Kapitel 2
Nestsuche
Während ich wieder einmal nachts in erregter Anspannung wachte und vor meinem geistigen Auge die jüngste Vergangenheit Revue passieren ließ, schmiedete ich Pläne, ängstlich um die unmittelbare Zukunft besorgt; und - ja, ich gestehe - ich erwog sogar in einem Moment der Beklommenheit selbstkritisch die Möglichkeit, einen Fehler zu begehen. Solch defätistisches Grübeln erstickte ich jedoch im Keim. Künftig galt es, den Blick auf morgen zu richten und entschlossen voranzugehen. Zwar blieb die exakte Richtung noch in Dunkelheit gehüllt, doch verhieß mir das Schicksal gewiss eine erhellende Inspiration.
Natürlich hatte ich bereits mit Cindy diskutiert, welche Region als zukünftige Heimat in Frage kam. Sie kannte Deutschland, wenn auch nur von Urlaubsreisen. Dennoch vertrat sie eine klare Meinung, wohin es sie keineswegs zog. Hamburg und der gesamte Norden galten für sie vornehmlich aus klimatischen Gründen als tabu. Dort lebten zwar Freunde, die wir oft besuchten, doch bei jedem Schritt vor die Tür schlüpften sie in den ortsüblichen Friesennerz. Bei Sonnenschein hingegen erschien mir die Hansestadt als ein reizvoller Ort, namentlich der Alster gewann ich selbst bei Regen positive Aspekte ab. Nicht so meine Frau. Hamburg - und für sie umfasste der Terminus ein weites Gebiet, das im Norden bis zu den nordfriesischen Inseln reichte und im Süden das oberhessische Bergland umschloss, - bewertete sie als unattraktiv.
Für Bayern hingegen empfand Cindy eine wachsende Sympathie. Sie liebte die Berge und die grünen Wiesen. Auch wenn sie mit der Region vor allem einen entspannenden Urlaub verband, den wir vor Jahren am Tegernsee verlebt hatten. Auch mir behagten die Gegend und der kernige Dialekt, doch schien mir das Land eher für Freizeit und Erholung geschaffen. Dort zu wohnen, mit einem solch befremdlichen Gedanken freundete ich mich nur widerwillig an. Hatte ich doch schon immer die Meinung vertreten: Wer im Ausland lebe, dem erscheine Deutschland als exotisches Reiseland; und Bayern, die Sprache, die Berge sowie all die Wiesen, Kühe, Weißwurst und Radi verkörperten für mich den Inbegriff von Exotik im Heimatland. Einen Ort, um Wurzeln zu schlagen, stellte ich mir anders vor.
Geboren war ich in Mannheim - vor, wie mir inzwischen schien, hunderten von Jahren. Dort lebten noch einige Freunde und Verwandte von mir. Doch zumindest in einem stimmte ich mit meiner Frau überein: Wohnen in einer Stadt blieb genauso ausgeschlossen wie der Verbleib im chinesischen Mutterland. Uns schwebte eher ein ländliches Leben vor. Für mich der Ruhe wegen, für Cindy, damit ihre Katzen nicht unter die Räder kamen. Als ob auf dem Land kein Auto die Idylle störte! Worüber wir nur andeutungsweise diskutierten, war die Frage, wie in Zukunft unser Lebensunterhalt zu bestreiten sei. Sie hatte natürlich recht, das über Jahre gehortete Vermögen übertraf das einer Kirchenmaus. Je nachdem, welchen Preis wir für die Immobilie in Peking erzielten, konnte der Traum vom Leben eines Millionärs doch noch in Erfüllung gehen, zumindest annähernd und vor Abzug der Agentenkommission.
Zudem stimmten wir überein: Eine Mietwohnung stand außer Frage. Wir benötigten ein Haus! Allerdings schränkten die Immobilienpreise in Deutschland diese Zukunftsträume gewaltig ein. Je nachdem, für welche Größe und Lage wir uns entschieden, verblieb hoffentlich ein Rest. Nur, um den Lebensunterhalt davon zu bestreiten, erwiese der sich auf Dauer als zu gering. Auch dieser Umstand sprach für eine ländliche Region. Dort galten nach Hörensagen Immobilien noch als halbwegs erschwingliche Investition, und mit ein wenig Glück erfüllte ich mir damit einen langgehegten Lebenswunsch. Möglicherweise redeten wir statt von einem Traum besser von einer Idee, womöglich von einer Schnapsidee, obgleich ich die schon seit Langem in mir trug.
Dieser Lebenstraum, der mich seit Jahren erfüllte, galt der Gründung eines Restaurants, das sich allerdings von allen bekannten Formen landläufiger Gastronomie diametral unterscheiden sollte. Ich plante, eine absolute Marktlücke zu erschließen. Das bildete ich mir zumindest ein, zusammen mit tausenden anderen Betreibern ähnlicher Etablissements.
