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Furia folgte dem Hauptweg und hörte kaum ihre eigenen Schritte auf dem Steinboden. Die Bücher schluckten die meisten Laute. Ihr Herz schlug schneller. Sie war aufgeregt, das war sie immer, wenn sie die Bibliothek betrat. Dennoch weigerte sie sich, Angst zu haben. Meist hatte sie damit Erfolg.
Etwas huschte neben ihr über ein Regal, aber als sie hinsah, war es fort.
Sie ging weiter, bog auf dem Hauptweg um eine Ecke nach links und sah vor sich eine weitere Schlucht aus Büchern. Trotz aller Wegkehren und Ecken war es nicht schwer, auf Wackfords geliebtem Pfad zu bleiben - sie musste nur der Kette aus Glühbirnen folgen, die im Abstand von mehreren Yards die Dunkelheit der Gänge und Kammern erhellte.
Hinter den Regalen lagen unsichtbar die alten Grabnischen, aus denen angeblich alle Überreste entfernt worden waren. Doch was hatten die Toten von der Schändung ihrer Gräber gehalten, als die ersten Faerfax hier ihre Bibliothek eingerichtet hatten? Und wer wusste schon, wie es in den lichtlosen Seitengängen aussah, hinter all den Büchern, Büchern, Büchern?
Als Kind war Furia ihrem Vater einmal tief zwischen die Regale gefolgt, durch dämmrige Papiergewölbe und Grotten aus Buchrücken, bis sie ihn hinter einer Ecke aus den Augen verloren hatte. Als sie ihn endlich eingeholt und er sich umgedreht hatte, da war er nicht mehr ihr Vater gewesen - sondern ein Alptraum ihres Vaters. Den echten hatte sie erst nach einer Stunde wiedergefunden. Möglicherweise wanderte die Erscheinung noch heute zwischen den Regalen umher.
Die Korridore waren so eng, dass Furia selbst auf dem Hauptweg oft seitlich gehen musste, weil sie sonst mit den Schultern zwischen den prallgefüllten Regalen stecken geblieben wäre. Der Buchduft sättigte die trockene Luft, und wenn ein unerwarteter Windstoß durch die Gänge fuhr, trug er nur die Gerüche der Folianten heran und manchmal ferne Stimmen, die vielleicht einzig in ihrer Phantasie existierten.
Noch mehr Ecken und Kreuzungen, gelegentlich eine gewölbte Kaverne. Überall Regale, überall Papier, das meiste in Leder und Leinen gebunden. Milliarden und Abermilliarden Worte aus der ganzen Welt.
Das Buch, das Furia in die Bibliothek geführt hatte, trug einen langen Titel, nicht ungewöhnlich für das Jahr 1820, in dem es einst erschienen war: Fantastico Fantasticelli, der Herr des herbstlichen Halblichts. Der Autor war unter dem Namen Siebenstern bekannt, das Pseudonym eines ihrer deutschen Vorfahren. Er hatte mehrere Dutzend Bücher geschrieben, vor allem die damals so beliebten Räuberromane, und später noch einiges mehr. Der Fantastico war sein Erstling gewesen. Heute mochte das Buch vergessen sein, aber zu seiner Zeit hatten die Leser die Abenteuer des italienischen Räuberhauptmanns mit dem farbenfrohen Namen verschlungen.
Der Roman war das Lieblingsbuch ihrer Mutter gewesen. Sie hatte oft daraus vorgelesen, als Furia klein gewesen war. Cassandra Faerfax war bei Pips Geburt gestorben. Furia kämpfte Tag für Tag darum, ihr lächelndes Gesicht nicht zu vergessen. Wenn sie den Fantastico las, sah sie ihre Mutter vor sich, mit langem blonden Haar wie sie selbst, schmaler Nase und hoher Stirn, mit denselben grünen Augen und langen Fingern, die grazil die Seiten des Romans umblätterten. Furia sah sie am Bett eines kleinen Mädchens sitzen, das sie mit ihrer ruhigen Stimme in die Schluchten der italienischen Seealpen entführte, in die Welt des Räubers Fantasticelli und seiner Bande aus fröhlichen Taugenichtsen.
Eine Weile lang hatte Furia nach ähnlichen Büchern gesucht, alten und neuen, aber keines kam an den Fantastico heran. Siebensterns andere Romane waren oft nur ein Aufguss der gleichen Geschichte. Wenn es ein guter war, dann war er bunt und abenteuerlich und führte einen in fremde Zeiten; war es ein schlechter, haftete ihm etwas Schwermütiges und Auswegloses an. Und wirklich gut war nur der Fantastico gewesen, fand Furia.
Sie hatte das Buch vor ihrem Vater in Sicherheit gebracht, der in seiner rasenden Trauer viele Erinnerungsstücke an seine tote Frau verbrannt hatte. Wahrscheinlich, weil sein Kopf voller Erinnerungen war, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließen. Mit den Jahren war die Suche nach dem Fantastico für ihn zu einer fixen Idee geworden. Er ahnte, dass Furia das Buch hatte verschwinden lassen. Und sie wusste, dass er heimlich noch immer nach ihm Ausschau hielt - als wäre dies der letzte Schritt, um seine Frau endlich ziehen lassen zu können.
Furia würde nicht zulassen, dass er das Buch zerstörte, so wie die Kleider ihrer Mutter und all die anderen Dinge, an denen sie gehangen hatte. Furia war ihm deshalb lange böse gewesen, aber mittlerweile verstand sie ihn besser. Auch zehn Jahre nach Cassandras Tod hatte Tiberius Faerfax noch immer nicht gelernt, mit der Tragödie umzugehen. Er war kein Mann, der Gefühle offen zeigte, und er sprach fast nie über seine Frau. Einzig über seine Erlebnisse im Krieg in den Nachtrefugien bewahrte er noch größeres Stillschweigen.
