Schweitzer Fachinformationen
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GÖTTER, GRÄBER UND GELEHRTE
Den gesamten Weg bis ins Westend überlegte Karin, wie sie die Kündigung am besten zurückziehen konnte. Doch als sie die leuchtenden Schaufenster im Dämmerlicht der untergehenden Sonne erblickte, hatte sie noch immer keine Antwort gefunden.
Eigentlich gefiel es ihr bei Herrn Böttcher. Die wissenschaftliche Fachbuchhandlung mit ihrer Glastheke, auf der die Buchhändler den Kunden die Bücher vorlegten, wirkte zwar etwas nüchtern und kühl, aber die Kollegen waren nett. Die meisten Kunden arbeiteten an der benachbarten Universität und hatten ausgefallene Literaturwünsche, ständig lernte sie interessante Autoren und Wissensgebiete kennen.
Viele Buchhandlungen, bei denen sie sich vorgestellt hatte, wollten kein Lehrmädchen im zweiten Jahr einstellen. Zudem hatte Karin keinen richtigen Schulabschluss und ihre Lehre auch noch ausgerechnet in der Zone begonnen. Bei den Soffjets, wie Herr Böttcher immer sagte. Aber er war der Einzige gewesen, der sie einstellen wollte, und vielleicht war er ja froh, wenn sie wieder zurückkam.
Doch kaum hatte sie »Ich möchte meine Kündigung zurückziehen« ausgesprochen, schrie er: »Was erlauben Sie sich eigentlich?« Sein feistes Gesicht über dem engen Hemdkragen wurde puterrot. »Gestern tun Sie so, als ob Ihnen die Welt gehörte, und heute soll ich das einfach vergessen?«
Karin schaute auf ihre Schuhe. Das Leder an der Kappe war so brüchig, dass bald ihre Fußspitzen hinausragen würden.
»Lehrjahre sind keine Herrenjahre, aber das haben Sie in der Zone natürlich nicht gelernt.« Er wippte auf den Zehenspitzen und scherte sich keinen Deut darum, ob die Kunden im Laden vorne ihn hören konnten.
»Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass ich die Unterschrift Ihres Herrn Vaters brauche, Fräulein Wünsche. Sie sollten wieder zurück nach drüben gehen und hier nicht den Frankfurtern die Arbeitsplätze wegnehmen.« Seine Stimme überschlug sich beinahe, so sehr regte er sich auf. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sage ich immer, und ihr da drüben habt eben ein sozialistisches Päckchen abbekommen, die Suppe müsst ihr schon selbst auslöffeln, aber einfach abhauen und es sich hier im gemachten Nest gemütlich machen, das hätten Sie wohl gerne! Schmarotzer!«
Er musste tief Luft holen. Wieso hatte er sie überhaupt eingestellt, wenn er so viel an ihr auszusetzen hatte?
»Gehen Sie runter zu Herrn Pohl«, zischte er wütend, »die Lieferungen müssen noch ausgefahren werden, egal, wie lange es dauert. Und die verpassten Stunden ziehe ich Ihnen vom Lohn ab.«
»Jawohl, Herr Böttcher.« Karin musste sich zusammennehmen, um höflich zu knicksen. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe. Das wird nicht wieder vorkommen.«
Er schnaubte wütend. »Der Urlaub am zweiten Januar ist natürlich auch gestrichen. Zu Ihrer Eröffnungsfeier wird sowieso niemand kommen. Eine Buchhandlung in einer Bretterbude ist doch ein Witz!«
Sie verkniff sich eine Erwiderung, knickste erneut und ging in den Keller.
Was für ein Schlamassel. Nicht nur, dass er sie mal wieder einen Schmarotzer genannt hatte, das kannte sie ja schon. Manchmal nannte er sie auch Schwarzgänger, weil sie schwarz über die Grenze gekommen war. Aber das scherte sie nicht. Schlimmer war, dass sie ausgerechnet heute an Silvester stundenlang mit den Auslieferungen beschäftigt sein würde. Tante Elvira hatte der ganzen Familie zu Weihnachten Karten für Die Fledermaus im Börsensaal geschenkt. Karin hatte noch nie eine Operette gesehen. Ob sie es rechtzeitig schaffen würde?
Der Packraum im Keller stank wie immer nach Zigaretten. Herr Pohl, ein kleiner Mann mit grauer Haut und grauen Haaren, schlug gerade ein Buch in Papier ein.
»Ich soll Ihnen helfen«, sagte sie.
Er deutete auf den Tisch voller Bücherstapel. »Lieferscheine liegen drin.«
Sie zog den Mantel aus, hängte ihn an den Haken an der Tür und schnappte sich ebenfalls einen Bogen Papier. Auf dem ersten Bücherstapel lag das meistverkaufte Buch im Weihnachtsgeschäft: Götter, Gräber und Gelehrte - Roman der Archäologie von C. W. Ceram, ein Leinenband mit zahlreichen Fotos und Goldschnitt. Offensichtlich ließen sich viele Kunden davon trösten, dass sich aus den Trümmern der Geschichte bislang immer neues Leben und neue Zivilisationen entwickelt hatten. Aber Karin schockierte noch immer der Preis. Achtzehn D-Mark - nur für ein einziges Buch?
Davon könnte man sich sehr viele Zeitungsromane kaufen, die kosteten zwischen fünfzig Pfennige und einer Mark fünfzig. Stalingrad von Theodor Plievier, Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Ihr Roman über sieben KZ-Flüchtlinge spielte sogar in Frankfurt und Umgebung. Karin fand die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus viel wichtiger als die Entdeckung Trojas.
