können, wenn er den Raum betrat. Doch als Sitt Ilham am Ende der Befragung erfuhr, wer ihm das Kaugummi gegeben hatte, lächelte sie zu Azads Erstaunen plötzlich. »Grüß deinen Onkel Herrn Murad von mir, und sag ihm, Kaugummikauen ist verboten!«, trug sie ihm auf. »Und jetzt ab in deine Klasse!«
Dieser Raum hier mit dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch, an dem jetzt die Frau ohne Nummer saß und den Verkauf der Gefangenen organisierte, hatte durchaus Ähnlichkeit mit Sitt Ilhams Büro. »Zieh das hier an! Gleich kommt der Fotograf«, sagte sie gerade und reichte einer Gefangenen eine Tüte. Helen wunderte sich, welch widersprüchliche Kleidungsstücke die Mitglieder der Organisation ihnen aufzwangen. Zuerst hatten sie einen schwarzen Niqab tragen müssen, der sie bis auf die Augen komplett verhüllte, nun steckte man sie in tief ausgeschnittene Kleider, um sie darin zu fotografieren und zum Verkauf anzubieten. Der Fotograf ermahnte Helen, ihre Tränen abzuwischen.
In anderen Klassenräumen saßen Mitglieder der Organisation an Lehrerpulten und überwachten die Auswahl der Jungen für die militärische Ausbildung. Die Musterung fand auf dem vorderen Schulhof statt, genau da, wo sich Lehrer und Schüler jeden Donnerstagmorgen zum Flaggenzeremoniell versammelt hatten. Nun hisste die Organisation dort ihre eigene schwarze Flagge anstelle der irakischen, und statt die Nationalhymne zu singen, legten sie das Treuegelöbnis auf den Islamischen Staat ab.
Im Laufe der drei Monate, die sie sich schon in Gefangenschaft befand, hatte Helen allmählich die Gesetze jenes seltsamen Marktes begriffen. Wenn einer der Männer sie in einen benachbarten Klassenraum mitnahm und sie gleich nach der Vergewaltigung wieder zurückbrachte, bedeutete dies, dass er sie erst einmal hatte ausprobieren wollen, dass er sie genau prüfte wie ein Kunde die Ware. Entschied sich einer, sie zu kaufen, musste er eine bestimmte Summe an die Verwaltung der Organisation zahlen, die in einem mit dem Siegel des Staates versehenen Kaufvertrag festgehalten war. Da sie bereits in den Dreißigern war, betrug der Mindestpreis für sie nur 75 Dollar. Mit einem »Mietvertrag« durfte der Käufer sie auch für bestimmte Zeit einem anderen überlassen und sie später wieder zurücknehmen. Außerdem war er berechtigt, sie wieder an den Markt zurückzugeben oder gegen eine andere Frau umzutauschen. Einer von denen, die sie gekauft hatten, hatte sie mehrfach für kurze Zeit weiterverkauft, weil er Geld brauchte, und sie anschließend wieder zurückgenommen, nur um sie am Ende mit den Worten: »Die schreit im Schlaf. Kann sein, dass sie von einem Dämon besessen ist«, an den Markt zurückzugegeben.
Ungefähr einhundertzwanzig Frauen hatte man in die Halle dieser Mosuler Schule gezwängt. Wie häufig eine Frau vergewaltigt worden war, ließ sich an der Zahl ihrer Blutergüsse ablesen. Manche versuchten, sich hinter den anderen zu verstecken, aber den Wärtern entging nichts. Nachts, wenn die Versteigerungen vorbei waren, kamen die Wärter selbst und nahmen sich zu ihrem Vergnügen, wen immer sie wollten. Sie schoben die Schulbänke zur Seite und vergewaltigten die Frauen vor den Augen der anderen. Manche Gefangene hatte Helen durch die Blicke kennengelernt, die sie miteinander wechselten, während sie vergewaltigt wurden. Sie sprachen mit ihren Augen und kommunizierten über Tränen. Einmal, während einer Massenvergewaltigung am helllichten Tag, hatte eine der Gefangenen die Wärter angeschrien: »Hört auf! Würdet ihr das jemanden mit euren Müttern und Schwestern machen lassen?«
Augenblicklich schleuderte einer der Männer sie gegen die Wand, so dass sie das Bewusstsein verlor. Doch eine andere Frau rannte ihm hinterher, schrie unverständliche Worte und spuckte ihn an. Helen machte es ihr nach und spuckte auf den Mann neben ihr. Eine weitere Gefangene schloss sich an, und schließlich bespuckten sämtliche Gefangenen im Raum jeden Mann, den sie erreichen konnten. Sie starteten eine regelrechte Spuckkampagne gegen ihre Vergewaltiger. Von diesem kollektiven Aufstand überrumpelt schlugen die Männer mit aller Macht auf sie ein. Am Ende jedoch kehrte Ruhe ein. Die Männer wirkten erschöpft vom Einprügeln auf die Gefangenen, vielleicht aber auch, weil sie ihr Gesicht verloren hatten, und verließen einer nach dem anderen den Raum. Die Frauen dagegen warfen sich aufmunternde Blicke zu, wie um einander auf die mit blauen Flecken übersäten, schmerzenden Schultern zu klopfen. Einige konnten sich danach tagelang nicht bewegen.
Zusätzlich zu Arabisch und Kurdisch sprachen die Frauen eine dritte Sprache: das Schweigen. Layla, mit ihren zehn Jahren die jüngste Gefangene, kannte nur ein arabisches Wort: taftish - Untersuchung. Sie hatte es von der Frau aufgeschnappt, die in regelmäßigen Abständen in den Raum kam, um eine Untersuchung anzukündigen. Dann stellten die Gefangenen sich in eine Reihe, und die Frau filzte ihre Kleidung, um sicherzustellen, dass sie keine scharfen Gegenstände besaßen. Diese Untersuchungen häuften sich zunehmend, denn die Suizidrate unter den Gefangenen hatte einen Punkt erreicht, der die Mitglieder der Organisation irritierte.
Rehana versuchte sich mit einem Seil zu erhängen, das sie in einer Ecke der Halle gefunden hatte, der Sporthalle der einstigen Schule. Es war ein Springseil. Ein weibliches Mitglied der Organisation rannte auf sie zu und konnte es ihr gerade noch rechtzeitig entreißen. Nachdem sie ihr so das Leben gerettet hatte, verprügelte sie sie mit ebenjenem Seil. Es war dieselbe Inspektorin, die während der ersten Woche ihrer Gefangenschaft jede einzelne Frau angesprochen hatte. »Bist du verheiratet?«, hatte sie wissen wollen, und dann: »Wann hattest du deine letzte Periode?« Eine der Gefangenen fragte zurück: »Was soll diese Frage?« »Ja, was soll die Frage?«, schrie eine andere, dann eine weitere, noch lauter: »Was soll das?« Die Inspektorin machte einen Schritt zurück und schrie sie alle an: »Das Gesetz des Staates verbietet es, Schwangere zu verkaufen!«
Rehana sollte einem der Kämpfer kostenlos überlassen werden, allerdings nur als Haushaltshilfe. So regelte es die Preisliste der Organisation für die über...
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