Wieder regte sich etwas in den Regalen, diesmal links von ihr. Sie blieb stehen und wandte langsam den Kopf.
Zwei winzige Origami-Vögel kauerten oben auf den Büchern, beide schon ein wenig vergilbt. Sie waren kunstvoll gefaltete Wunderwerke aus Papier. Der eine fraß gerade den Staub von einem Gedichtband, der andere schien Furias Blick zu erwidern. Dabei besaß er wie alle Origamis keine Augen, nicht mal ein Gesicht, abgesehen von der langen Schnabelspitze.
»Hey, ihr«, sagte Furia.
Das eine Tier fraß in Ruhe weiter. Das andere machte einen gestelzten Schritt an die Kante des Buchrückens, schlug einmal mit den eckigen Flügeln und legte den Kopf schräg. Es schien Furia zu mustern, als könnte es sie wirklich sehen, aber wahrscheinlicher war, dass es ihre Witterung aufgenommen hatte.
»Lasst euch nicht stören«, sagte Furia und ging weiter.
Bald darauf begegnete sie einem ganzen Schwarm, mindestens zwanzig von ihnen, die mit ihren Papierschnäbeln die grauen Staubflusen von den Büchern pickten. Sie waren Parasiten, die sich unkontrolliert vermehrten. Furias Vorfahren hatten sie gezüchtet, um das Einstauben der Bücher einzudämmen, eine Aufgabe, die sie vorbildlich erledigten. Sie hüpften und krabbelten durch die Regale wie bizarre Insekten, und selten begegnete man mehr als einer Handvoll auf einmal. Deshalb war der Schwarm, der sich gerade über die Gesamtausgabe eines portugiesischen Romanciers hermachte, ein ungewöhnlicher Anblick. Furia tat ihn mit einem Schulterzucken ab und lief weiter. Solange die Origamis nicht auf den Geschmack von Papier kamen, störten sie niemanden. Zum Glück entsprach Kannibalismus nicht ihrer Natur.
Sie sah noch einige mehr, ungewöhnlich viele von ihnen, ehe sie endlich die Kreuzung erreichte, an der sie nach links abbiegen musste. Genaugenommen: vom Pfad abweichen. Sie hatte den Fantastico in einem der dunklen Seitengänge versteckt, jenseits der elektrischen Verkabelung, neben einem schwedischen Buch über das Stanzen frühindustrieller Zahnräder. Sie vertraute darauf, dass ihr Vater in naher Zukunft kein Interesse am Maschinenbau in den Häfen des Bottnischen Meerbusens entwickeln würde.
Nach einigen Schritten schaltete sie Wackfords Stablampe ein. Raschelnd huschten einige Origamis durch den Lichtkegel. Furia leuchtete ihnen stirnrunzelnd hinterher und fragte sich, ob es in den Tiefen der Bibliothek wohl eine Plage der kleinen Kreaturen gäbe, deren Ausläufer sogar in den vorderen Bereichen zu spüren waren.
Sie musste zweimal abbiegen, ehe sie endlich das Fach mit dem Fantastico erreichte. Erleichtert sah sie, dass das Buch noch an seinem Platz stand. Sie legte die Lampe eingeschaltet ins Regal und zog den Roman hervor. Der feste Einband war braun angelaufen, die Bindung locker. Außen gab es keine Abbildung, nur den Titel in verblasster Schrift. Darunter stand: Die Aventüren des valoroso Capitano Fantasticelli aus den Annalen der ligurischen Historia. Sobald Furia diesen Untertitel las, hörte sie in Gedanken die Stimme ihrer Mutter, und ein warmer Schauder überlief sie.
Ihre beiden Vornamen stammten aus diesem Buch. Furia war eine trickreiche Diebin, die Fantasticelli mehr als einmal die Beute abluchste, Salamandra eine zauberkundige Waldfrau mit Warzen im Gesicht.
Auch ihr Bruder Pip war nach einer literarischen Figur benannt, dem Helden von Charles Dickens' Große Erwartungen. Dickens war der Lieblingsautor ihres Vaters, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Tiberius einst in leidenschaftlichen Diskussionen darauf bestanden hatte, zumindest seinen Stammhalter nach einem Dickenshelden zu benennen, da seine Tochter den Namen eines warzigen Wurzelweibes trug.
Furia schlug das Buch auf, las den Anfang, und erneut war es wie Liebe auf den ersten Blick. Es begann mit einer Sturmnacht, einem Lagerfeuer, einer Geschichte in der Geschichte. Ehe Furia sich versah, hatte sie sich festgelesen, blätterte zur zweiten und zur dritten Seite -
Und hörte ein Knistern.
Erschrocken ließ sie den Roman sinken, wollte nach der Stablampe greifen und stieß sie dabei versehentlich vom Regal. Als die Lampe auf den Boden prallte, spritzten dort Hunderte schwarze Punkte auseinander, wimmelnd und wuselnd wie Flöhe.
Buchstaben.
In Windeseile formierten sie sich zu einem langen Band, das von einem Regal zum anderen reichte und sich in beiden Richtungen fortsetzte, bis es sich in den Schatten verlor. Vokale und Konsonanten, dazwischen Umlaute mit Pünktchen, die wie Stielaugen an haarfeinen Fühlern...
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