Schweitzer Fachinformationen
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Kleinlützel
Sommer, Hitze, und die Welt dreht sich wirbelnd im Kreis. Der Rock fliegt und Martina könnte ewig tanzen. Jules, Jules, Jules dreht sie herum, lacht sein Schelmengelächter, macht ein Spitzbubengesicht, kichert, prustet, hebt sie in die Luft, lässt sie zurück auf den moosigen Boden der Lichtung gleiten und greift nach dem Wein. Martina füllt ihre Lungen mit den Gerüchen von Erde, Rinde und Schweiß. Sie krallt ihre Hände in Jules' Locken, er packt und reißt sie an sich. Martina greift seinen Nacken, küsst, küsst, küsst, bis sie beide die Balance verlieren und ins Gras fallen, küsst weiter, gluckst, prustet, rollt über und unter Jules. Ihr Herz pocht frenetisch, die Lippen, die Hände, die Körper, der Sommer, die Lichtung und die Welt wirbeln rasend im Kreis.
Von Frühling war keine Spur. Es war Ende März, und Martina kämpfte sich schwer schnaufend die Schlucht nach Kleinlützel hoch. Links von ihr strudelte die Lützel talwärts, rechts hing das Eis von den Felsen. Martina presste die Lippen zusammen, verschluckte ein Fluchwort und zerrte ihren Koffer voran. Ihre Hände waren klamm, und der Schnee hatte einen Weg in ihre Schuhe gefunden. Vorwärts! Sie gelangte über eine Kuppe, der Wald endete, die Landschaft weitete sich. Martina blieb stehen und atmete durch. Vor ihr lag eine Senke, an deren Ende sich die Häuser eines kleinen Dorfs aneinanderdrängten. Unmittelbar dahinter erhob sich eine Felswand, ragte wuchtig und drohend über den Dächern auf.
Sie kam an einer lottrigen Mühle vorbei, dann erreichte sie die ersten Häuser. Ein Miststock dampfte, Schweine suchten im Matsch nach Essbarem und eine schäbig gekleidete Alte fütterte Gänse. Martina grüßte und verstand die Antwort nicht. Sie suchte den Weg durch die Gassen und gelangte zur Kirche. Das Pfarrhaus stand gleich daneben, das obere Stockwerk beschädigt und das Dach eingedrückt von der Schneelast. Verdutzt blieb sie stehen und blickte auf das ramponierte Gebäude, als die Tür aufflog und ihr ein junger Mann in wehendem, schwarzem Priesterrock entgegenstürmte. «Martina!»
«Schön, dass du hier bist!», strahlte Gabriel und ergriff ihre Hände. Dann nahm er ihren Koffer und bat seine Schwester ins Haus. Gabriel war selbst erst vor wenigen Wochen angekommen, hatte seine erste Pfarrstelle angetreten und seinen Eltern einen langen und etwas gar feierlichen Brief geschrieben. Darin hatte er erwähnt, dass er nun jemanden brauche, der ihm den Haushalt führe; ob denn nicht eine der Schwestern die Stelle übernehmen wolle. Kurz darauf hatte Martina ihre Sachen gepackt, war vom Hügelland über dem Bodensee nach Ravensburg hinuntergestiegen und mit dem Zug nach Konstanz, Basel und anderntags nach Laufen gefahren. Sie hatte sich das schmale Seitental nach Kleinlützel hochgemüht und dort kauerte sie nun im lädierten Pfarrhaus vor dem Herd und blies in die Glut.
Wie es denn ums Haus stehe, wollte sie wissen, als sie sich wieder aufrichtete. Gabriel machte eine wegwerfende Handbewegung. «Das wird schon wieder.» Er erkundigte sich nach der Reise, nach den Eltern und Geschwistern und führte Martina durchs Haus. Der untere Stock war unversehrt, oben räumten gerade ein paar Handwerker kaputte Balken weg. Von einem der Fenster aus zeigte er ihr das Dorf. Hier die Kirche, der Krämer, die Post. Da die zwei Wirtshäuser, dort der Weg ins Tal und in der anderen Richtung jener zur Grenze, wo in einigen Kilometern Entfernung das Elsass begann - seit wenigen Wochen deutsches Gebiet. Gabriel drehte sich zu ihr um: «Herzlich willkommen im Dorf.»
Martina war froh, die Reise geschafft zu haben. Sie brachte ihr Gepäck in ihr Zimmer, setzte sich einen Moment auf die Rosshaarmatratze und sah sich um. Es gab viel zu tun. Sie zog trockene Strümpfe und einen zweiten Pullover an, verstaute ihre Sachen und ging nochmals durchs Haus. In der Speisekammer fand sie Kartoffeln, Zwiebeln und etwas Speck. Die Sonne fiel bereits tief durch die Fenster. Sie nahm einige Holzscheite und steckte sie in den Herd.
Martina heizte viel, und doch blieb es frostig. Das Pfarrhaus war zugig und schlecht isoliert, aber noch beißender war die Kälte im Dorf. Sie verstand die Leute auch nach Wochen noch schlecht, kam mit niemandem richtig in Kontakt und fühlte sich verlassen und deplatziert.
