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Dies ist die Geschichte eines Ortes, den es nicht gibt. So etwas wie Osteuropa existiert nicht. Niemand kommt von dort. Die Menschen kommen aus einzelnen Ländern - Slowakei, Lettland, Bulgarien - oder Städten: Sarajewo, Lódz, Mariupol. Manchmal kommen sie aus Regionen oder Landschaften: aus den Kiefernwäldern von Masowien, den regennassen Hügeln von Maramures, der kargen Felswelt des Lunxhëri-Massivs.
Aber wo auch immer sie herkommen, die Menschen identifizieren sich nicht als Osteuropäer. Der Begriff ist eine Bequemlichkeit für Außenstehende, ein Sammelbegriff, hinter dem sich ein ganzes Nest von Stereotypen verbirgt. Einige dieser Stereotype - Armut, Gangstertum, ethnische Konflikte - richten durchaus einigen Schaden an. Andere sind einfach nur traurig. Ein Freund von mir, Professor für polnische und deutsche Geschichte, wurde einmal allen Ernstes von einem Studenten gefragt, ob es denn stimme, dass Osteuropa «eine graue Gegend ist, wo nie jemand lacht».
Angesichts solch düsterer Assoziationen ist es kein Wunder, dass die Menschen auf keinen Fall mit Osteuropa in Verbindung gebracht werden wollen. Selbst auf der Ebene der internationalen Beziehungen verliert Osteuropa an Boden. In den letzten dreißig Jahren hat ein Land nach dem anderen versucht, das Etikett loszuwerden. Noch vor dem Fall der Berliner Mauer erklärten sich die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen zu einem Teil Mitteleuropas. Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland haben sich für eine nördliche Alternative entschieden und gelten heute am liebsten als Mitglieder einer «nordischen» Zone. Auf beiden Seiten des Balkans haben Länder von Montenegro bis Rumänien eine maritime Option gewählt und identifizieren sich mit Gemeinschaften, die entweder an der Adria oder am Schwarzen Meer liegen.
Angesichts so vieler Abtrünniger ist Osteuropa als geopolitischer Begriff so gut wie tot. Dabei schien seine Existenz vor nicht allzu langer Zeit noch absolut selbstverständlich zu sein. Ich bin alt genug, um mich an die Zeit zu erinnern, als Osteuropa noch eine ins Auge springende Realität war. Als ich 1986 die Rollbahn des Chopin-Flughafens in Warschau verließ, betrat ich eine völlig andere Welt als die, die ich in der Vorstadt von Pennsylvania zurückgelassen hatte. Wie in den übrigen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang war es eine Welt, die nach ihren eigenen Regeln funktionierte. Man konnte keinen Schinken im Laden kaufen, aber die Leute standen Schlange für neue Übersetzungen ausländischer Romane. Niemand wählte, aber die Politik war in aller Munde. Sogar der Geruch in der Luft war anders. Im Winter brennende Braunkohle, im Sommer die kühle Ausdünstung nicht geputzter Treppenflure. Wenn ich heute einen dieser Gerüche wahrnehme, fühle ich mich sofort in die verlorene Welt meiner Kindheit versetzt.
Damals war das, was Osteuropa greifbar machte und zusammenhielt, der Kommunismus. Vor der epochalen Umwälzung durch die Revolutionen von 1989 bis 1991 gehörte der gesamte riesige Kontinent zwischen Estland im Norden und Albanien im Süden, der Ukraine im Osten und der Tschechoslowakei im Westen zum Reich des Roten Sterns.
Aber die Wurzeln dieser Einheit reichen viel tiefer. Es gibt etwas, das Osteuropa auszeichnet, etwas, das es von Westeuropa auf der einen Seite und dem übrigen Eurasien auf der anderen Seite unterscheidet. Dieses wesentliche, bestimmende Merkmal ist die Vielfalt - die Vielfalt der Sprachen, der Ethnien und vor allem des Glaubens.
Als religiöses Grenzland hat sich Osteuropa zum ersten Mal als etwas anderes definiert als der Rest Europas. Das Heidentum hielt sich hier länger als irgendwo sonst auf dem Kontinent und hinterließ tiefe Spuren in der Folklore und im Volksglauben. Als um das Jahr 1000 das Christentum aufkam, trat es in zwei verschiedenen Formen auf - katholisch und östlich-orthodox - und sorgte für die erste von vielen Glaubensspaltungen in der Region. Der Islam kam ein paar Jahrhunderte später, verbreitet durch die eindringenden osmanischen Türken und Tataren. Im Jahr 1492 gehörte die gesamte Balkanhalbinsel zum dar-al-Islam, und Moscheen gab es (und gibt es immer noch) bis nach Vilnius in Litauen.
Im selben Jahr, als Ferdinand und Isabella von Spanien die letzten Juden aus ihrem Königreich vertrieben, lud das Osmanische Reich sie ein, sich in seinen größten Städten niederzulassen. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Osten zur Wiege des europäischen Judentums. Während die westeuropäischen Länder eins nach dem anderen ihre Juden auswiesen (Spanien war nur am letzten in einer langen Reihe), nahmen die osteuropäischen Königreiche sie auf.
