Schweitzer Fachinformationen
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Das verendete Pony von Nénette Prijean stank zum Himmel. Hinten im Garten wuchs schon kein Gras mehr. Der Geruch verpestete das ganze Dorf. Sein Fell war voller Schaum, und ein Schwarm Fliegen kreiste um das Tier herum. Alfréd wurde übel.
Er sah auf seinen Teller und blickte dann zu seinem Großvater:
«Opa?»
«.»
«Ehrwürdiger Opa?»
«Hm?»
«Ich mag diesen Mischmasch nicht so gern.»
«Das is kein Mischmasch, das is Ragout.»
«Ach so .»
«Na und? Schmeckt dir mein Ragout etwa nich?»
«Das ist nicht von dir, das hat Nénette gemacht. Du kannst gar nicht kochen.»
«Ich hab's aufgewärmt. Das is doch auch schon was, oder?»
«Na ja.»
«Also iss, kleener Hosenscheißer!»
«Aber das Fleisch .»
«Was denn? Was is mit dem Fleisch?»
«Das ist doch nicht von dem Pony, oder?»
«Von dem Pony? Wie kommste denn da drauf?»
«Na ja . Ich dachte an das Pony von Nénette.»
Der alte Alfred spuckte vor Lachen den Löffel voll wieder aus, den er sich gerade in den Mund geschoben hatte. Ihm fehlten bereits viele Zähne, und man konnte die Soße bis ganz hinten in seinem Rachen sehen, aber es gibt Schlimmeres im Leben.
Der Kleene hatte recht, dachte er: Nénette war ihr Pony noch immer nicht losgeworden, und es vermoderte hinter dem Brunnen, aber es deswegen zu essen, ging dann doch ein bisschen zu weit! Diesem Bengel schwirrten wirklich sonderbare Dinge durch die Birne.
«Na, lass gut sein, wenn du nich mehr willst. Es gibt noch Crêpes. Du weißt ja, wo.»
«Juppi! Danke!»
«Und wem dankst du?»
«Danke, ehrwürdiger Opa.»
Er selbst hatte dem Kleenen beigebracht, er solle ihn so nennen. Tatsächlich hatte er nicht viel Ehrwürdiges an sich, aber er hatte seinen Spaß daran. Der Kleene ging voll darin auf. «Ich sag das immer davor, bei der Bäckerin, in der Schule und im Bistro.» Manchmal war es dem alten Alfred peinlich, aber er konnte nicht viel dagegen sagen, schließlich hatte er selbst darum gebeten .
Seufzend erhob sich der alte Alfred vom Tisch. Das hatte er davon, dass er dem Bengel dummes Zeug beibrachte. Eines Tages sollte er mit ihm auch mal über ernsthafte Dinge sprechen, ein echtes Männergespräch führen.
Aber im Moment gab's Dringenderes zu tun: Die Rotweinflasche war leer.
Saint-Ruffiac war ein kleines ruhiges Dorf mit sechshundert Seelen, das zufrieden mit dem war, was es hatte, und daran würde sich so bald auch nichts ändern. An Sehenswürdigkeiten gab es das Gemeindeamt und gegenüber die Kirche. Dazwischen, auf dem Platz, lag das Bistro. Der Inhaber hatte die sinnige Idee gehabt, es «Lieber hier als dort» zu nennen - ohne anzugeben, was er mit «dort» meinte. 2,3 Kilometer weiter auf dem Weg nach La Trinité-Porhoët stieß man auf Le Camboudin. Das war kein richtiges Dorf, noch nicht mal eine Siedlung. Tatsächlich wusste niemand, was es eigentlich war. Ein Bach floss hindurch, den alle nur «der Scheußliche» nannten, in dem es nichts zu fischen gab, der jedoch die Grenze zwischen Le Morbihan und dem Département Côtes-du-Nord bildete. Le Camboudin zählte fünf Einwohner (darunter ein Kind), die sich auf einen Bauernhof und zwei Häuser verteilten. In einem davon lebte Alfréd, besagtes Kind, mit seiner Mutter Agnès.
«Alfréd.»
Mit Betonung auf dem «e», deshalb auch mit Akzent. Nicht gerade ein Geschenk dieser Vorname. Kein bisschen modern.
Er hatte ihn von seinem Großvater «geerbt». Sein Großvater gehörte nicht zu denen, die als Helden im Krieg gefallen waren, nein, sein Großvater lebte auf dem Bauernhof gegenüber und verbrachte den ganzen Tag damit, «Himmel, Arsch und Zwirn» zu fluchen. Seine Mutter Agnès hatte den Vornamen ausgewählt. Das hatte sie ihm eines Abends, als sie etwas zu viel gebechert hatte, erklärt. Sie hatte gemeint, wenn sein Großvater nicht gewesen wäre, gäbe es sie heute nicht mehr und Alfréd hätte nicht anständig aufwachsen können, so ohne Mutter. Alfréd hatte nach dem Grund gefragt, doch sie hatte ihn abblitzen lassen. Er solle nicht so viele Fragen stellen. Sie fand noch immer, dass der Akzent auf dem «e» von Alfréd den Namen schicker machte. Dem Jungen leuchtete nicht wirklich ein, was sie damit meinte. Denn was schick war, davon hatte sie nicht die geringste Ahnung. Sie trug immer einen Trainingsanzug (im Winter mit einer Schaffelljacke darüber) und alte Turnschuhe. Er hätte sie gern ab und zu mal in einem Kleid gesehen, aber davon wollte sie nichts wissen. Auseinandersetzungen mit Agnès endeten eigentlich nie gut. Er hatte sich daher damit abgefunden, seinen Vornamen zu behalten. Sie sagte ihm immer wieder, dass es das Mindeste sei, was er zum Andenken an seinen Großvater beitragen könne. Er verstand nicht ganz warum, denn der alte Alfred war meilenweit davon entfernt zu sterben, und niemand außer ihm zollte ihm wirklich Respekt.
