Schweitzer Fachinformationen
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Am Vormittag kam Jennet zum Haus.
«Meine Schwester blutet immer noch. Sie fiebert, sie ruft nach ihrem Kind. Und wenn nicht, dann weint sie stundenlang. Ich habe alles versucht, was mir einfiel, Martha. Nichts hat geholfen. Würdest du sie dir ansehen? Ich kann nichts mehr für sie tun.»
Nicht jetzt. Sie deutete auf den bleichen Himmel, an dem die Sonne emporstieg. Ich werde nachher vorbeikommen.
«Nachher wird sie tot sein.» Jennets Augen suchten die von Martha, schauten sie an und durch sie hindurch. «Und das wäre ein weiteres verlorenes Leben aus unserem Hause, ein Neugeborenes und seine Mutter in nur einer Woche. Noch eine Last auf deinem Gewissen, Martha.»
Ich kann noch nicht kommen. Mit einer Geste deutete sie Agnes' dicken Bauch an.
«Agnes' Kind? Was ist damit?»
Es ist groß.
«Was ist verkehrt daran?»
Sie schüttelte den Kopf. Nichts. Sie tippte sich an die Augen. Aber ich kann die Herrin nicht allein lassen. Ich muss hierbleiben und aufpassen.
«Wenn es nur darum geht, das kann ich auch. Ich bleibe und schaue nach deiner Herrin. Du gehst und siehst nach, was meine Schwester plagt. Dann kommst du zurück und sagst mir, was sie braucht.» In Jennets Gesicht war zu lesen, dass ihr ein Gedanke gekommen war, dass sie Schuld gegen Schuld aufrechnete. «Ich glaube schon, dass du das für mich tun kannst, Martha. Nach allem, was passiert ist. Nach dem, was ich für dich getan habe. Nach dem, was ich nicht getan habe.»
Sie klopfte an die Tür der Archers und ging hinein, ohne innezuhalten. Das Haus war viel kleiner als das von Kit, und die Einrichtung - abgenutzte Möbel, ein zertrampelter Hanfteppich, die dünne Matratze, auf der Marion lag - sah schäbig und ausgelaugt aus. Der Küchentisch war voll mit benutztem Geschirr, Bergen von Wäsche und einer Aalfalle. Tom stand am Kamin und beugte sich über seine Gattin, die auf einem Rollbett vor dem Feuer lag und kaum wach schien. Auf dem Herd lagen noch Reste des blutgetränkten Strohlagers, auf dem sie niedergekommen war, und warteten darauf, verbrannt zu werden.
Wie geht es ihr?
«Schlecht», sagte Tom. Mit gequältem Blick schaute er Marion an, dann Martha. «Ich muss arbeiten. Habe eine Kuh mit Blähsucht. Aber ich traue mich nicht, sie allein zu lassen.» Er blickte an ihr vorbei. «Wo ist Jennet?»
Bei mir daheim.
Er nickte. «Ich bitte dich, Martha, tu dein Bestes. Gott hat uns unseren Sohn genommen, das ist Kummer genug. Ich kann nicht auch noch Marion verlieren. Das . kann ich einfach nicht.»
Sie ging zum Bett. Als sie die Decke anhob, schlug ihr sofort ein verdorbener, falscher Geruch entgegen. Auch dieses Lager war dahin, mit Blut besudelt. Marion musste sehr krank sein. Martha kniete nieder und schob den Kittel der Patientin hoch. Aus Gewohnheit rieb sie sich die Hände, um sie zu wärmen, bevor sie sie auf Marions Bauch legte. Behutsam drückte und suchte Martha. Marion schrie, völlig heiser - der Schrei einer Motte. Sie schwitzte und sah furchtbar aus, ihre Augen standen nun offen, aber sie waren nach oben gerichtet und starrten etwas an, das nur sie sehen konnte. Martha ergriff Marions Hand und drehte die Handfläche nach oben. Sie wünschte, sie hätte Mutters Gabe - die hatte in die Zukunft sehen können; sie hatte irgendeine Hand nehmen und darin lesen können, ob derjenige heiraten, wie viele Kinder er haben, wie lange er leben würde. Jetzt schaute sie sich die Handfläche der Frau auf ihrem Lager an - die Linien waren lang, aber ausgefranst; die Lebenslinie selbst war unterbrochen. Der Tod würde kommen, sie spürte ihn schon, hörte ihn in Marions schwerem Atem, fühlte ihn im zu schnell pochenden Puls der Frau.
