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Später Oktober 1929
Als sie das Abteil betrat, war Ilka erleichtert. Um dem Gedränge auf den Bänken zu entgehen, hatte sie einen Fahrschein für die erste Klasse gelöst, und tatsächlich war das Abteil nicht voll. Es waren zwar nur drei Stunden Fahrt, aber bei laufender Heizung konnte sie auf stickige Luft und unfreiwilligen Körperkontakt mit fremden Personen gut verzichten. An der Tür saß ein fülliger Mittfünfziger, der gedöst hatte, als sie ins Abteil gekommen war. Er wachte auf, machte aber keine Anstalten, ihr behilflich zu sein. Schwer atmend öffnete er ein Buch und hatte kleine Schweißperlen auf Stirn und Glatze. Auf dem Einband konnte Ilka den Titel erkennen. Remarques Im Westen nichts Neues. Der Antikriegsroman, den ihre Zeitung letztes Jahr als Vorabdruck gebracht hatte. Er war so realistisch, dass in der Tschechoslowakei die Lektüre für die Soldaten des Landes vor kurzem verboten worden war. Bevor der Mann ihr Hilfe hätte anbieten können, hatte Ilka ihre kleine Reisetasche bereits selbst ins Gepäcknetz befördert.
Am Fenster auf ihrer Seite saß eine Ordensschwester, die Hände auf dem Schoß gefaltet und den Blick starr ins Nichts gerichtet. Beim ersten Halt stieg noch ein junger Mann ohne Gepäck zu, der sich auf den Platz ihr schräg gegenüber setzte und sofort eine Zeitung aufschlug. Ein Student, wie Ilka schätzte, der versucht hatte, mit viel Pomade sein lockiges Haar unter Kontrolle zu bringen. Ab und an zog er einen Kamm hervor und glättete den störrischen Wildwuchs, bevor er weiter durch die Seiten blätterte. In schöner Regelmäßigkeit ließ er seinen Blick über den Rand der Zeitung in ihre Richtung gleiten. Ilka lächelte in sich hinein. Wie es aussah, also eine Reise ohne Konversation, was ihr insgeheim recht war. Auf mitteilungssüchtige Mitreisende konnte sie gerne verzichten, selbst wenn ihr der gutaussehende Student durchaus gefiel.
Auch sie hatte sich Reiselektüre eingepackt. Ein druckfrisches Exemplar von Döblins Berlin Alexanderplatz. Die ersten Kapitel hatte sie bereits durch und war gespannt auf mehr. Ein faszinierender Streifzug durch Berlin. Es war ein unheimlicher Weg, an der Seite von Franz Biberkopf durch die Straßen der Metropole zu schlendern, die sich öffneten wie Chimären eines expressionistischen Films. Aber sosehr sie sich auch bemühte, heute konnte sie sich nicht so recht konzentrieren. Ilka ertappte sich nun schon zum dritten Mal dabei, dass sie eine Seite gelesen hatte, ohne hinterher zu wissen, was wirklich geschehen war. Eigentlich ein untrügliches Zeichen, die Sache ruhen zu lassen, das Buch beiseitezulegen.
Ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Da wuchs etwas in ihr. Seit über einem Monat war sie überfällig. Egal womit sie sich abzulenken versuchte, sie wurde den Gedanken nicht los. Nur nicht das. Hatte sie nicht immer aufgepasst? Allein der Umstand ließ sie unwohl werden. Und jetzt auch noch die Hitze hier im Abteil. Ilka glühte förmlich. Schwanger. Dabei konnte sie noch nicht einmal sagen, von wem .
Normalerweise wäre sie selbst nach Hamburg geflogen, auch wenn es zu dieser Jahreszeit zugegebenermaßen recht ungemütlich war. Aber ihr Flieger stand in Limhamn bei Junkers in Schweden. Eine grundlegende Überholung des Triebwerks war nötig. Das war vor sieben Wochen gewesen, als man durchaus noch angenehme Wetterverhältnisse gehabt hatte. Natürlich hatte sie, nachdem sie das Flugzeug abgegeben hatte, im Anschluss ein paar Tage bei Ture verbracht. Und er? Er konnte nicht aufhören, ihr Komplimente zu machen, sie zu becircen. Keine Agneta mehr, mit der er sich die letzten Jahre vergnügt hatte. Wieder einmal war sie seinem Charme erlegen. Natürlich hatte sie mit ihm geschlafen. Sie taten es seit nunmehr fünfzehn Jahren, wenn auch nur sporadisch. Und wie es aussah, würde es auch kein Ende nehmen. Sie genoss es, wenn nur nicht immer diese Versuche seinerseits gewesen wären, sie zur Ehe zu überreden. Nein, sie wollte ihr selbstbestimmtes Leben nicht aufgeben. Kein: Ture für immer. Außerdem liebte sie eigentlich Laurens, der sie noch heute in die Arme schließen würde. Ihre Wochenendbeziehung. Oder liebte sie beide? Was nun?
Die Reichsbahn fuhr inzwischen mit fast hundert Kilometern pro Stunde. Durchs Fenster konnte Ilka die Landschaft vorüberziehen sehen. Als wirkliches Erlebnis empfand sie die Reise mit der Bahn dennoch nicht. Mehr als lästige, wenn auch bequeme Alternative. Dafür war das Fliegen viel zu unmittelbar. Ein schüchternes Lächeln von der Ordensschwester, als sich ihre Blicke kurz trafen. Natürlich wäre sie mit ihrem Laubfrosch, wie sie ihren knallgrün gestrichenen Flieger nannte, schneller in ihrer Heimatstadt gewesen, aber ehrlich gesagt ging diese Rechnung nur auf, wenn man die Tatsache unberücksichtigt ließ, dass die Start- und Landebahnen außerhalb der Stadtzentren lagen und der Weg mit Droschke oder öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens so viel Zeit kostete, wie man gegenüber der Bahn eingespart hatte. Diesmal also Reichsbahn.
