Schweitzer Fachinformationen
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London, 1965
Ein Türglöckchen läutete, als Anna den unscheinbaren Laden betrat. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Nieselregen aus dem Gesicht und strich sich eine nasse Strähne hinters Ohr.
Keine Auslage, kein Schaufenster, dafür ein Schild in psychedelischen Farben. Darunter eine schmale, dunkle Tür in einer schmalen, dunklen Gasse in Soho. Jemand hatte ein Plakat daraufgeklebt, das für den Ausverkauf einer Boutique warb. Das Datum lag eine Woche zurück, das wellige Papier wölbte sich ihr in der feuchten Luft entgegen.
Sie behielt die Klinke in der Hand, während sie sich umsah und zwischen Kisten und Regalen einen jungen Mann mit langem, rotem Haar entdeckte. Er ignorierte das Glöckchen und untersuchte mit skeptischem Blick die Nadel eines Plattenspielers.
»Hi«, sagte sie. »Bin ich hier richtig bei Pete?«
Er sah kurz zu ihr auf. »Ich bin Pete.« Routiniert setzte er hinzu: »Bring nichts mit rein als Liebe.«
Er verschwand hinter einem schmalen Tresen und tauchte mit einer Schallplatte wieder auf, deren Cover schon bessere Tage gesehen hatte. So wie der Rest des Ladens. Die Regale hatten sich unter Last und Feuchtigkeit verzogen, dahinter schälte sich die Tapete von der Wand. In den Fugen zwischen den Fliesen sammelten sich Dreck und Staub.
»Wegen Liebe bin ich nicht hier«, sagte Anna, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Augenblicklich versank der Raum in schummrigem Zwielicht.
»Was auch immer dein Ding ist.« Pete zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder dem alten Plattenspieler neben seiner Kasse. Sein rotes Haar reichte ihm fast bis zur Hüfte, und sein Gesicht war so sommersprossig, dass es im Halbdunkel braun gebrannt wirkte. Er trug eine zweireihige Kette mit Holzperlen und ein Hemd, von dessen Muster Anna schwindelig wurde. Wie seine übrige Kleidung war es drei Nummern zu groß für seine schmale Statur.
Sein winziger Laden lag abseits der Carnaby Street. Es war keiner, vor dem sich die Beatles fotografieren ließen, aber jemand hatte Anna erzählt, Keith und Mick kämen manchmal her. Beim Blick durch Rauchschwaden in das Chaos aus Kartons mit gebrauchten Schallplatten, Regalen mit Buddha-Nepp und Posterrollen fiel es ihr schwer, sich die beiden hier vorzustellen. Sicher hatten sie nicht nach Musik gesucht.
Ihr Blick glitt über die fleckige Plattenhülle in Petes Hand, ohne zu erkennen, worum es sich handelte. Als wabernde Klänge aus dem Lautsprecher drangen, wandte sie sich ab und betrachtete die Regale mit Duftkerzen und Fläschchen ätherischer Öle. Früher hätte sie sofort die Platten im nächstbesten Karton durchstöbert, heute ließ sie es bleiben. Über ihrem Kopf drehte sich träge ein Traumfänger.
»Das sind 'ne Menge Platten. Und hier riecht's gut.«
»Räucherstäbchen«, sagte Pete mit Unschuldsmiene.
»Klar.« Anna drehte sich um. Die Federn des Traumfängers streiften sanft ihr Haar. »Aber die bekomme ich auch anderswo.«
Die Langeweile auf Petes Gesicht wandelte sich zu geschäftsmäßigem Interesse. Er löste sich von seinem Plattenspieler, legte die Unterarme auf dem Tresen ab und lehnte sich vor. »Was genau suchst du denn?«
»Man hat mir gesagt, du vermittelst Trips . Ich meine, Trips nach Süden.«
»Ich vermittele dir jede Reise, die du brauchst.« Er legte den Kopf schräg und zählte Orte auf, als blätterte er in einem Reisekatalog. »Indien? Marokko? Bisschen näher, Ibiza, vielleicht?«
»Nach Rom.« Anna hatte überlegt, wie es sich anfühlen würde, es auszusprechen. Ob es wie das Ablegen einer Last wäre oder wie eine folgenschwere Unterschrift. Sie war eher enttäuscht als überrascht, dass sie gar nichts dabei fühlte.
»Rom .« Nachdenklich knetete er sein Kinn. Sein Blick schien sich in der Drehung des Traumfängers zu verlieren. Das Schweigen zog sich.
Als Anna gerade etwas sagen wollte, schnipste er mit den Fingern und nahm einen vergilbten Notizblock unter dem Tresen hervor. »Schreib mir deinen Namen auf. Ich kenn wen, der dich bis zur italienischen Grenze mitnehmen kann. Er kutschiert mit seinem Bus 'n paar Leute nach Kathmandu. Die können dich irgendwo hinter den Alpen absetzen, den Rest schaffst du per Anhalter. Das sind nette Jungs und Mädchen. Alle voller Liebe.«
»Okay.« Sie griff zum Bleistift und schrieb. »Wie auch immer.«
Pete drehte den Block zu sich herum und runzelte die Stirn. Als er ihren Nachnamen vorlas, sprach er ihn englisch aus. Natürlich. So wie die meisten.
