Schweitzer Fachinformationen
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»Das ist ziemlich dumm gelaufen, was?«, sagte mein Opa, und mir war nicht klar, welches der beiden Ereignisse er damit meinte. »Mach dir nichts draus! So was passiert halt, also gewöhn dich schon mal daran, dass man sich nie sicher sein darf.«
Natürlich machte ich mir was draus. Und mein Großvater wusste das.
Wir waren in einem großen Käfig. Christian und ich konnten so eben über die Betonmauer schauen. Direkt auf der Mauer begann der hohe, grobmaschige Zaun. Wir hielten uns mit beiden Händen am Metall fest, zogen uns ein bisschen am Zaun hoch, wie Klimmzüge. Niemand verbot uns das. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir ein Stück daran hochklettern können. Aber nicht drüber, das war bestimmt verboten. Es wäre auch schwierig gewesen, weil der Metallzaun oben einen Knick nach innen machte, in unsere Richtung. Das letzte Stück müsste man also nach hinten gelehnt klettern. Christian würde das sicher nicht schaffen. Ich vielleicht schon. Aber warum hätte ich da drüberklettern wollen? Die Polizisten auf der anderen Seite hätten einen bestimmt erwischt und dann vielleicht bestraft. Außerdem hatten wir von hier aus ja einen guten Blick. Gar nicht so weit entfernt sahen wir auf den kurzgeschnittenen Rasen. Rechts und links von uns standen viele Leute, meistens andere Jungs, die sich wie wir mit beiden Händen am Metallzaun festhielten. Ich konnte nicht genau erkennen, wie weit die Mauer in beide Richtungen weiterging. Zu viele Leute. Ich schätzte, wir standen ungefähr in der Mitte des Blocks. Manche standen mit dem Rücken zum Zaun. Auch ich drehte mich um, blickte hoch zu meinem Vater und Großvater und in Richtung des Eisengittertors, durch das die Aufseher, oder wie die hießen, uns durchgewiesen hatten. Jetzt war das Tor bestimmt geschlossen. Jedenfalls passte hier keiner mehr rein, so viel war sicher. Auf dem Weg, der zum eisernen Eingangstor führte, waren einige Männer ein paar Meter zur Seite getreten und hatten gegen den Zaun seitlich des Zugangsweges gepinkelt. Dann erst gingen sie durch das Eisentor. Gab es hier drin keine Toiletten? Bestimmt gab es Toiletten, bei so vielen Menschen. Wenn ich jetzt hätte pinkeln müssen, hätte ich es sicher nicht bis nach oben zum Eingangstor geschafft, wo die Männer ihre Hosenschlitze öffneten. Bis ich mich durch die Menschenmenge gezwängt hätte, wäre es sicher zu spät gewesen. Aber ich musste nicht, zum Glück. Ich blickte meinen Großvater an. Er nickte mir aufmunternd zu, als wolle er sagen: Wird schon gutgehen. Aber ich sah ihm an, dass auch er nervös war und selbst nicht so recht daran glaubte. Er und mein Vater und auch der Opa von Christian standen gar nicht weit weg von uns, trotzdem konnten wir uns nichts zurufen. Es war einfach zu laut. Die Männer machten einen Mordskrach. Ich fand den Krach noch beengender als das Gedränge.
Ich erinnere mich, dass ich damals dachte: Sie sollten nicht so viele Leute in einen Block stecken. Ich verstand aber auch, dass sie uns alle irgendwie unterkriegen mussten. Die anderen Blöcke waren genauso voll wie unserer. Block A. A1, um genau zu sein. Das ist der Block zwischen der Nordkurve und der Haupttribüne. Auch die Sitzplatztribünen, in Block H und M, waren wie Käfige, die Zäune genauso hoch wie bei uns im A-Block. Nur gemütlichere Käfige eben. Die hatten bestimmt Toiletten. Vielleicht hatten wir auch welche, nur hatten die Männer keine Lust, sich bis dahin durchzudrängeln. Oder sie hatten schon so viel Bier getrunken, dass es schnell gehen musste.
In allen Käfigen gab es Essen und Trinken. Wie bei den Tieren im Neunkircher Zoo. Die waren auch zwischen langen, hohen Zäunen eingepfercht, und in der Mitte der Käfige, in Trögen, lag etwas zum Fressen und es gab Wasser in ausgemusterten Badewannen.
