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19. Louis-H. Lafontaine
Dienstag, 20. Dezember
Es war 6.25 Uhr, und die Plastikpflanzen im Restaurant Chez la Mère erzitterten im Rhythmus des knatternden Räumfahrzeugs, das die nächtlichen Schneemassen entlang der Bürgersteige zusammenschob. Ganz in der Nähe, Ecke Boulevard Pie-IX, ertönte die Sirene eines Abschleppwagens und forderte alle, die ihr Fahrzeug noch nicht umgeparkt hatten, umgehend dazu auf. Jacinthe wollte sich gerade über eine Poutine hermachen, während Victor schwermütige Löffelkreise in seinem Kaffee zog. Sie waren erst vor wenigen Minuten eingetroffen, nachdem sie fast die ganze Nacht mit der Spurensicherung Judith Harpers Wohnung durchsucht hatten.
»Na, achtest du auf dein Cholesterin?«, fragte er ironisch.
»Das oder Zigaretten . An irgendwas muss man ja sterben.«
Sie schnappte sich diverse Soßen und verwandelte ihr Gericht in einen matschigen Brei. Der Sergent-Détective zuckte die Schultern, bevor er fortfuhr:
»Ist trotzdem frustrierend.«
»Was?«, sagte Jacinthe, bevor sie mit dem ersten Happen ein Viertel ihres Tellers verputzte.
»Blaue Null, rote Eins, orangefarbene Zwei, gelbe Drei, lila Vier, grüne Sechs«, zählte Victor auf. Den Blick auf sein Notizbuch geheftet, ging er die bunten Magnetziffern durch, die sie an Judith Harpers Kühlschrank gefunden hatten. »Wir schlagen uns die ganze Nacht um die Ohren, und am Ende haben wir nicht mehr als das!«
»Es sei denn, die Kriminaltechnik findet noch Fingerabdrücke.«
»Würde ich nicht drauf wetten. Das war kein Versehen. Der Mörder wollte, dass wir die Zahlen finden.«
»Warum? Um uns auf eine Spur zu locken?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.
Victor pustete in seinen dampfenden Kaffee, bevor er einen Schluck nahm.
»Ist dir aufgefallen, dass es sechs Ziffern sind? Eine zu wenig für eine Telefonnummer, vielleicht ein Datum.«
Jacinthes Gabel schwebte einen Moment in der Luft, dann krachte die Faust der Ermittlerin auf den Tisch.
»Vielleicht will er unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ereignis lenken!«
»Oder ein bedeutendes Datum für Judith Harper.«
»Na also. Hast du nicht eben noch gemeint, wir hätten nichts?«, sagte Jacinthe und rieb sich die Stirn. »Aber wenn er uns auf eine Spur bringen will, warum hinterlässt er uns die Zahlen dann durcheinander?«
»Keine Ahnung.« Nach einer kurzen Stille sagte Victor: »Du hast Soße am Kinn«, und schaute demonstrativ weg.
»Sechs Ziffern . Das sind eine Menge Möglichkeiten.« Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Wann treffen wir den Psychiater?«
»Um acht. Gib mir mal die Schlüssel, ich leg mich im Auto eine Runde aufs Ohr. Ich bin völlig erledigt.«
Jacinthe reichte ihm den Schlüsselbund und nuschelte irgendwas von Dessert, aber Victor hatte bereits seine müden Glieder auseinandergeklappt und schlängelte sich an Tischen mit vereinzelten Gästen vorbei, von denen einige das Journal de Montréal lasen.
Victor öffnete die Tür, seine Pupillen starrten ins Weiße; der Himmel war wie aus Watte, die Wolken hingen so tief, dass er Lust bekam, darin zu schlafen.
Jacinthe weckte ihn, als sie auf dem Parkplatz der Psychiatrischen Klinik Louis-H. Lafontaine den Motor abstellte. Mit steifem Kreuz und klappernden Zähnen rauchte Victor vor dem Haupteingang eine Zigarette.
Sie hatten mit einer spartanischen Einrichtung gerechnet, mit ein paar Zeugnissen an der Wand und staubigen Aktenstapeln und waren nun umso überraschter von Doktor Mark McNeils Büro: weiße Wände, ein dunkler Holzboden, minimalistisches Mobiliar; außer den klaren Linien eines iMac und einem Terminkalender deutete nichts auf einen Arbeitsplatz hin.
Der Chefarzt der Psychiatrie war kräftig gebaut, hatte einen üppigen Oberlippenbart à la Magnum und eine raue Stimme.
Als Erstes klärten die Ermittler mit dem Arzt die Formalitäten ab, vor allem die Frage der Schweigepflicht. Auch wenn er, solange kein Haftbefehl vorlag, ihre Fragen nicht beantworten musste, beruhigte McNeil sie sofort: Da Lortie ohne bekannte Angehörige verstorben war und es sich um einen Mordfall handelte, würde er hier eine Ausnahme machen.
Jacinthe und Victor kamen direkt zur Sache und baten den Psychiater um seine Unterstützung bei ihrem Versuch, mehr über André Lortie herauszufinden. McNeil schaute auf den Bildschirm und erklärte, Lortie sei zum ersten Mal 1969 in der Klinik behandelt worden. Damals sei der Mann völlig aufgelöst und mit psychotischen Wahnvorstellungen in der Notaufnahme erschienen. Nachdem er untersucht und beobachtet worden sei, hatte man bei ihm eine sehr ernste Form der bipolaren Störung diagnostiziert - damals sprach man eher von manischer Depression -, begleitet vom üblichen Größen- und Verfolgungswahn.
