Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Peter Kraut
Dramatik, Größe, Apparat - denkt man musikalisch, ist die Operngeschichte nicht weit. Opernstoffe und -häuser haben eine Geschichte des Sich-Überbietens. Der arbeitsteilige Prozess der Realisierung von Musiktheaterwerken und der lange Vorlauf produzieren eine Komplexität, die nur mit viel Spezialwissen und enormen Ressourcen bewältigt werden kann. Michael Wertmüller hat einige Opernerfahrung, zuletzt mit der Uraufführung von Israel in München im Januar 2025 an der Staatsoper Hannover. Das Libretto stammt von Roland Schimmelpfennig und behandelt die Ereignisse rund um die Geiselnahme während der Münchner Olympiade von 1972. Natürlich fängt kein Komponist, keine Komponistin mit Oper an. Und rückblickend kann es nicht selten verklärend wirken, Keimzellen des späteren Schaffens schon in den ersten künstlerischen Regungen entdecken zu wollen. Was sich hingegen im vorliegenden Falle früh als Interesse und Sehnsucht zeigt, ist dies: Ein kraftvolles Drängen. Die Liebe zur großen, auch zur literarischen Form. Geschichten erzählen und formale Grenzen sprengen wollen. Überlagern und weiterschreiben. Davon handeln weitere Beiträge in diesem Band. Auf den folgenden Seiten geht es aber um die Anfänge des Schlagzeugers und Komponisten Michael Wertmüller, 1966 in Thun in der Schweiz geboren, der seit Mitte der 1990er Jahre in Berlin lebt, heute vor allem im Musiktheaterbereich mit den führenden Regisseuren und Librettisten zusammenarbeitet und in seiner Musikerkarriere mit den bedeutendsten Vertretern des Jazz und improvisierten Musik auf der Bühne stand.
Thun ist eine Provinzstadt im Kanton Bern, vom See pittoresk gerahmt, im Hintergrund stehen mächtige Viertausendergipfel der Alpen. Auf dem Weg nach Interlaken oder aufs Jungfraujoch (»Top of Europe«) kommt man hier vorbei. Von der massiven Armeepräsenz - Trainingsgelände und Ausbildungszentrum - bemerkt man auf der Durchreise wenig. Doch Thun ist als Provinz- wie als Armeestadt prägend für Michael Wertmüller. Er wächst hier auf. Die touristisch-kulturelle Enge ist das eine, die Ausbildungsmöglichkeit bei den paramilitärischen Kadetten das andere.
»Mein Vater hat hobbymässig Schlagzeug gespielt. So war es naheliegend, das auch zu tun. Wir sind fast jeden Sonntag von Thun nach Bern gefahren, um im Kornhauskeller die Jazz-Matineen zu hören. So gab das eine das andere. Dann kam hinzu, dass ich als Schüler des Progymnasiums in Thun zu den Kadetten musste. Das war damals obligatorisch. Gut daran jedoch war, dass ich dort zu den Tambouren durfte. So habe ich das Trommeln gelernt.«2
Die musikalische Sozialisierung in den 1970er Jahren erfolgt durch Live-Jazz und die elterliche Plattensammlung, wo Michael Wertmüller auch auf die Tradition der europäischen Kunstmusik stößt.
»Zu Hause gab es viel Charlie Parker, Duke Ellington und Count-Basie-Platten. Ebenso Tschaikowski, Bruckner, Beethoven und Mahler. Die jazzigen Platten habe ich durch die diversen Konzertbesuche ein bisschen verstanden, zumindest war mir das nicht sehr fremd. In die klassischen und romantischen Werke dagegen musste ich mich >einarbeiten<, sie haben mich aber sehr bald überwältigt. Diese Dramatik und Grösse des Apparates die Kompositionen an sich und das Pathos war das Unerhörte, das Faszinierende.«
Rückblickend, erzählend, erscheint eine Idylle. Nicht nur das unbeschwerte Kennenlernen und Fasziniert-Sein von ersten musikalischen Erlebnissen und Begegnungen sind prägend, sondern auch die Umgebung, in der dies stattfinden kann.
»Ich hatte aus heutiger Sicht das grosse Glück, in einem Haus mit Garten aufzuwachsen, das heisst ich konnte Tag und Nacht im Keller trommeln. Es war auch möglich, Freunde aus der kleinen Stadt einzuladen, um Sessions ohne Ende zu spielen. Es fehlte an nichts, es war ein Luxus! Es gab so inspirierende Bands wie das Mahavishnu Orchestra, King Crimson, den späteren Miles sowie Coltrane und Parker zu studieren und überhaupt kennen zu lernen. Diese Musik, die Drumparts, habe ich gelernt um sie erst nach- und dann mitzuspielen. Die Enge der Garnisonsstadt Thun war schon ein Ansporn zum Ausbrechen. Es fühlt sich heute eigentlich schlimmer an, als es damals war. Ich würde und könnte nicht viele Dinge anders gemacht haben. Es war eine gute Zeit mit relativ viel Freiraum sowie Möglichkeiten, sich breit zu machen und auszutoben!«
Michael Wertmüller schreibt sich an der Swiss Jazz School ein, studiert beim Schlagzeuger Billy Brooks. Die älteste Jazzschule Europas war 1967 auf private Initiative hin gegründet worden und galt lange als Hochburg des Bebop mit entsprechendem ideologischen Überbau und Selbstverständnis. Für einen jungen Drummer mit Ambitionen und breitem musikalischen Entdeckergeist nicht der richtige Ort.