»Anna Savarese«, korrigierte sie ihn. »Ist Italienisch.«
»Ich mach das für dich klar. Sonntag früh, sechs Uhr, geht's los. Macht ein Pfund für die Vermittlung. Den Rest musst du mit dem Fahrer klären.« Er musterte sie. »Spielst du 'n Instrument? Manchmal wird's dann billiger.«
»Ich mach Fotos. Hilft das?«
»Nee, eher nicht.« Er riss das Blatt mit ihrem Namen vom Block und ließ es unter dem Tresen verschwinden, bevor er nach dem Stift griff. Anna sah zu, wie er eine Adresse aufschrieb. »Hier, das ist der Treffpunkt. Bring Wasser mit. Und was dich sonst noch glücklich macht.«
Anna konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zuletzt etwas glücklich gemacht hatte. Das, was sie in Rom suchte, würde daran vielleicht nichts ändern. Im Gegenteil: Das Risiko, alles nur noch schlimmer zu machen, fühlte sich gewaltig an. Die Aussicht auf Antworten, auf Genugtuung, auf Rache sogar - im Augenblick war das nichts als eine diffuse Hoffnung. Aber, immerhin, zum ersten Mal seit einem Jahr fühlte sie überhaupt etwas, das den Namen Hoffnung verdiente.
Sie zwang sich zu einem Gesichtsausdruck, der für Pete vielleicht als flüchtiges Lächeln durchging. Als sie ihm das Pfundstück in die Hand legte, senkte er die Stimme, obwohl niemand sonst im Laden war.
»Falls du Proviant für die Reise brauchst, das gibt's hier auch. Nur vom Allerbesten.« Sachte klopfte er zweimal mit der flachen Hand auf den Tresen.
Für einen Augenblick klang Petes Angebot verlockend. Nach einer Pause von dem Albtraum, den sie jetzt lebte. Nach ein paar Stunden Unbeschwertheit. Doch dann schaltete sich ihre Vernunft ein. Sie würde sich in den nächsten Wochen keine Aussetzer leisten können - dafür stand zu viel auf dem Spiel. Auch ohne Drogen kam es ihr vor, als lägen die vergangenen Monate hinter einem Schleier aus Trauer und Panik und schierem Entsetzen.
Als Pete sie erwartungsvoll ansah, schüttelte sie den Kopf.
Er zuckte abermals die Achseln, bevor er hinter dem Tresen hervortrat und einen der unzähligen Kartons aufklappte.
Ohne Petes farbenfrohe Gestalt hinter der Kasse fiel Annas Blick ungehindert auf die Rückwand des Ladens, auf den schweren, roten Samtvorhang und das handgeschriebene Schild daneben.
Madame Shivani. Handlesen, Kartenlegen und -
»Mystische Ölungen?«, fragte sie amüsiert.
Pete schreckte von seinem Karton hoch, als hätte er sich am Papier geschnitten. »Das ist nichts für dich.«
»Wie gut ist sie?«
Er richtete sich auf, presste die Lippen zusammen und schien einen Moment lang zu überlegen, ob er antworten wollte. »Angeblich gut in manchen Dingen«, sagte er widerwillig. »Nicht so gut im Wahrsagen.«
Annas Blick glitt vom Schild zurück auf den Vorhang. »Ich will zu ihr.«
Pete schüttelte seufzend den Kopf und machte Anstalten, weiter Posterrollen ins Regal zu stapeln. Sein langes Haar rutschte ihm ins Gesicht, und er strich es sich über die Schulter. »Ich sag doch, das ist nix für dich.« Als sie den Vorhang zur Seite schlug, wurde seine Stimme schriller. »Hey!«
Aber Anna ging bereits die enge, knarrende Treppe hinauf. Sie streckte die Hände nach beiden Seiten aus und berührte speckige Tapete. Im schwachen Licht konnte sie am oberen Absatz die Umrisse einer Tür erkennen.
»Warte! Du kannst da nicht einfach hochgehen!« Hinter ihr polterte nun auch Pete die Stufen herauf.
Mit knirschenden Angeln schwang über Anna die Tür auf.
»Pete, lass sie raufkommen.« Die Frau im Rahmen sprach mit ebenjener rauen Stimme, die ein Blick in ihr Gesicht erwarten ließ. Obwohl sie vermutlich um die vierzig war, hatte sie die Tränensäcke einer Greisin.
Pete hob ergeben die Arme. »Wie du meinst. Sei nett zu ihr.« Er drehte sich um und ging die Treppe wieder hinunter. Bevor er den Vorhang erreichte, wandte er sich noch einmal an Anna. »Denk dran, Sonntag, sechs Uhr. Die warten auf niemanden.«
»Alles klar.« Sie stieg die letzten Stufen hinauf.
Madame Shivani trug einen langen Morgenmantel mit asiatischen Schriftzeichen. Ihr blond gefärbtes Haar hatte einen dunklen Ansatz so breit wie Annas Oberschenkel, und ihre Füße steckten in plüschigen Pantoffeln.
Anna ahnte, dass dies hier keine gute Idee war, aber in ihr regte sich etwas, das sie die letzten Stufen hinauftrieb. Keine Neugier. Vielleicht die Suche nach einem Funken Gewissheit.
»Ich bin -«
»Anna Savarese.« Madame Shivani zeigte ein geheimnisvolles Lächeln. »Ich hab dich in meiner Kristallkugel gesehen.«
»Ja, klar.«
Madame Shivanis Mundwinkel zuckten. »Die Decken sind dünn. Hab deinen Namen gehört. Komm rein.«
Anna gab sich einen Ruck und trat an ihr vorbei in einen stickigen Raum. Die dunklen Vorhänge waren zugezogen. Durch die Dielen konnte sie dumpf die Musik von unten hören.
Am Pfosten eines großen Metallbetts hing ein Gewirr aus Lederriemen. Außerdem waren da ein breiter Sessel, ein Waschbecken mit tropfendem Hahn und ein kleiner, runder Tisch. Es roch nach billigem Parfüm, Kernseife und dem Zeug, das Pete unter der Ladentheke verkaufte.
»Was kann ich für...
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