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2. Erleben wir das Ende der liberalen Demokratie?
Der Trend hin zur unpolitischen Demokratie kann nur im Kontext der gegenwärtigen Debatte um die Krise, den Funktionswandel oder eben: um ein mögliches Ende der liberalen Parteiendemokratie nachvollzogen werden. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die Wertschätzung des Politischen auch deshalb abnimmt, weil die Realisierungen des Demokratie-Versprechens gemessen an irgendeinem als Ideal präsentierten Kriterienkatalog als defizitär empfunden werden, zugleich aber keinerlei vielversprechende Rezepturen für eine grundlegende Revitalisierungskur in Sicht sind, sondern nur singuläre Protestereignisse: eingeübte Rituale, die sogleich wieder verpuffen.
Aus diesem Grund fehlt es derzeit auch nicht an Diagnosen, die einen unvermeidlichen Niedergang des herrschenden Demokratiemodells prophezeien. Und in der Tat: Die Zuspitzungen, die die Repräsentationskrise zeitigt, und das mit ihr aufs Engste verknüpfte »Verschwinden der Politik« nähren die Erwartungen einer bereits stattfindenden Transformation der Demokratie ins Ungewisse. Die These, dass wir uns auf ein »allmähliches Ende der parlamentarischen Demokratie« gefasst machen sollten, wie inzwischen selbst namhafte Vertreter der politischen Ideengeschichte in Deutschland prognostizieren,1 oder dass wir uns gar schon mitten »im nachdemokratischen Zeitalter« befinden, wie der französische Politikwissenschaftler und Soziologe Guy Hermet in begrifflicher Anlehnung an Crouchs hierzulande äußerst wirkmächtigen Bestseller behauptet,2 wird derzeit mit großem Eifer vorgetragen. Das Ende der liberalen Demokratie, wie wir sie kennen, ist nach der Auffassung dieser Autoren schon längst eingeläutet.
Dem Greifswalder Politologen Dirk Jörke zufolge stellt sich uns die Demokratie heute nur noch als reine Ideologie dar. Wahlen erfüllen mittlerweile eine ausschließlich symbolische Funktion, nämlich die der rituellen Inszenierung: Es gehe »nicht mehr um die inhaltliche Bestimmung der Politik, sondern um das Bekenntnis zur liberalen Grundordnung. Durch die Wahl findet mithin eine Selbstbestätigung als ›guter Demokrat‹ statt«, die von der Gesellschaft und den Medien auch in moralischer Hinsicht verlangt wird. Man denke nur an die suggestiven Verurteilungen des Nichtwählers an Wahlabenden und die Bekundungen von Politikern, dass es unbedingt gelingen müsse, »diese Menschen« in den demokratischen Prozess »zurückzuholen«. Doch gerade die Angehörigen der Unterschicht, so Jörke, haben »durchaus Gründe, dieses Bekenntnis zu verweigern. Denn sie machen die Erfahrung, von der ›demokratischen‹ Gesellschaft und ihren Eliten nicht mehr hinreichend anerkannt zu werden.« So dient Demokratie letztlich nur noch als »Spielweise der gut ausgebildeten Mittelschichten«,3 die politisches Engagement in den vorgezeichneten Bahnen der Wahldemokratien wie den Besuch angesagter Vernissagen ritualisiert. Dies ist das Diktum der Postdemokratie: Das Ideal der politischen Gleichheit hat sich – auf der Seite des Inputs (gleiche Teilhabe am politischen Prozess) und des Outputs (regulative Wirkung dieses Prozesses in Richtung soziale Gleichheit) – erschöpft, ist nur noch als Ideologie des arrivierten Bürgertums präsent, deren Funktion ja laut Marx darin besteht, die eigentlichen Machtverhältnisse zu verschleiern und zu rechtfertigen, um hierdurch ihre möglichst bruchlose Fortsetzung zu garantieren.4
Die einen mögen derartige Diagnosen für vollkommen übertrieben halten; andere wiederum brechen angesichts der unübersehbaren Dämmerungszustände des westlichen Demokratiemodells in lauten Jubel aus. Der historische Wert des demokratischen Verfassungsstaates selbst wird derzeit wieder von ganz unterschiedlichen Seiten her infrage gestellt: Rechte Libertarianer sehen mit der EWU-Krise ihre Zeit gekommen, um, wie es heißt, den »demokratischen Gott vom Sockel zu stoßen« und eine rein ökonomisch-privatistisch interpretierte negative Freiheit gegen den egalitären Gehalt der demokratischen Idee und ihrer regulatorischen Implikationen auszuspielen.5 Am anderen Ende des politischen Spektrums finden sich linksradikale Anarchisten, die mit ihrer generellen Opposition gegen alles Staatliche und jegliche hierarchische Organisation von Macht jüngst auch das Bild der Occupy-Proteste stark geprägt haben.