Man muss dazu sagen, dass Alfréd auf den Tag sechzig Jahre nach seinem Opa geboren worden war (am 20. Mai 1963 genauer gesagt) und dass dieser ihm eigentlich alles beigebracht hatte, angefangen damit, wie man richtig im Stehen pinkelt. Ein Strahl wie beim Wal, nur dass der Wal nicht zielen kann. Der alte Alfred war oft angetrunken, aber nie sturzbetrunken:
«Ich sag ja immer, mein Kleener: »
Das war eine seiner «Lebensweisheiten», wie er es nannte. Der Junge schrieb sie alle sorgfältig in sein Notizbuch.
An der linken Hand des Alten fehlte ein Finger, nämlich der ganz am Ende. Alfréd dachte, dass man sie wohl nach und nach verliert, wenn man älter wird, genauso wie Haare, Zähne und das Gedächtnis. Wenn es mal wieder schlecht lief, weil seine Mutter vergessen hatte, das Abendessen zu machen oder, schlimmer noch, die Erlaubnis für den Schulausflug zu unterschreiben (sodass er mit den Kleinen in der Schule bleiben musste), dann sagte er sich, dass er wenigstens noch alle Finger hatte. Das tröstete ihn. Nicht jedes Mal, aber es war besser als nichts.
Um in dieser Gegend ein «echter Kerl» zu sein, musste man entweder dort geboren oder dem Trouspignôle[*] zugetan sein oder, noch besser, beides. Der Trouspignôle war ein Schnaps, der seit Generationen vor Ort gebraut und dessen Rezept vom Vater an den Sohn weitervererbt wurde. Er war weder gut, noch besaß er irgendeine medizinische Wirkung, aber er hatte die Eigenschaft, nur von Einheimischen vertragen zu werden, und das hieß schon etwas, wenn man wusste, wie stolz die Bewohner von Saint-Ruffiac waren. Abgesehen von seinem abscheulichen Spritgeschmack hatte dieser Schnaps einen geheimnisvollen Effekt: Er hatte nämlich die positive Fähigkeit - oder auch die negative, je nachdem aus welchem Blickwinkel man es betrachtete -, den Leuten die Zunge zu lösen, und zwar mit äußerst verheerenden Auswirkungen. Wer dem Trouspignôle nicht widerstehen konnte, hatte am Ende einen Haufen Feinde. Die einen hatten erfahren, dass sie betrogen wurden, andere, dass sie nicht der Sohn ihres Vaters waren. Wieder andere sagten ihrem besten Freund so gründlich die Meinung, dass schon die ersten Sätze gereicht hätten, ihn für immer zu vergraulen. Und schließlich gab es diejenigen, die leugnen wollten, dass es Le Camboudin überhaupt gab - und das war der Gipfel.
Der alte Alfred war eine Legende, was den Trouspignôle betraf. Er konnte ihn wie Wasser trinken, ohne auch nur das leiseste Anzeichen von Verwirrung zu zeigen. Lediglich ein leichter Silberblick tauchte in seinem rechten Auge auf, wenn er zu viel davon trank. Doch diese kleine Schwäche war alles in allem verzeihlich.
Wenn man abends beisammensaß, erzählte man sich nur zu gern von den größten Heldentaten. Die bemerkenswerteste aller Anekdoten lag schon mehr als zwanzig Jahre zurück. An dem Tag hatte ein Fußballspiel stattgefunden. Der alte Alfred, der damals zwar noch nicht alt war, aber allmählich anfing, alt auszusehen, hatte den Kickern von Ruffiac eine sehr persönliche Anerkennung gezollt. Sie hatten 1:0 nach Verlängerung gewonnen. Obwohl es rote Karten geregnet hatte - der Schiedsrichter war bestochen worden -, war es ein schönes Spiel gewesen. Alfred war ein einzigartiger Anhänger seiner Mannschaft. Während des Spiels hatte er sich die Lunge aus dem Hals geschrien: «Vooorwärts, vorwärts, vorwärts, vorwääärts!» Sie hatten den Sieg bei Freunden gefeiert, der Trouspignôle für besondere Anlässe wurde herausgeholt, und zwischen Wohnzimmertisch und dem ausgestopften Fuchs auf der Anrichte wurden die einzelnen Pässe und Aktionen nachgespielt. Kurz bevor er gehen wollte, war Alfred nach oben gegangen, um zu pinkeln. Er war dermaßen voll, dass er ein Fenster in der oberen Etage mit der Haustür verwechselt hatte. Prompt war er vier Meter tief gestürzt, hatte sich dann aber sofort wieder aufgerappelt, seinen Hut aufgesetzt und war nach Hause gegangen. Dort hatte er sich ins Bett gelegt, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen. Am nächsten Morgen entdeckte Agnès, als sie ihren Vater wecken wollte, dass er sich bei dem Sturz den halben Schädel abrasiert hatte. Er selbst hatte es gar nicht gemerkt und einfach Haut und Haare auf dem Kopf zurechtgerückt, bevor er seinen Hut wieder aufsetzte. Die Geschichte hatte sich schnell herumgesprochen, aber niemand war auf die Idee gekommen, sich darüber lustig zu machen, im Gegenteil: Alfred war zum Helden des Trouspignôle...
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