Während eines Großteils seiner Geschichte war Osteuropa eine Grenzgesellschaft, die in Gebiete vordrang, die zuvor unkultiviert waren oder durch lang andauernde Grenzkriege entvölkert worden waren. Mehrere Besiedlungswellen gaben dem Land einen Charakter, der sich von dem Westeuropas (oder auch des größten Teils von Russland) deutlich unterschied. In Osteuropa war es üblich, dass katholische und orthodoxe Christen in enger Nachbarschaft mit Juden und Muslimen lebten. Diese Überlappung mehrerer Religionen hatte zur Folge, dass es schwierig war, das Dogma eines einzelnen Glaubens durchzusetzen. Osteuropa wurde so zu einem Zufluchtsort für religiöse Außenseiter und Ketzer. Gruppen wie die Bogomilen, die Hussiten, die Frankisten und die Aleviten haben die Kultur der Region tief geprägt. Gleiches gilt für eine Vielzahl von Magiern, Alchemisten und Okkultisten, deren gemeinsame Präsenz Osteuropa zum wichtigsten Übungsareal des Kontinents für die dunklen Künste machte.
Heute sind die meisten Juden verschwunden, und die islamische Präsenz ist deutlich zurückgegangen. Noch schwerer zu finden sind aktive Alchemisten. Dennoch ist das Gewicht dieses Vermächtnisses vielerorts zu spüren. Jahrelang bin ich überallhin gereist, von den Sufi-Schreinen von Dobruja in Rumänien bis zu den letzten Holzsynagogen von Samogitia in Litauen, um nach Spuren dieser verschwindenden religiösen Vielfalt zu suchen. Für mich war das auch eine persönliche Suche. Mein familiärer Hintergrund - halb jüdisch und halb katholisch - enthält ein Bruchstück dieser vergangenen Vielfalt.
Dieses Buch ist keine Familiengeschichte, aber die Geschichte meiner Familie zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Der polnische Dichter Czeslaw Milosz hat einmal davon gesprochen, dass «die Erinnerung an meine Vorfahren wie ein Anker ist, dessen Kette tief hinabreicht» und ohne den «man schwerlich ein Gefühl für Geschichte entwickeln kann».[1] Und so ist es auch für mich; meine Vorfahren sind die Wurzel all dessen, was ich schreibe.
Als Mitglied einer sehr kleinen Gemeinschaft polnischsprachiger Juden wurde ich in eine Kultur hineingeboren, die fast völlig verschwunden ist. Es war die Welt der säkularen jüdischen Intelligenz, die dem literarischen Erbe Polens leidenschaftlich zugetan war, aber der Verbindung von Katholizismus und Nationalismus misstraute. Doch das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Die andere Hälfte besteht aus konkurrierenden Strängen, die nach Klassen unterteilt sind, Bauern, Handwerker und Adlige. Einige dienten den Fürsten, andere schufteten im Verborgenen. Es dauerte jedoch Jahrhunderte, bis sie sich zu Angehörigen dessen zusammenfügten, was wir heute «Polen» nennen.
Religion, Ethnie und Klasse waren in Osteuropa nie streng voneinander getrennt. In einem Ausmaß, das in den meisten anderen Ländern der Welt unbekannt ist, wirkten diese drei Merkmale der sozialen Aufteilung zusammen, um Berufs- und Kastengrenzen abzustecken. Hier war es üblich, dass Grundbesitzer, Pächter und Stadtbewohner verschiedene Sprachen sprachen und unterschiedlichen Religionen angehörten. Selbst im kleinsten Dorf konnte ein zehnminütiger Spaziergang an Gotteshäusern vorbeiführen, die drei verschiedenen Religionen gewidmet waren und in denen die Gemeindemitglieder jeweils eine andere Sprache sprachen. Wenn man eine gewisse Zeit auf der Straße verbrachte, stieß man auf eine ganze Reihe verschiedener Sprachen und Glaubensrichtungen, die zu den zahlreichen Nomaden, fahrenden Händlern und anderen professionellen Wanderern der Region gehörten.
Jahrhundertelang glichen die traditionellen Gesellschaften Osteuropas meist einem bunten Wandteppich. Die Vielfalt war kein Nebenprodukt dieses Systems, sie war dem Ganzen eingewoben. Doch diese räumliche Nähe zwischen verschiedenen Religionen und Sprachen führte nicht unbedingt zu Harmonie. Die alte Ordnung beruhte auf einer strikten Trennung zwischen den Klassen und zwischen den Religionen. Als diese Trennungen im 20. Jahrhundert aufbrachen, gewannen die Menschen ein neues Maß an Freiheit, sahen sich aber auch neuen Gefahren ausgesetzt. In meiner eigenen Familie wurde die Vermischung von Christen und Juden, Bauern und Adligen erst durch die totale Katastrophe des Zweiten Weltkriegs möglich. Und selbst jetzt war es nicht so einfach, die Grenzen zu überschreiten; ich bin aufgewachsen mit Geschichten von Familienmitgliedern, die gemieden wurden oder sich jahrzehntelang nicht gesehen haben. Auch diese Geschichte ist in Osteuropa gang und gäbe - zahllose Familien wurden durch neue Grenzen, alte Religionen oder die Zugehörigkeit zu rivalisierenden Ideologien getrennt.
Mein eigenes geteiltes Erbe hat mich mit einem komplizierten Vermächtnis ausgestattet. Aus diesem Grund neige ich dazu, die Geschichte Osteuropas weniger als eine Geschichte von Nationen und Staaten zu sehen, sondern eher als eine Geschichte konkurrierender Glaubenssysteme. Politische...
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