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5. Kapitel
J. A. McCullough
Wäre sie ein besserer Mensch, würde sie ihrer Familie keine zehn Cents hinterlassen; ein paar Millionen vielleicht, mit denen sich das Studium der Kinder finanzieren oder im Krankheitsfall der Arzt bezahlen ließ. Sie war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass nur eine Sache schiefgehen musste – wenn die Dürre noch ein weiteres Jahr anhielt oder es mit den Zecken schlimmer wurde oder mit den Fliegen –, und schon gäbe es nichts mehr zu essen. Natürlich hatten sie damals schon Erdöl gefunden, es war also höchst unwahrscheinlich, dass der Fall eintrat. Dennoch hatte ihr Vater so getan, als könne es jederzeit so kommen, und sie hatte es geglaubt, und deshalb war es auch so.
Als sie klein war, hatte ihr Vater ihr oft verwaiste Kälber zum Aufpäppeln gegeben, und gelegentlich packte sie die größeren zu der Schlachtviehherde, die nach Fort Worth transportiert wurde. Mit ihren mutterlosen Kälbern verdiente sie genug Geld, um später in Aktien investieren zu können, und das, so erzählte sie den Leuten, lehrte sie den Wert eines Dollars. Wohl eher den Wert von tausend Dollar, schrieb ein Reporter einmal. Besonders männlich war er nicht. Er war aus dem Norden.
Der Colonel war immer schon bei Sonnenaufgang wach gewesen, obwohl er jeden Abend Whiskey trank. Als sie acht war und er achtundneunzig, hatte er sie einmal langsam über eine trockene Weide geführt, quer über die Caliche auf einem Pfad, den sie nicht sah, um Opuntiengruppen und gelb blühende Süße Akazien herum, auf einem Pfad, den sich ihr Urgroßvater ganz bestimmt einbildete, bis sie schließlich vor einem Seifenstrauch stehen blieben. Er griff in das Gestrüpp hinein und zog ein kleines Kaninchen heraus. Dessen Herzchen pochte heftig, und sie barg das Tier unter ihrer Bluse direkt an ihrer Haut.
»Sind da noch mehr?« Sie war schrecklich aufgeregt. Sie wollte sie alle haben.
»Die Übrigen lassen wir bei dem Muttertier«, sagte er. Sein Gesicht war braun, rissig und furchig wie ein trockenes Flussbett, und die Augen waren immer in Bewegung. Seine Hände rochen nach Pappelknospen, deren Saft nach Zucker und Zimt und einer Blume duftete, deren Namen sie nicht kannte; immer hielt er neben den Pappeln an, um den Saft der Knospen auf seine Finger zu reiben, eine Angewohnheit, die sie von ihm übernommen und beibehalten hatte. Noch heute machte sie an einem alten Baum halt und schabte mit dem Daumennagel den orangefarbenen Saft ab, damit sie ihn den Rest des Tages riechen und dabei an ihren Urgroßvater denken konnte. Gileadbalsam hieß dieser Saft, hatte ihr jemand erzählt, doch eigentlich brauchte er keinen Namen.
Sie hatte das Kaninchenbaby mit nach Hause genommen und ihm Milch gegeben, doch am nächsten Tag erwischten es die Hunde. Sie hätte zu dem Strauch zurückgehen und sich andere holen können, doch am Ende würden die Hunde sie alle erwischen, deshalb beschloss sie, die restlichen Kaninchen zu lassen, wo sie waren, eine sehr erwachsene und barmherzige Entscheidung, das wusste sie. Und doch musste sie immer wieder daran denken, wie sich das Fell des Kaninchenjungen an ihrem Bauch angefühlt hatte, eine beinahe flüssige Weichheit, und an die Hand des Colonels auf ihrer Schulter, der sich auf sie stützte.
Sie war ein kleines, mageres Mädchen mit hellem Haar und Stupsnase und einer Haut, die in der Sonne braun wurde. Trotzdem stellte sie sich vor, dass sie später als Erwachsene dunkles Haar, eine blasse Haut und eine lange, gerade Nase wie ihre Mutter haben würde. Ihr Vater schüttelte darüber nur den Kopf. »So hat deine Mutter überhaupt nicht ausgesehen«, sagte er. »Sie war ein Flachsschopf, so wie du.« Doch in ihrer Fantasie sah Jeannie sie nicht so. Ihre Mutter war jung gestorben, mit sechsundzwanzig, bei Jeannies Geburt. Es gab nur eine Handvoll Fotos, keins davon eine Porträtaufnahme oder besonders scharf, dafür gab es jede Menge Bilder von den Pferden ihres Vaters. Doch auf den Fotos von ihrer Mutter sahen deren Haare tatsächlich dunkel und lang aus, und ihre Nase war gerade, und als Jeannie darüber nachdachte, befand sie, dass ihr Vater schlicht unrecht hatte, dass er kein Auge für Weiberkram hatte, Kühe und Stuten einmal ausgenommen. Sie wusste, hätte sie ihre Mutter jemals gesehen, wären ihr tausend Dinge aufgefallen, die ihrem Vater entgangen waren.
