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Ein Jahr zuvor hatte Thad ganz andere Sorgen als Astronauten, Mars und NASA-Wissenschaftler, als er zitternd im Fond des riesigen elterlichen Vans kauerte und darauf wartete, dass sein Vater ihn jeden Moment umbringen würde.
Der Wagen parkte in der Auffahrt zu Thads Elternhaus, einem ranchartigen Gebäude am Ortsrand von Syracuse, Utah. Syracuse, ein kleiner, abgeschiedener Ort, der nur mit Mühe auf der Karte zu finden war, war ein pseudo-idyllisches Provinzstädtchen, in dem sich jeder als Möchtegernfarmer betätigte, natürlich mit Ausnahme der wenigen Familien, die richtige Farmen besaßen. Thads Familie gehörte ein 6000 Quatratmeter großes Grundstück, auf dem sie ihr eigenes Obst und Gemüse anbaute und wo eine kleine Viehweide für gerade genug Fleisch für die hungrigen Mäuler von Thad und seinen sechs Geschwistern sorgte. Es war ein einfaches Leben, das von außen betrachtet einen gewissen urigen Charme besaß. Doch Thad sah das schon längst anders.
Gerade hatte es draußen angefangen zu schneien, ein wütendes Gestöber dicker Flocken. Thad bekam das kaum mit, so angestrengt starrte er auf die Haustür. Jeden Augenblick konnte sein Vater mit dem Gewehr in der Hand durch diese Tür kommen, zum Van marschieren und Thad eine Kugel durch den Kopf jagen. Thad glaubte nicht, dass sein Vater ihm nur drohen wollte. Er war sich ziemlich sicher, dass es gleich ernst würde.
Auf der einstündigen Rückfahrt vom Salt Lake City Airport hatte er genug Muße gehabt, um zu beobachten, wie der Nacken seines vor Wut schäumenden Vaters immer dunkelroter anlief. Seine Mutter, die schweigend auf dem Beifahrersitz saß, hatte sich während der Fahrt nur ein einziges Mal flüchtig nach hinten umgesehen, und ihr Blick hatte seine Befürchtungen nur verstärkt.
Thad wusste, dass er den Bogen überspannt hatte, und nun würde sein Vater tun, was er tun musste.
Thad kämpfte mit den Tränen, als er in das dichte Schneegestöber starrte und sich ausmalte, ob es sehr wehtun würde, ob er sich vielleicht noch mit erhobenen Händen ergeben oder um Vergebung betteln sollte. Er hatte seinen Vater schon immer für brutal gehalten. Trotzdem geschah es ihm ganz recht. Er hatte es vielleicht nicht anders verdient.
Im Grunde hatte er tief im Innern schon immer geahnt, dass es einmal so weit kommen musste, seit dem Tag, an dem er als Erstsemester am College Sonya begegnet war. Ein so schüchterner, eigenbrötlerischer Typ wie er hatte eigentlich nicht das Recht, hinter einem bildhübschen, allseits beliebten Rotschopf her zu sein, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie sich auch in ihn verliebt. In jeder anderen zivilisierten Gegend der Welt wären sie einfach Freund und Freundin gewesen, ein verliebtes Studentenpärchen, das im Hörsaal Händchen hielt und auf der Fußballtribüne verstohlene Küsse tauschte. In der strenggläubigen Mormonenenklave jedoch, in der Thad aufgewachsen war, sah die Sache ganz anders aus.
Da Thads Vater ihm eine Freundin strengstens verboten hatte, machten Thad und Sonya allen etwas vor. Drei Jahre lang tat Thad so, als verabredete er sich mit allen Freundinnen Sonyas, damit es so aussah, als hätte er jede Menge kleiner, harmloser Flirts. Er war gezwungen, seine Schüchternheit abzulegen, zunächst zur Tarnung, dann tatsächlich. Und sobald ihn seine Schüchternheit nicht mehr hemmte, hatte er jenem Impuls nachgegeben, den er als das Natürlichste der Welt empfand, ganz gleich, welche Schuldgefühle ihm seine Religion auch einreden mochte.
Das erste Mal war eine ebenso unbeholfene wie intensive, überschwängliche und doch angstbesetzte Erfahrung gewesen. Auf dem Rücksitz des Wagens von Sonyas Vater, wo die nackte, schweißnasse Haut an den Kunstledersitzen festklebte und das Rückfenster allmählich beschlug, umschlangen sich ihre Körper, während ihr Verstand verzweifelt versuchte, die Gedanken an den mormonischen Sündenfall auszublenden.
Seitdem hatten Thad und Sonya in ständiger Angst gelebt. Thad wusste, dass das, was er und Sonya getan hatten, für seinen tiefreligiösen Vater eine ausgesprochen schwere Sünde darstellte. Es geheim zu halten und die Schuldgefühle zu verdrängen war zwar qualvoll gewesen, aber Thad hatte es irgendwie geschafft. Bis zu jenem Tag, an dem er zu seiner zweijährigen Mission aufgebrochen war - einem Initiationsritus, dem sich jeder 19-jährige Mormone unterziehen musste.
Man schickte Thad in das MTC, das Missionary Training Center, in Provo, Utah. dort fand sich Thad in der Standarduniform aus weißem Hemd mit Button-down-Kragen und dunkler Hose, manchmal auch im Anzug und vom Rest der Welt abgeschnitten wieder. Er lernte das Sprechen neu, wie man sich kleidet, wie man geht, steht und denkt, und musste sich mit acht anderen Teenagern ein Zimmer mit Etagenbetten im Schlaftrakt teilen.