Die Idee war vor vielen Jahren, noch in Peking, entstanden und stellte ursprünglich nur eine spielerische Überlegung dar. Damals sah ich mich keineswegs als Kneipier. Ein deutscher Freund haderte in jener Zeit mit dem Dasein als subalternes Firmensubjekt, dem Unternehmen, das ihm Beschäftigung und Auskommen bot, dem daraus resultierenden einförmigen Leben sowie dem kargen Salär, das vermeintlich einzig dem Geiz seines Arbeitgebers Ausdruck verlieh. Da seine chinesische Frau angeblich Erfahrungen in der Gastronomie besaß, rankten die Träume des Paars um eine zukünftige Existenz hinter der Theke eines eigenen Etablissements. Viele Jahre hielt ich die Idee für eine Flucht aus der Wirklichkeit. Die Vorstellungen, die sie mir beschrieben, schienen nur rudimentär durchdacht. Das Essen durfte einerseits nicht zu teuer sein, sonst mieden angeblich die einheimischen Gäste das Lokal. Für Ausländer musste dagegen unbedingt Pizza auf der Karte stehen. Unter Umständen benötigte man zudem regionale Kost. Die Schilderungen hallten mir noch deutlich im Ohr. Von einem konkreten Konzept weit entfernt und, das sei zu beider Entlastung festgestellt, meist spät abends nach einer Flasche Wein spontan artikuliert.
Nach Monaten der Unentschlossenheit brach das Paar dann plötzlich in hektische Aktivitäten aus, suchte geeignete Räumlichkeiten und führte wochenlange Verhandlungen um einen Mietpreis, der ihre Kalkulation stets bei Weitem überstieg, die in unschöner Regelmäßigkeit allzeit im Sande verliefen. Wie viele Kneipen sahen wir uns gemeinsam an, wie viele der Konzepte zerriss ich in der Luft? In einer romantischen Pekinger Nebenstraße planten sie die Eröffnung eines Pizzarestaurants, obwohl im Umkreis von fünfhundert Metern in jedem zweiten Lokal Pizza auf der Karte stand. Zwar besaß die Gegend eindeutig Potenziale. Hier tobte Nacht für Nacht das Leben der Society. Doch schien mir die simple Kopie bestehender Strategien kaum Garant für geschäftlichen Erfolg in einem ohnehin umkämpften Markt. Ich riet dagegen zu einer Bar, die neben Austern und Champagner erlesene Häppchen aufzutischen verstand. Leute, die für Luxus Geld erübrigten, lebten in der Hauptstadt genug. Es fehlte nur die Verlockung eines entsprechenden Angebots. Aber das Paar ließ sich für den Vorschlag nicht erwärmen und beharrte auf deutsch-italienischer Kost.
Durch die Freundschaft mit den beiden blieb ich über viele Jahre in das Thema Restaurantplanung involviert. Ideen dieser Art gedeihen bekanntlich stetig und nachhaltig im Kopf, bis der zarte Keim die Krume der Muttererde durchbricht.
Ein zusätzliches Argument, das mir die Gastronomie als Grundlage einer Lebensplanung erscheinen ließ, leitete sich aus dem eigenen Appetit auf Gerichte aus der Heimat ab. Speziell in den ersten Jahren in China fand ich dort kaum westliche Restaurants; und die wenigen existierenden boten Speisen an, die mein Geschick als Hobbykoch bei Weitem übertraf. Noch in Deutschland hatte ich von Zeit zu Zeit selbst Regie an der Küchenzeile geführt, und wenn ein Mann die Kochkunst zelebriert, gilt das Ziel bekanntlich niemals der profanen Stillung bloßen Hungergefühls, sondern der Erfüllung ausgefallener Gaumenfreuden, der die gesamte Familie mit Ehrfurcht erliegt. An diese Tradition knüpfte ich in China wieder an und bekämpfte das kulinarische Heimweh am heimischen Herd. Und siehe da, unsere chinesischen Freunde fanden an meinen Kreationen Geschmack und drängten auf den nächsten Empfang.
Jahre später, als in Peking vernünftige westliche Restaurants wie Pilze aus dem Boden schossen, hatte ich meinerseits schon viel zu große Freude am Kochen gefunden, um unseren rasant angewachsenen Freundeskreis, statt in den neu entstandenen Lokalen, bei uns zu Hause zu bewirten. Damit sah ich mich zur Herstellung edlerer Speisen gedrängt, die selbst in den besseren Etablissements auf der Karte fehlten. Kreativität war gefragt. Unter den Freunden fanden sich zwar keine Restaurantkritiker, die meisten galten eher als Gourmands denn als Gourmets, doch sollte sich ihr beständiges Lob nicht ausschließlich auf die freie Verköstigung beziehen, näherte ich mich zielstrebig dem ersten Stern. Allerdings vermute ich immer noch, ihr Lob ließ sich nur schwer von der Tatsache trennen, dass bei mir der Genuss in keinerlei Rechnung zu münden drohte. Weiterhin schloss mein Service Wein und Aperitifs ebenso mit ein wie die anschließenden Digestifs. Ein edles Menü fordert eben eine abrundende Krönung, die neben der Beförderung der Konversation am Esstisch in gleicher Weise der Verdauung dient. Wie oft schlief ich ermattet auf dem Sofa ein, während die Freunde gesättigt und zufrieden meine Schnapsvorräte plünderten?
Ein zusätzlicher Aspekt weckte Hoffnung auf den Erfolg eines gastronomischen Experiments - eines vorerst geplanten, sollte ich korrigieren; denn das Projekt...