Spätestens alle drei Wochen war sie bei Laurens in Hamburg. Eher jedes zweite Wochenende. Aber nun hatte sie der Herr Kommissar gebeten, unverzüglich zu kommen. Dringend. Es gab irgendwas, das mit einer ihrer vermieteten Immobilien im Zusammenhang stand. Sie besaß zwei Villen in Harvestehude und Rotherbaum. Beide hatte sie von Martin Hellwege geerbt, dem besten Freund ihres Vaters, der sich nach Ausbruch des Krieges in Norwegen das Leben genommen hatte. Ihr war bis heute schleierhaft, warum er gerade sie als Universalerbin eingesetzt hatte, auch wenn ihr Vater immer betont hatte, wie sehr er heimlich in sie verliebt gewesen sei. Da war sie aber noch Kind gewesen. Und nun war sie sechsunddreißig . und schwanger. Und auch ihr Vater war seit über einem Jahr tot.
Das große Haus in der Alten Rabenstraße hatte Onkel Martin selbst bewohnt. Es war eine riesige Villa aus gelbem Backstein, die wie ein verwunschenes Märchenschloss wirkte. So hatte sie es schon als Kind empfunden. Ein Hamburger Bankier hatte es gemietet. Die andere Villa lag in Harvestehude direkt an der Alster, war aber deutlich kleiner und, wie die meisten Villen in der Stadt, hell verputzt. Sie hatte das Haus an einen Kaufmann vermietet, der es mit seiner siebenköpfigen Familie bewohnte.
Vielleicht war in eins der Häuser eingebrochen worden? Um was es genau ging, hatte Laurens am Telephon nicht sagen wollen, und die Mieter hatte sie nicht erreichen können. Es war eh an der Zeit, mit Laurens zu sprechen. Bislang hatte sie ihn nicht eingeweiht. Ilka war sich ja auch bis letzte Woche nicht wirklich sicher gewesen. Aber nun. Das zweite Mal war ihre Periode ausgeblieben, das war eigentlich eindeutig. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Immerhin war sie inzwischen in einem Alter, in dem man nicht mal so eben noch ein Kind in die Welt setzte. So ohne weiteres . Ach, sie hatte keine Ahnung.
Und dann musste sie ihrer Mutter in Ohlstedt einen Besuch abstatten. Das war längst überfällig. Überfällig? Nein . sie selbst war überfällig. Aber sie war es Tilda schuldig. Und David wollte sie auch sehen. Ihren großen Bruder, den ihre Eltern adoptiert hatten, der aber irgendwie immer ihr richtiger Bruder gewesen war. Ilka musste kurz nachrechnen. Einundfünfzig war David inzwischen, nur zwölf Jahre jünger als ihre Mutter. Blieb noch Robert, ihr kleiner Bruder, der auch wieder in Hamburg war, nachdem er sein Jurastudium beendet hatte. Sie hatte nicht mal eine genaue Adresse von ihm. Tilda hatte bei ihrem letzten Telephonat erwähnt, er habe eine Wohnung in St. Georg. Das war dann in der Nähe von ihrer Freundin Toska. Die durfte auch nicht zu kurz kommen, auch wenn ihre gemeinsamen Unternehmungen mehr oder weniger eingeschlafen waren, seit Ilka mit Laurens liiert war. Was gab es noch? Richtig. Den Nachfolger von Dr. Hansen, ihrem bisherigen Finanzberater bei der Donnerbank, wollte sie unbedingt kennenlernen. Sie hatte so viel auf dem Zettel, dass sie sich ohne weiteres für eine Woche in der Stadt hätte einquartieren können. Georg Bernhard, ihr Chef bei der Vossischen, war jedenfalls informiert. Es konnte durchaus sein, dass sie ein paar Tage nicht in der Redaktion auftauchen würde. Das kam häufiger vor.
Robert hatte sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen und sie überlegte, wie er mit seinen siebenundzwanzig Jahren inzwischen aussah. Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen? Ihr Blick fiel auf den Studenten gegenüber. Könnte es sich bei ihm um Robert handeln? Der hatte inzwischen die Zeitung beiseitegelegt und starrte sie nun unverhohlen an. Sein Blick bekundete eindeutiges Interesse an ihrer Person. Ilka nahm es als Kompliment. Dabei hatte sie sich nicht einmal in Schale geworfen. Dem ungemütlichen Wetter entsprechend trug sie ein schlichtes Wollkostüm. Blicke war sie gewohnt, vor allem wegen ihrer maskulinen Kurzhaarfrisur, die sie immer noch kürzer hielt, als es allgemein Mode war.
Seit sie bei Laurens zweites Quartier bezogen hatte, reiste sie leger und ohne großes Gepäck. Sogar einen eigenen Schlüssel hatte sie inzwischen. Alles, was sie brauchte, war bei Laurens am Leinpfad. Dort hatte sie sich auch eine improvisierte Schreibstube eingerichtet, aber wenn sie ehrlich war, kam sie dort kaum zum Arbeiten.
Ilka zog ihren Kalender aus der Handtasche. Vielleicht war Carl momentan auch in der Stadt. Nach den Unruhen im Blutmai hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Und im August hatte man Strafantrag gegen von Ossietzky gestellt. Für eine Sache, an der sie nicht ganz unschuldig war. Er hatte tatsächlich das getan, was sie sich verkniffen hatte. Aber sie hatte...
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