Thad bekam sofort das Gefühl, dass er unwürdig war, dass sein sorgsam gehütetes Geheimnis in Wahrheit eine Lüge gegenüber seiner Familie, der Kirche und Gott war. Doch in seiner dritten Nacht im MTC, kurz nach zwei Uhr morgens, er hatte gerade in seiner Koje gelegen, an die Decke gestarrt und den Atemzügen der sieben Zimmergenossen gelauscht, unterbrach plötzlich der Junge aus dem Etagenbett gegenüber die nächtliche Stille.
»Ist irgendjemand wach? Ich muss euch nämlich was erzählen, aber ihr müsst schwören, dass ihr es keiner Menschenseele weitersagt .«
Und damit hatte der Junge plötzlich angefangen zu beichten. Wie Thad hatte er bereits mit seiner Freundin Sex gehabt, bevor er ins MTC gekommen war. Rein theoretisch hätten Thad und die anderen in den Etagenbetten jetzt schockiert sein müssen, doch stattdessen fing der nächste an zu erzählen und legte die gleiche Beichte ab. Auch er hatte schon mit seiner Freundin geschlafen.
Bis zum Morgengrauen hatte jeder im Zimmer gebeichtet, dass er schon einmal Sex gehabt hatte. Und es war die erste Nacht seit Jahren, in der Thad ohne Schuldgefühle schlafen konnte. Am nächsten Morgen fragte er sich, ob vorehelicher Geschlechtsverkehr wirklich eine so unverzeihliche Sünde war, wie er immer geglaubt hatte. Vielleicht war es etwas, das man einfach nur beichten musste, so wie der Junge im Schlafsaal.
Bevor ihn der Mut wieder verlassen konnte, beschloss er, die Sache hinter sich zu bringen, und bat den Missionspräsidenten um ein Gespräch unter vier Augen. Sie trafen sich in seinem nüchternen Büro, Thad erzählte dem Mann von Sonya und der Sünde, die sie gemeinsam begangen hatten. Er hatte allen Ernstes geglaubt, der Präsident würde ihm zumindest ein klein wenig Verständnis entgegenbringen und ihm als reuigen Sünder einen Pfad der Buße weisen.
Doch anstatt ihm Buße zu gewähren, hatte der Präsident sofort die beschlussfähige Anzahl von Kirchenmitgliedern zusammengetrommelt, um Thad aus seiner Missionarsschule zu werfen und ihn damit vor der gesamten Mormonengemeinschaft als Sünder abzustempeln. Allein schon die Worte des Mannes sollten Thad sein Leben lang verfolgen.
»Du bist ab sofort ein unwürdiger Diener Gottes.«
Gleich am nächsten Tag hatte man ihn nach Hause geschickt.
Und da saß er jetzt, im Wagen seiner Eltern, spürte weder Schnee noch Kälte. Einen Moment überlegte er, ob er nicht besser davonlaufen sollte, aber dann würde er Sonya nie wiedersehen, und das erschien ihm noch schlimmer als alle Schande und Peinlichkeit, ja sogar noch schlimmer als eine Kugel aus der Flinte seines Vaters. Und so saß er einfach nur da und wartete. Fünf Minuten, zehn Minuten, dann eine halbe Stunde, und bald hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Der Schnee blieb allmählich liegen und deckte den Gemüsegarten, die Viehweide und sogar das Haus zu, bis alles weiß glitzerte. Die Luft im hinteren Teil des Vans wurde langsam frostig und Thad konnte zusehen, wie sein Atem in kleinen Schneekristallen an der Scheibe gefror. Aber er saß immer noch da, ein Häufchen Elend, die Gedanken ein einziges zittriges Chaos.
Erst als die Dämmerung einsetzte und der Schnee schon so dick auf den Autoscheiben lag, dass er das Haus nicht mehr erkennen konnte, beschloss er, dass ihm keine andere Wahl blieb, als seinen Eltern nach drinnen zu folgen. Vielleicht fand sein Vater, dass es zu viel Aufsehen erregen würde, Thad gleich in der Auffahrt zu erschießen, und dass es eine Privatangelegenheit war, die man besser in den eigenen vier Wänden erledigte.
Thad griff sich seinen groben Stoffrucksack mit den paar weißen Ersatzhemden, Toilettenartikeln, einigen Exemplaren des Buches Mormon und einem halben Dutzend Krawatten und stieg aus dem Wagen. Er spürte kaum die beißende Kälte des Schnees auf Nacken und Wangen. Wie in Trance lief er durch den Vorgarten, der zu seinem Zuhause führte.
Seine Eltern waren in der Küche. Der Vater saß am Küchentisch, die Mutter daneben. Keiner von beiden sah ihn an, als er hereinkam. Niemand sprach ein Wort, und Thad verharrte einen Moment lang in der Tür und hörte, wie der auftauende Schnee auf den Fliesenboden tropfte. Dann ließ er den Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich den Eltern gegenüber an den Tisch.
Sein Vater funkelte ihn zornig an. Die Wut in seinen Augen war fast physisch greifbar, sodass es Thad um ein Haar vom Stuhl gehauen hätte. Thads Brustkorb weitete sich, und doch hatte er das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ihm drehte sich der Magen um und es lief ihm heiß und kalt den Rücken hinunter. Seine Mutter starrte auf ihr Spiegelbild in der Glasplatte des Tisches und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Aber es ging hier sowieso nicht um seine Mutter. Es war eine Sache zwischen...
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