Aber jetzt fühlte sie sich, als ob ihre eigene Welt schon wieder in Trümmern läge.
Völlig erschlagen lief sie an diesem Silvesterabend um kurz nach neun Uhr in den Grüneburgweg und atmete erleichtert auf, als sie von Weitem den kleinen Turm an Tante Elviras Haus erkannte.
Das zweistöckige weiße Gründerzeithaus mit den roten Sandstein-Verzierungen war vom ersten Augenblick an ihr neues Zuhause geworden. Sie liebte die verzierten Eisenbalkons auf jeder Seite des Eckhauses, aber vor allem die vielen Pelztiere an der Stuckleiste.
Ein paar Einschusslöcher auf Kopfhöhe waren die einzigen Zeugen des überstandenen Krieges. Auch die amerikanischen Offiziere, die in den ersten Jahren nach dem Krieg hier gelebt hatten, als das nördliche Westend Sperrbezirk gewesen war, hatten das Haus gut behandelt. Nur Onkel Valentins Weinkeller hatten sie ausgetrunken.
Wenn Karins erste Flucht erfolgreich gewesen wäre, hätte sie mit ihrer Tante in einem Hochbunker im Ostend leben müssen. Erst kurz vor der Ankunft der Familie in Frankfurt wurde der Stacheldraht entfernt, und die Anwohner durften ihre Häuser wieder beziehen.
Schräg gegenüber, hinter den Bäumen, lag das IG-Hochhaus, ein gelber, halbrunder Monumentalbau, dessen Fenster sogar jetzt noch zum Teil erleuchtet waren. Manche Nachbarn sagten auch IG-Farben-Haus. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die IG Farben, ein riesiger Chemiekonzern, tief in die menschenverachtenden Machenschaften der Nazis verstrickt gewesen war. Das Gift, mit dem die Juden umgebracht worden waren, stammte von dort. Einfach unvorstellbar.
Jetzt befand sich hier das Hauptquartier der Amerikaner. Unter der Hand erzählten sich die Frankfurter, dass vor allem der Geheimdienst dort tätig war. Jedenfalls sah man ständig Militär, insbesondere beim wöchentlichen Fahnenappell auf der großen Wiese. Sogar weibliche Soldaten hatte Karin dort gesehen.
Abends lag die Wiese dunkel und verlassen da, und die Fahnen waren natürlich eingeholt. Leise Musikfetzen schwebten durch die Nacht, vielleicht feierten sie in den Büros, aber die große Silvesterfeier der Amerikaner fand im Gesellschaftshaus vom Palmengarten statt, off-limits für Deutsche natürlich, die hatten dort keinen Zutritt.
Ein Jeep fuhr vorbei, die Soldaten pfiffen ihr hinterher. Ob dieser Billy dabei war? Aber es saßen nur Weiße im Wagen.
Friedel öffnete ihr. Die Familie war wie erwartet im Theater.
Friedel war Tante Elviras Perle und lebte in der kleinen Kammer neben der Küche. Als die Einquartierungen begannen, hatte Tante Elvira bereitwillig Platz gemacht und sogar ihr Schlafzimmer geräumt - nur Friedel durfte in ihrem angestammten Reich bleiben, darauf hatte Tante Elvira bestanden, und Friedel erwähnte es dankbar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die beiden mussten gemeinsam einiges durchgemacht haben, das spürte Karin, denn sie verband viel. Aber wie immer wurde auch darüber nicht gesprochen.
Friedel mit ihrem grauen Dutt schaute sie leicht mürrisch an, aber als Karin ihre Überstunden erwähnte, wärmte sie ihr sofort die Kartoffelsuppe von mittags auf. Sie nahm sich selten frei, obwohl Tante Elvira wollte, dass sie nur die üblichen achtundvierzig Stunden in der Woche arbeitete.
Aber jetzt war Karin dankbar für das warme Essen, setzte sich zu ihr in die Küche und erzählte von ihren Problemen.
»Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, wiederholte Friedel den Spruch von Herrn Böttcher. »Ihr Mädchen denkt, ihr könnt alles selbst entscheiden. Das liegt am Krieg und dem Durcheinander, das danach geherrscht hat, aber die Zeiten sind vorbei. Meine Eltern haben für mich die erste Stelle ausgesucht. Und sie haben es richtig gemacht, die gnädige Frau und ihr Mann haben mich stets gut behandelt!« Sie seufzte.
»Sie haben immer nur für Tante Elvira gearbeitet? Wollten Sie nie woanders hin, eine andere Stadt, andere Leute kennenlernen?«
»Nein. Frankfurt ist mein Zuhause, und die Welt, die kam ja früher zu Besuch. Was haben wir für Gesellschaften gegeben! Ich habe vielleicht als einfaches Küchenmädchen angefangen, aber als der selige Herr noch lebte, da war ich die Haushälterin und hatte drei Mädchen unter mir!« Sie hob stolz den Kopf. »Deine Eltern wissen, was gut für dich ist. Es ist bestimmt richtig, wenn du deine Lehre woanders machst, andere Erfahrungen sammelst. Die Handwerksburschen gehen sogar auf Wanderschaft. Am Ende bist du schlauer als dein Vater.«
»Der Böttcher bringt mir doch gar nichts...
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