Vielleicht würde ich nachher auch etwas trinken. In der Halbzeit. Eine Limo. Und eine Bratwurst, vielleicht. Mein Opa hatte mir 5 Mark gegeben. Die konnte ich mir aber auch aufheben und sie am Montag aufs Sparbuch bringen. Der Montag nach diesem Wochenende war nämlich der 31. Oktober und da war Weltspartag, und wenn man dann Geld aufs Sparbuch brachte, bekam man von der Sparkasse noch ein Geschenk dazu. Das wäre fein. Aber Limo und Bratwurst in der Halbzeit wären auch fein. Wenn ich jedoch darauf verzichtete, wie viel mehr wären dann die 5 Mark, wenn ich groß bin, oder so alt wie mein Opa? 100 Mark, oder 1000, wer weiß? Und was wären später 100 Mark im Vergleich zu einer Limo und einer Bratwurst jetzt? Dann könnte auch ich, irgendwann einmal, meinem Enkel 5 Mark geben. Mein Opa hatte genug Geld. Er hatte 30 Jahre unter Tage gearbeitet und bekam eine gute Rente von der Knappschaft. Blöd wäre natürlich, wenn wir verlieren und ich außerdem nicht einmal eine Stadionwurst verdrückt hätte. Das wäre ein ganz schlechter Tag. Ich entschied: Wenn wir zur Halbzeit führen, brauche ich keine Limo und Wurst, dann genügt mir das Ergebnis. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass wir zur Halbzeit führten. Das Spiel davor hatten wir 5:1 verloren, gegen Köln. Ich hatte es mit meinem Opa und dem Opa von Christian in der Sportschau gesehen. Aber das war ein Auswärtsspiel gewesen. Jetzt im Ludwigspark feuerten alle unsere Mannschaft an. Allerdings war der Gegner Schalke. Mit Bongartz, Abramczik, Rüssmann und Fischer und allem Drum und Dran. Trotzdem, ich blieb dabei: Liegen wir zur Halbzeit vorn, bringe ich die 5 Mark aufs Sparbuch, wenn nicht, gibt's Limo und Bratwurst zum Trost. Wenn ich richtig gerechnet hatte, blieb sogar noch Geld für eine weitere Limo oder Cola übrig. Christian mochte Cola. Vielleicht sollte ich ihm dann eine Cola spendieren? Er würde sich bestimmt freuen. Sein Opa hatte ihm keine 5 Mark mitgegeben. Ich fasste in meine Hosentasche, fühlte das runde Silberstück, den Heiermann, wie mein Vater Fünfmarkstücke nannte. Ich konnte sogar die Schrift auf dem Rand fühlen: Einigkeit und Recht und Freiheit. Das konnte ich natürlich nicht Buchstabe für Buchstabe fühlen, aber ich wusste ja, was da stand.
Christian war längst nicht so aufgeregt wie ich. Er war schon zweimal im Ludwigspark gewesen. Ich hatte den FCS in verschiedenen Stadien im Saarland gesehen, in den Jahren davor, aber das hier war mein erstes Bundesliga-Spiel und mein erstes Mal im Ludwigspark.
Christian ist mein Freund, dachte ich damals. Was wusste ich schon. Ich dachte, Freund ist man für immer und das dauert von jetzt bis alle Zeit und in Ewigkeit.
Ein Verleger, der es gut mit mir meinte, hatte mir einmal geraten: »Fang ein Buch nie mit einer Fußballszene an!«
»Wieso denn nicht?«
»Na, weil sonst die Frauen das Buch nicht weiterlesen.«
»Ja und? Ist das schlecht?«
»Und ob das schlecht ist!«
»Wieso, dann ist man ab dem zweiten Kapitel mit den Jungs schön unter sich und kann für den Rest des Buches prima die Sau rauslassen«, entgegnete ich, halb im Scherz.
»Vergiss es! Männer lesen nicht, oder sagen wir: kaum.«
Das Spiel begann mit einem Mordslärm. Die Leute um uns herum brüllten wild durcheinander und schimpften über den Schiri. Gesungen wurde damals noch nicht. Das haben wir erst später in den 80ern gelernt, von den Liverpoolern und den anderen Engländern. Damals im Ludwigspark haben die Leute nur gebrüllt. Bei dem Spiel gegen Schalke habe ich ein paar nützliche neue Schimpfwörter gelernt. Plötzlich war da nur noch Lärm, ohne dass ich einzelne Worte verstand: Luggi Denz hatte das 1:0 geschossen. Christian und ich umarmten uns und hüpften auf und ab. Der Tor-Schrei klang wie eine Erleichterung, ungläubig, wie: Das gibt's doch nicht! Aber schon wenige Minuten später wich die Zuversicht wieder. Zumindest bei mir. Nur eins zu null, und erst 20 Minuten vorbei. Ich fühlte nach meiner Silbermünze. Vielleicht war sie ja ein Glücksbringer? Ich drehte den Heiermann zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger immer im Kreis herum. Wenn das 1:0 doch wenigstens bis zur Pause hielt. Dann gab's eben keine Limo und Cola für mich und Christian. Aber ich traute der Sache nicht. Bis das zweite Tor fiel. Fernschuss Niko Semlitsch. Der war damals mein Lieblingsspieler, vielleicht weil er nicht wie ein Held aussah und trotzdem immer ordentlich spielte.
Ich musste mir die Ohren zuhalten. Der komplette A-Block und auch die Nordkurve und sogar die Haupttribüne brüllten: »Hi-ha-ho, Schalke ist k.o.«. Auch die Gegentribüne und der D- und E- und F-Block stimmten ein. So laut, dass ich mir sicher war, dass es bis zur Bahnhofstraße und zum Sankt Johanner Markt zu hören war. Oder sogar bis Primstal? Nein, so weit konnten nicht einmal 30.000 Fußballfans brüllen.
Ich brüllte hi-ha-ho mit, ohne mich selbst hören zu können. Christian neben mir machte die gleiche Mundbewegung. Sicherheitshalber drehte ich mich um, schaute zu meinem Großvater. Er lachte, sagte etwas zu meinem Vater. Und er sah zuversichtlich aus. Sein na-also-geht-doch-Blick. Das hieß schon was. Mein Großvater war ein Pessimist, ein Dauerzweifler, wie meine Oma sagte. Beruhigt drehte ich das 5-Mark-Stück in meiner Hosentasche zwischen den Fingern. Die Chancen standen gut, dass die Münze nicht im Ludwigspark blieb, sondern wieder zurück nach Primstal kam, um dort auf unserer Sparkasse zu einem Vermögen zu werden.
Die Silbermünze in meiner Hosentasche begann sich schneller zu drehen. Meine Finger wurden nervöser. Alle Köpfe reckten sich in Richtung unseres Tores. Leute brüllten: »Nein!« Auch Christian. Ein großer Junge, der links von mir stand, regte sich so auf, dass er mit dem Ellenbogen gegen mich stieß. Ich dachte, ich falle. Riss die Hand aus der Hosentasche. Stützte mich an der...
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