Sie hielt die Hand weiterhin fest, schloss die Augen und atmete aus und ein. Nach einigen Augenblicken hatte Martha in sich Platz geschaffen, in ihrem Inneren einen Raum geöffnet. Dann begann sie zu rufen. Mutter war weit fort, sehr weit fort. Sie spürte, wie sie sich selbst auflöste, weniger und weniger wurde. Sie rief weiter. Gedanken kamen - wie lange hatte Marion noch, wie lange musste sie hier sitzen? Sie schob sie fort. Ihre Hand, die Marions Hand hielt, verkrampfte sich und kribbelte. Ruf weiter. Atme weiter. Das Kribbeln verstärkte sich noch. Mutter kam zu ihr, nach und nach, wie ein sanfter Dunst. Mit einem Mal wurde Marthas Geist von Wissen erhellt, das in ihr aufstieg und angewendet werden wollte. In Marions Schoß steckten noch die Eihäute des Kindes und die Nachgeburt, sie mussten für die Entzündung sorgen. Das Bild der Mutter verblasste und wurde durch ein anderes ersetzt. Notwendige Pflanzen tauchten auf, jede erstrahlte in ihrem eigenen, sonderbaren Licht. Eisenkraut. Raute. Beifuß: Davon gab es jede Menge in den Hecken rund um Kits Wiese.
Danke, Mutter! Danke, Gott! Nun konnte sie ein Leben retten und dabei selbst Erlösung finden. Das war das Geschenk, das dieser Tag ihr gewährte.
Sie führte Marions Hand an ihre Lippen und küsste sie. Sie sah die Rillen in der Haut unterhalb ihres kleinen Fingers: zwei schwache Linien, das hieß, zwei mögliche Kinder. Sie steckte die Hand unter die Decke zurück, zog diese über Marion und stand auf. Tom sah sie erwartungsvoll an. Sie ging zu ihm und versuchte, ihn zu beruhigen, aber ihre Hände scheuten sich, zu sprechen. Wie zeigte man «retten», wie «Seele» oder «Tod»? Dafür hatte sie keine Gesten.
Sie kannte jeden Fußbreit des Feldes, jede Erhebung und jede Senke. Beifuß wuchs in den Hecken und auf dem Brachland an den Scours im Überfluss. Sie würde Jennet etwas davon bringen und ihr sagen, sie solle einen Brei daraus kochen und dann einen Umschlag machen, den man auf Marions Bauch binden solle. Der Brei würde das kranke Fleisch wie auch das Fieber austreiben.
Die Wiese war leer, bis auf die Kühe. Die Kuh mit der Pansenblähung war in der hintersten, schattigen Ecke angepflockt und schrie ohne Unterlass. An Kits Haus führte ein schmaler Feldweg entlang, von dem weitere Wege abzweigten, hinüber zur Schlucht. Martha erreichte das obere Ende des Feldes, wo das Kraut in großen Büscheln wuchs. Es war beinahe Mittag oder kurz danach. Vom Meer her wehte eine leichte Brise, doch sie reichte nicht zur Linderung. Die Sonne brannte. Martha arbeitete schnell und schnitt einen Arm voll Beifuß ab.
Auf dem Rückweg stellten sich ihr drei Männer und ein Hund in den Weg. Die Sonne blendete, sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Der kleinste von ihnen sprach. «War die ganze Nacht beim Kerker», sagte Herry. «Habe Wache gehalten. Über die Hexen, auch über deine Freundin Prissy. Gestern wurden noch zwei gebracht. Habe gehört, heute sollen wieder welche kommen. Alle möglichen. Junge, alte.» Er hob die Augenbrauen. «Wer hätte das gedacht, Martha? Dass wir in unserem kleinen Nest im Nirgendwo so viele Hexen haben? Aber so ist Cleftwater halt: voller Überraschungen. Zwei Kirchen, zwei Wirtshäuser und mehr Hexen, als in den Kerker passen. Deshalb ist Ralph den ganzen Weg von Sandgrave herübergekommen: Er hilft, sie zu bewachen - so viele sind es.»
Die Sonne brannte auf ihrer Kopfhaut.
«Heißer Tag, was, Martha? Ich sage dir, im großen Saal ist es noch heißer. Die haben da nämlich die Feuerstelle angeheizt. Damit die Frauen ins Schwitzen kommen. Sie holen eine nach der anderen aus dem Kerker und bringen sie zum Hexenjäger. Er redet mit ihnen, stellt ihnen Fragen, stundenlang. Was sie getrieben haben. Welche Teufel in ihnen wohnen. Was für Hexereien sie begangen haben. Er ist gründlich und sehr geduldig. Er lässt sich von niemandem beirren. Von den Hexen schon gar nicht, auch wenn sie weinen und betteln und so tun, als wüssten sie nicht, wovon er redet. So ging's auch deiner Prissy, als sie zu ihm gebracht wurde. Hatte Flecken im Gesicht und weinte. Vor allem, nachdem dein...
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