Politologen, die der liberalen Demokratie wohlgesonnen und es aufgrund ihrer Profession gewohnt sind, Erwartungen an die Gestaltungskraft von Politik und an die Vielzahl und Qualität von Mitwirkungsoptionen zu dämpfen, sparen selbst nicht mit Kritik an der Leistungsbilanz dieses Modells. Dass sogar eine grande dame der modernen Repräsentationstheorie wie Hanna F. Pitkin sich inzwischen dem Verdikt Rousseaus annähert, jedes repräsentative System mindere die politische Freiheit der Bürger bis zur Unkenntlichkeit, lässt jedenfalls aufhorchen: Trotz vieler Erfolge bei der Demokratisierung der repräsentativen Demokratie, so Pitkin, könne man doch insgesamt kaum leugnen, »dass Repräsentation Demokratie verdrängt hat, statt ihr zu dienen«.6 Das spüren auch die »Wutbürger« und »Empörten«, die dementsprechend immer lauter nach »wahrer« oder »direkter« Demokratie rufen, ohne selbst zu wissen, was sich hinter diesen Slogans eigentlich verbirgt – und meist auch ohne zu begreifen, dass gerade »mehr direkte Demokratie« das pragmatische, das technokratische Gesicht der Demokratie noch stärker hervortreten lässt (dazu mehr in Kapitel 6).7
Doch ist ihre ratlose Empörung über den Ausverkauf des Demokratischen in den repräsentativen Systemen nur allzu verständlich. Denn während in den Medien weiterhin rituell von demokratischem Regieren gesprochen wird, künden allein schon der offensichtliche Machtverlust der nationalen Parlamente gegenüber den Exekutiven8 und die wachsende Bedeutung nichtautorisierter Repräsentanten für die Artikulation kollektiver Interessen von der Entstehung von etwas Neuem. Deren Vorzeichen wirken aus unserer beschränkten Gegenwartsperspektive bedrohlich, weil sie eine tief greifende Transformation jener »real existierenden Demokratie« ankündigen, die sich die westeuropäischen Völker vor nicht einmal einhundert Jahren erkämpft haben und die, wie vor noch nicht allzu langer Zeit prognostiziert, eigentlich den feierlichen Abschluss, ein Happy End des »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm) und aller historischen Großkonflikte und Transformationsprozesse bilden sollte. Als spätestens nach der Jahrtausendwende, den krisenhaften Entwicklungen am Neuen Markt, den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und mit dem unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zur Weltmacht diese Deutung an Plausibilität verlor und das »Ende vom Ende der Geschichte« (Robert Kagan) ausgerufen wurde, gewannen auch Diagnosen, die eine dynamischere Entwicklung der Demokratie im 21. Jahrhundert für möglich hielten, wieder an Einfluss.
Allerdings zeichneten die meisten dieser Analysen nicht nur für die westlichen Demokratien, sondern vor allem für den globalen Kontext das düstere Bild eines democratic rollback.9 »Die Zahl der autokratischen Regime dürfte in den nächsten Jahren kaum abnehmen«10 – so lautete noch einige Monate vor dem Arabischen Frühling die Prognose aller namhaften Transformationsforscher. Angesichts der derzeitigen Verfassungskonflikte in Ägypten und der illiberalen Tendenzen in den übrigen von der »Arabellion« heimgesuchten Staaten sollte man sich davor hüten, diese Aussage vorschnell als Fehlurteil zu verwerfen. Auch wenn die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo die These vom »Ende der Euphorie« noch einmal kräftig erschütterten, ist doch die »autoritäre Herausforderung der Demokratie« überall spürbar.11 Das »administrative Bedürfnis nach bonapartistischen Lösungen« ist gerade auch im Westen ungebrochen,12 denn die Bedingungen für demokratisches »Durchregieren« werden hier immer schwieriger, je stärker sich der Sog zu konsoziativen Verfahrensregeln entwickelt.
Die daraus resultierenden Selbstblockaden rufen das unpolitische Verwaltungshandeln auf den Plan, das in der Gunst der outputorientierten Bürgerschaft angesichts der abnehmenden Problemlösungsfähigkeit der politischen Institutionen steigt. Insbesondere die jungen heranwachsenden Führungsgruppen im Wirtschaftssektor goutieren, im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, kaum noch die politischen Anstrengungen der Integration, die Mühen und den für Kompromissbildung nötigen Zeitaufwand. Ihnen agiert die parlamentarisch vermittelte Politik zu langsam, zu umständlich, zu inkonzise, zu konsensdurchwirkt. Dieser Hang zum Antipolitischen, von dem die Flucht des Wirtschaftsbürgertums aus der öffentlichen Sphäre in die vertraute Transparenz exklusiver Netzwerke kündet, erklärt, warum der neoliberale Autoritarismus chinesischer Prägung so eine unheimliche Kraft auf die westliche Unternehmerschaft ausübt....
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