Stattdessen fiel ihrem Vater auf, wenn eine alte Kuh beim Roundup im Gestrüpp vergessen worden war oder wenn eine andere Kuh im zweiten Jahr hintereinander nicht trächtig war, oder wenn ein neuer Mann, angeblich ein erfahrener Cowboy, seine Würfe verfehlte oder nicht mit der nötigen Begeisterung ins Gestrüpp ritt. Ihr Vater kriegte mit, wenn ein Ladino-Bulle, der frei lebte wie ein alter Hirsch, sich mit seinen Fährsen paarte, was die Mexikaner über Regen sagten, wie fleißig seine Söhne arbeiteten, und ob sie, Jeannie, den anderen im Weg war. Obwohl ihre Großmutter es ihr auszureden versuchte, ritt Jeannie jeden Morgen mit ihren Brüdern aus, außer an Schultagen. Beim Viehtrieb ritt sie hinter der Herde her, auch wenn sie wusste, dass sie nur Statistin war. Für ihren Vater zählte sie nicht, und während ihre Brüder die Kälber mit dem Lasso einfingen und von den tumbadores lernten, wie man die Tiere auf die Seite warf, und sich von den marcadores abschauten, wie man das Brandeisen setzte, durfte sie nur den Eimer mit Kalkpaste tragen, die auf die frischen Brandstellen getupft wurde. Manchmal half sie auch bei der Zubereitung von Kalbshoden, die sie aus einem überlaufenden Wassereimer schöpfte und auf ein Kohlenbett legte, das speziell zu diesem Zweck angelegt wurde. Sie schmeckten süßlich und waren so zart, dass sie fast auf der Zunge zergingen, und Jeannie aß ganze Hände voll davon, ohne die spitzen Bemerkungen ihrer Brüder zu beachten, die sich über ihre Vorliebe für diese besondere Delikatesse lustig machten. Sie verstand ohnehin nur halb, was sie damit meinten.
Kalbshoden waren das eine – aber sobald sie auch nur in der Nähe der tumbadores stand, hatte sie sofort ihren Vater am Hals. Sie hatte es sich trotzdem beigebracht. Mit zwölf Jahren konnte sie ein Kalb so gut packen und zu Boden werfen wie ihre Brüder, sie konnte alles an den Vorderfüßen greifen, was sich bewegte, doch das half nichts. Ihr Vater wollte nicht, dass sie mit den Männern arbeitete, und ihre Großmutter fand es peinlich. Wäre der Colonel noch am Leben gewesen, hätte er sie unterstützt; er hatte in ihr immer gesehen, was kein anderer sah: ihren unerschütterlichen Glauben an sich selbst, ihre Gewissheit, dass sie etwas meistern konnte, wenn sie es sich in den Kopf setzte. Wenn der Colonel ihr also erzählte – was er des Öfteren tat –, eines Tages würde sie etwas Wichtiges erreichen, beachtete sie das kaum. Es war, als hätte er erwähnt, dass das Gras grün war oder ihre Augen ihn an ein Reh erinnerten. Oder dass er sie für ein hübsches Mädchen hielt, wenn auch ein wenig zu klein, und dass Männer wie Frauen später einmal gleichermaßen Gefallen an ihr fänden.
Und auch wenn die Viehtriebe das Langweiligste auf der Welt waren – ein langsamer, mühsamer Ritt hinter einer endlosen staubigen Reihe von Rindern her, Jeannie schnippte mit dem Lasso Richtung Hufe der Tiere, die im denkbar langsamsten Tempo zur Verladestation der Eisenbahn trotteten –, nahm sie an jedem Roundup teil, wenn es irgend ging. Trotz des Durstes und der Hitze der Brandfeuer – gebrändet wurde vorzugsweise im August, wenn es selbst für die Schmeißfliegen zu heiß war – kam sie mit, warf Kälber auf die Seite, wenn ihr Vater gerade nicht aufpasste, die Hände voller Tiersabber, und nahm das Brandeisen selbst in die Hand, wenn der marcador sie ließ. Leichter Druck, wenn das Eisen heiß war, starker Druck, während es bereits abkühlte; Fehler erlaubte sie sich keine. Die Vaqueros fanden sie amüsant. Sie wussten, was Jeannie vorhatte, und auch wenn sie ihre eigenen Töchter nie zu einem Brandfeuer mitgenommen hätten, überließen sie gern Jeannie das Feld, damit sie sich im Schatten ausruhen konnten. Solange sie keine Fehler machte. Also machte sie keine.
Es hatte eine Zeit gegeben, als so etwas nicht ungewöhnlich war, eine Zeit, als die Wohlhabenden noch Vorbilder waren. Als man höhere Maßstäbe an sich setzte, ein für andere beispielhaftes Leben führte. Als man sein Erbe nicht vor der Kamera zur Schau stellte; als man das Scheinwerferlicht nur annahm, wenn man etwas geleistet hatte. Doch diese Verpflichtung gab es nicht mehr. Die Reichen waren genauso auf Aufmerksamkeit aus wie jedes Küchenmädchen.
Vielleicht war sie ja auch nicht anders. Sie hatte einen Historiker beauftragt, die Geschichte der Ranch aufzuschreiben, eine Familiengeschichte, doch in zehn Jahren hatte er nichts weiter zuwege gebracht, als sämtliche Briefe, Quittungen und Zettel aufzulisten, die der Colonel je berührt hatte, sie in seinen kleinen Computer zu scannen und nach Austin zu fahren, um sich dort Microfiches anzusehen. Er war, wie sie merkte, schlicht unfähig, das versprochene Buch zu schreiben. »Man kann daraus jede Story machen, die man will«, sagte er ihr. »Nun, dann suchen Sie sich die beste aus«, wies sie ihn an. »Das wäre gelogen«, antwortete er.
Er war ein pummeliges Männlein, das einen zur Weißglut brachte, außerdem verstand sie nicht, wie sie je auf die Idee gekommen war, das Ganze müsse etwas Geheimnisvolles haben. Sie hatte kurzerhand ihr Scheckheft gezückt, und die Spendensammler hatten die Witterung aufgenommen, ein Scheck hier, eine freundliche Erwähnung da, noch ein Scheck hier, noch eine freundliche Erwähnung; des Colonels Name hatte sich ausgebreitet...
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