«Ausgerechnet einen deutschen Pfarrer mussten sie uns schicken», hörte sie eine Frau am Dorfbrunnen schimpfen. «Nicht genug damit, dass die sich das Elsass unter den Nagel gerissen haben, jetzt schwäbelt auch noch einer von der Kanzel.»
«Die Kanzel ist mir egal, aber wegen diesen Preußen kann ich mit meinem Käse nicht mehr nach Belfort zum Markt», mischte sich eine Bäuerin ein. «Der François, der war als Zöllner flexibel, und Franc und Franken waren sich gleich. Jetzt sitzt da irgend so ein Hans, tut übertrieben wichtig, und was die Mark wert sein soll, ist jeden Tag etwas anderes.»
«Und das alles, wo das Dorf sowieso vor die Hunde geht», beschwerte sich eine Dritte. «Vorletzten Winter noch saßen unsere Männer daheim, drechselten Holzkugeln und machten einen anständigen Lohn. Jetzt verwenden die Basler Textilfabriken billige Kartonrollen und unsere Männer vertreiben sich die Zeit bei den Wirten.»
Auch Gabriel merkte, dass im Dorf getratscht wurde. Nur nahm er das Gerede nicht persönlich. Mit Anfangsschwierigkeiten hatte er gerechnet, außerdem fand er bald einen guten Draht zum Posthalter, zum -Wirt, zum Schattloch-Bauern und zu vielen anderen, die froh waren, dass endlich mal wieder einer sagte, was recht und was Sünde war. Der Pfarrer hatte auch gar keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen. Er besuchte Kranke, besprach sich mit Ratsuchenden, feierte Messen, leitete die Sonntagsschule und den Kirchenchor und gehörte im Dorf bald dazu. Charismatisch, kantig und bei manchen umstritten - aber genauso ein fester Teil der Gemeinschaft wie der Lehrer, der Metzger oder die Gemeinderäte.
Martina hingegen blieb im Pfarrhaus und putzte. Ständig war sie mit Besen, Lappen und Schrubber beschäftigt und ständig konnte sie wieder von vorn anfangen. Auf die Maurer folgten die Zimmerleute, dann die Dachdecker, Schreiner und Gipser: einer staubiger als der Nächste. Sie bekam keine Luft, der Schnee schmolz, aber die Schwermut blieb. Sie fühlte sich unter der Kleinlützler Felswand fremd, allein und erdrückt.
Ein Glück, dass es dann eines Tages klopfte.
«Wenn der Familienname so kompliziert ist», schmunzelte der junge Mann, «dann bin ich eben der Jules.» An hatte sich Martina gerade verschluckt, hingegen bekam sie gerade noch hin und so bat sie den Mann mit den wilden Locken, dem Schalk in den Augen und dem Farbtopf in der Hand herein.
Nach den Reparaturarbeiten hatte das Haus dringend Farbe nötig und der verschmitzt lächelnde Maler erwies sich als sehr viel angenehmere Gesellschaft als die grobschlächtigen Maurer und Zimmerleute der letzten Wochen. Jene hatten die Ruine zur Baustelle gemacht, Jules machte aus der Baustelle ein Haus. Raum für Raum tünchte er die Wände, Stück für Stück machte er die Zimmer bewohnbar.
«Gut, dass die Arbeiten bald vorbei sind», bemerkte Martina bei einer gemeinsamen Pause: «Es ist doch immer schön, wenn man etwas zu einem Ende bringen kann.»
«Aber Mademoiselle», gab Jules zurück, «auch ein Anfang kann seinen Zauber haben.»
Sie verstanden sich - und das wörtlich. Denn der Maler hatte zwar einen französischen Namen und einen
aus dem Jura, seine Mama hingegen kam aus dem Schwarzwald, und so konnte Jules Martina nur schon sprachlich ein gutes Stück entgegenkommen. Der Mann aus Basel hatte etwas verspielt Leichtes, bisweilen aber auch etwas Unbändiges und Temperamentvolles. Überdies hatte er einen gesunden Appetit. Genüsslich verschlang er die Krautwickel, Spätzle und anderen süddeutschen Gerichte, die ihm Martina servierte. Die wiederum war vier Jahre älter, bodenständiger, praktischer und ruhiger, und das gefiel Jules. Es gab also gute Gründe, weshalb es zwischen den beiden knisterte. Und außerdem waren da auch noch Jules' Charme, die Leichtigkeit des Frühlings, der Duft der Wälder und der Wein.
Die Malerarbeiten im Pfarrhaus nahmen überraschend viel Zeit in Anspruch. Dann fand Jules auch in der Kirche noch etliche Stellen, die dringend etwas Farbe benötigten. Und schließlich erledigte er allerhand weitere Arbeiten im Dorf. Es war Sommer geworden, und nach dem klirrenden Winter tänzelte das Leben nun umso unbeschwerter vor sich hin. Jules und Martina sahen sich so oft sie konnten, ohne dass es auffiel. Sie verabredeten sich meist irgendwo außerhalb des Dorfs, erkundeten die Gegend oder spazierten durch den Wald. Dort stießen sie auf eine Lichtung, wo nie jemand hinkam. Die Spechte klopften, die Amseln...
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