Lorties Akte enthalte nur wenige Details zu seiner Vergangenheit, präzisierte McNeil. Hatte er zuvor, wie so viele andere, einen festen Wohnsitz gehabt, eine Anstellung, ein Sozialleben, eine Partnerin? Und was hatte zu seiner Obdachlosigkeit geführt? Die Mediziner, die mit seinem Fall betraut gewesen waren, schienen darüber nichts herausgefunden zu haben. Stattdessen bestätigte McNeil, dass der Mann seit mehreren Jahren im Stadtzentrum auf der Straße oder in Obdachlosenheimen gelebt hatte.
Sie erfuhren, dass Lortie nach seiner ersten Aufnahme im Louis-H. Lafontaine wiederholt stationär behandelt worden war. Die Dauer hatte je nachdem, wie ernst sein Zustand gewesen war, zwischen einigen Tagen und mehreren Monaten variiert. Jedes Mal hatte er psychotische Symptome aufgewiesen. Doch in den letzten Jahren war sein Zustand dank wirksamerer Medikamente und engerer Betreuung einigermaßen »stabil« gewesen. Erst kürzlich hatte er ein Zimmer in dem Wohnheim erhalten, das die beiden Ermittler bereits aufgesucht hatten.
»Sie erwähnten eben, dass Lortie Wahnvorstellungen hatte. Was genau bedeutet das?«, fragte Jacinthe, die von der Unterhaltung ungewöhnlich gefesselt war.
Die Hände flach auf den Armstützen, lehnte McNeil sich im Stuhl zurück.
»Ein extremer manischer Zustand kann zu psychotischen Symptomen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen führen. Oft enthalten die Wahnvorstellungen einen Funken Wahrheit, aber die Person, die unter ihnen leidet, verliert jeden Bezug zur Realität und ist überzeugt von der Wahrhaftigkeit einer Sache, die nicht real ist. Manische Episoden gehen häufig mit Risikoverhalten und depressive Episoden mit Selbstmordgedanken einher.«
»Dann wird es Zeit für die Klinik«, vermutete Victor.
»Ganz richtig. Eine Einweisung erfolgt entweder auf freiwilliger Basis oder auf Gesuch eines Dritten. Lortie wurde meistens von der Polizei hergebracht, wenn er aufgehört hatte, seine Medikamente zu nehmen.«
»Und die Wahnvorstellung beziehen sich generell worauf?«, fragte Victor.
»Ach Gott . Das ist bei allen Kranken unterschiedlich. Manche leiden beispielsweise an Verfolgungswahn: Da glaubt der oder die Betroffene, Opfer einer Intrige oder Verschwörung zu sein.«
Jacinthe berichtete dem Psychiater von den beschrifteten Kartons, die sie in Lorties Zimmer entdeckt hatten.
»Außerdem haben wir einen Zeitungsartikel gefunden, den er versteckt hatte«, ergänzte Victor. »Es ging um die Entführung von Pierre Laporte.«
Das Gesicht des Psychiaters erhellte sich.
»Aber ja! Ich war zwar keiner der behandelnden Ärzte, aber ich spreche natürlich mit meinen Kollegen, und wenn ich mich recht erinnere, gehörte Laporte zu einer seiner fixen Ideen. Lortie behauptete, damals Teil der Operation gewesen zu sein. Was offensichtlich nicht stimmt: Die beteiligten Felquisten sind seit langem bekannt. Das ist ein gutes Beispiel für einen megalomanischen Wahn. Eine Selbstüberschätzung, die mit der Realität nichts zu tun hat. Die Aufschriften, die Sie auf den Kartons gesehen haben, waren vermutlich das Ergebnis eines Wahns.«
»Handelt es sich dabei um eine Krankheit?«, fragte der Sergent-Détective.
»Wir sprechen eigentlich von einer psychischen Störung. Für sich genommen ist die Wahnvorstellung ein Symptom, das zeigt, dass die Denkweise des Patienten gestört ist.«
Victor hob den Blick vom Notizbuch, in dem er bereits mehrere Seiten gefüllt hatte.
»Sind die Ursachen dafür bekannt?«
»Es kann mehrere geben«, seufzte McNeil. »Die Einnahme toxischer Substanzen, eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, ein traumatisches Erlebnis, genetische Faktoren, Stress. Es wird immer versucht, die Auslöser zu identifizieren, aber oft gelingt das nicht.«
»Und bei Lortie?«, fragte Jacinthe.
Der Psychiater setzte eine skeptische Miene auf.
»Ich meine, es wurde nie ein eindeutiger Grund gefunden. Abgesehen davon, dass sich die Symptome in seinem Fall zu einer chronischen halluzinatorischen Psychose entwickelten.«
»Noch mal für Normalsterbliche?«, bat Jacinthe.
»Der Erkrankte hört Stimmen. Die Beeinträchtigung ist mal mehr, mal weniger schwer, sie kann vorübergehend nachlassen, aber auch schlimmer werden.«
»Wie wird das behandelt? Kann man geheilt werden?«, fragte Victor.
»In manchen Fällen können die Symptome mit Neuroleptika abgeschwächt werden. Aber nein, ganz geheilt wird man nie. In dem Moment, in dem, häufig ausgelöst durch eine Krise, die Abwehr zusammenbricht, kehrt das Problem regelmäßig an die Oberfläche zurück. Der Kranke ist dadurch zu großer Einsamkeit verdammt. Die sozialen Auswirkungen sind furchtbar.«
Victor stand auf und ging im Büro...