»Deshalb habe ich bald ins Konservatorium gewechselt und studierte klassische Musik, weil das vielleicht doch mehr meiner Herkunft entsprach. Ausserdem wollte ich schon auch wissen, wie diese grossartige symphonische Musik gebaut ist. Das habe ich dann im Symphonieorchester genau studieren können. Als Perkussionist hatte ich genügend Zeit, während der Proben zuzuhören und zu analysieren.«
In der Berufsabteilung des Konservatoriums Bern beschäftigt er sich mit neuen Namen und Werken, denen er bis heute in Bewunderung verbunden ist. Sein privater Kanon, so sagt er, drehe sich bis heute rund um Xenakis, Ligeti, Ives, Stockhausen, Brötzmann, Bruckner, Mahler, Beethoven, Schostakowitsch, Han Bennink, Elvin Jones oder Tony Williams. Und es zeigt sich, dass er auf dem Weg ist hin zu dem, was man viel später dann »Composer-Performer« nennt. Michael Wertmüller ist Performer (im Gegensatz zu Interpret) und Komponist, er verbindet die Ambitionen beider Rollen, die nach ganz unterschiedlichen Logiken funktionieren. Als Drummer sucht er den physischen, energetischen Ausdruck, den vorwärtstreibenden Flow, das perkussive Gewitter auf dem kleinen Drumset (deshalb nennt er auch Elvin Jones und Tony Williams, aber nicht etwa Paul Motion oder Pierre Favre). Als Komponist dagegen zeigt sich früh eine Vorliebe für modulartig und komplex gebaute sowie gereihte Strukturen, deren komplexe rhythmische Einheiten sich oft in der klingenden Geschwindigkeit der Ereignisse aufzulösen scheinen.
Bern, Thun, Zürich anfangs der 1990er Jahre oder allgemeiner: Wo konnte man damals in der Schweiz neue Musik hören? Man kommunizierte per Fax und orientierte sich in Fachzeitschriften oder spezialisierten Plattenläden im Wochenrhythmus oder langsamer. Datenbanken waren nicht verfügbar, und CDs bürgten notgedrungen für eine gewisse dokumentarische Glaubwürdigkeit. Aber das waren private Netzwerke. Die öffentlichen Anstalten, allen voran die Musikwissenschaft an den Universitäten, behandelten bloß ausnahmsweise Musik des 20. Jahrhunderts, die großen, massiv subventionierten Veranstalter ignorierten sie rundum. Orientierung boten wenige Institutionen, zu nennen wären Avantgardefestivals oder Konzertreihen: »taktlos« in Basel, Bern, Zürich; »tonart« in Bern, »fabrikjazz« in Zürich, »neue horizonte« in Bern (Urs Peter Schneider, Salomo Fränkel, Philippe Micol u. a. m.), »gnom« (Gruppe für neue Musik in Baden), Jazzfestival Willisau, einige wenige Sendungen im nationalen Sender DRS2, die Werkstatt für neue Musik in Zürich und Bern. In den meisten Fällen waren es Initiativen, Gruppen oder freie Veranstaltungskollektive, die nicht nach einer akademisch oder musikhistorisch geprägten Logik programmierten, sondern gewissermaßen den alternativen Soundtrack zur Jetztzeit lieferten, den musikalischen Kommentar jenseits des Gängigen oder auch bloß den massiven Nachholbedarf an Repertoire des 20. Jahrhunderts ein wenig linderten.3 In diesem Umfeld wurde Salomo Fränkel wichtig:
»Er war mein erster grosser Einfluss in der Welt der Neuen Musik, durch ihn lernte ich die 2. Wiener Schule, Boulez, Nono, Stockhausen etc. kennen. Er hat mich schliesslich nach Berlin zu Dieter Schnebel vermittelt. Dieser hat mir die grosse Freiheit des Denkens in der Komposition gezeigt (.) [In der Schweiz] gab es einfach zu wenig zu arbeiten, zu wenig Inspiration! Und das Leben dort war und ist als Musiker nicht-kommerzieller Angelegenheiten einfach zu teuer, zumal wenn man nicht unterrichtet. Ich habe ja dann zuerst in Amsterdam weiterstudiert und bin Anfang der 1990er Jahre nach Berlin gezogen. Dort habe ich alsdann mein Studium bei Dieter Schnebel begonnen.«
Was allerdings früh klar ist:
»Die Oper war immer schon da, aber als Kind und Jugendlicher habe ich das gar nie wirklich reflektiert. Meine Mutter war Opernfan und mein Grossvater ein privater Opernsänger, wenn er ein bisschen getrunken hatte. So war die Oper präsent und auch durch meine Zeit im Berner Sinfonieochester, wo wir viel klassisches Musiktheater gespielt haben, Verdi, Wagner, Richard Strauss und vieles anderes mehr. Diese Faszination führte mich zum Komponieren. Mein erster Versuch im Musiktheater war an einem kleinen, aber edlen Festival in Spiez am Thunersee, den Schlosskonzerten, mit den Sängerinnen Julia Neumann, Barbara Martig-Tüller und Gitarrist Stephan Wittwer. Er war der verrückteste, aber beste Gitarrist weit und breit! Erstmals hatte ich dazu eine Partitur, >Das Zimmer<, streng notiert und hierzu...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.