Schweitzer Fachinformationen
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auf Patmos
1945
Im Mittagslicht waren die Häuser so weiß wie frisch geschöpftes Papier. Der gleißende Sonnenschein übertünchte die Einschusslöcher in den Wänden. Oben auf dem Berg stand das Kloster, hinter hundert Biegungen und Ecken, jenseits der argwöhnischen Blicke, die Felix durch die Spalten der Fensterläden trafen. Das Kloster - und darin die Bibliothek der Apokalypsen.
Felix wusste nicht, ob die Kerben in den Fassaden erst kurz vor der Kapitulation der Wehrmacht entstanden waren oder ob es hier während der zweijährigen Besatzung immer wieder Kämpfe gegeben hatte. Er hätte den britischen Offizier danach fragen können, der ihn durch das Gassenlabyrinth hinauf zum Johanneskloster führte, aber von Gesprächen mit Soldaten bekam er schlechte Laune. Lange würde es sich trotzdem nicht mehr vermeiden lassen.
Vor zwei Tagen hatten die Deutschen hier auf Patmos ihre Waffen niedergelegt und sich den Briten ergeben. Hitler war seit fünf Wochen tot. Während am anderen Ende Europas längst fremde Mächte auf den Trümmern des Tausendjährigen Reichs tanzten, verteidigten in der Ägäis deutsche Inselkommandanten ihre Felsen, als hinge von ein paar Ziegen die Reinheit der arischen Rasse ab.
»Wussten Sie«, fragte der Offizier, »dass hier auf Patmos die Bibel geschrieben wurde?«
»Nicht die ganze.« Felix lächelte in sich hinein. »Nur die Offenbarung des Johannes. Das ist das Stück ganz hinten, das keiner liest, aber von dem alle glauben, sie wüssten, was drinsteht. Die Apokalypse.«
Der Soldat nickte. »Das Tier mit den sieben Köpfen steigt aus dem Meer. Und irgendwer bläst dazu auf sieben Trompeten.«
»Ja, so ungefähr.«
»Ich schätze, als wir aus dem Meer kamen, hatten die Kerle hier auch Trompeten in den Ohren«, sagte der Soldat, die letzten Wörter auf Deutsch.
Tomaten auf den Ohren, dachte Felix entnervt. Es heißt Tomaten, nicht Trompeten. Und genau genommen waren die Engländer übers Meer gekommen, nicht daraus hervor. Aber er war zu müde, um den Soldaten zu verbessern, der wahrscheinlich nur witzig sein wollte und es nicht persönlich meinte. Und falls er in Felix noch immer einen Deutschen sah, ließ sich das ohne längere Erklärungen ohnehin nicht ändern.
Mit Vorurteilen hatte er gerechnet, erst recht von den Briten. Während des gesamten Fluges nach Griechenland, selbst noch auf den letzten Kilometern im Wasserflugzeug, hatte er gemischte Gefühle bei diesem Auftrag gehabt. Große Aufregung, aber auch Vorbehalte. Erst allmählich wurde ihm bewusst, wie dankbar er dem Verrückten dort oben in der Bibliothek sein musste. Dem Verrückten mit der Panzerfaust. Jenem Mann, der darauf bestanden hatte, einzig mit Felix zu sprechen, Auge in Auge.
Nun, mit jemandem wie Felix. Irgendwem, der Deutsch sprach und sich mit Büchern auskannte. Felix war kein Deutscher mehr, seit er Mitte der Dreißiger die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Aber er beherrschte die Sprache, und er wusste eine Menge über Bücher. Dahingehend war er der naheliegende Kandidat für diese Mission.
Ob er verhindern konnte, dass der Mann die Klosterbibliothek mit seiner Panzerfaust in Schutt und Asche legte, war eine andere Frage. Viele der Bücher waren uralt, vor allem die unbezahlbaren Ausgaben der Johannesapokalypse. Manche stammten aus dem Mittelalter, andere waren noch älter, antike Codices und Schriftrollen, und niemand wollte sie brennen sehen, nur weil sich ein Unverbesserlicher in der Bibliothek verbarrikadiert hatte und seine Niederlage nicht akzeptieren konnte.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, worüber er mit Ihnen reden will?« Dem Soldaten machte der Aufstieg durch die steilen Gassen nichts aus, während Felix längst schwer atmete.
»Nicht die geringste.«
»Die haben Sie doch nicht extra aus den Staaten hergebracht, oder?«
»Ich bin schon seit zwei Wochen in Deutschland«, sagte Felix. »Auf Schloss Hungen. Sagt Ihnen wahrscheinlich nichts.«
»Nie davon gehört.«
»Die Nazis haben dort zwei Millionen Raubbücher eingelagert, die meisten aus Wien und Prag. Sie hatten Experten für die Plünderung von Nationalbibliotheken, und die haben die Bücher in Lkw-Konvois nach Deutschland gebracht. Irgendwann waren es so viele, dass keiner mehr wusste, wohin damit, also landeten sie auf Schloss Hungen. Wir von der PCB sind vor zwei Wochen dorthin geschickt worden, um uns einen ersten Überblick zu verschaffen.«
Die Miene des Offiziers verriet, dass er nicht nachvollziehen konnte, warum sich jemand angesichts von Millionen Toten Gedanken über gestohlene Bücher machte. Felix verstand ihn. Aber irgendwer musste damit beginnen, hinter den Nazis aufzuräumen, und besser jetzt, da die endgültige Aufteilung Deutschlands noch nicht vollzogen war, als in ein paar Wochen, wenn neue Grenzen existierten, die man nicht mehr ohne Weiteres überqueren konnte.
Auf Schloss Hungen gab es genug zu tun für den kleinen Trupp vom Publication Control Branch, man brauchte dort jeden Mann. Dass man Felix dennoch auf diesen Abstecher in die Ägäis geschickt hatte, bedeutete, dass hier einiges auf dem Spiel stand, womöglich mehr als nur die obskure Bibliothek einiger Mönche. Oder aber es wollte nur keiner die Schuld daran tragen, dass einer der Geburtsorte christlicher Kultur in Flammen aufging.
»Es ist fantastisch hier, nicht wahr?«, sagte der Engländer, als zwischen zwei Häusern das Mittelmeer aufleuchtete. »Haben Sie gesehen, wie blau die See ist? Und dann diese Inseln. Ich kann mir kein schöneres Schlachtfeld vorstellen. Die Griechinnen sind auch nicht ohne. Und dankbar für ihre Befreiung.«
»Wir laufen jetzt seit einer Viertelstunde durch diese Gassen und ich habe außer Ihnen noch keinen Menschen gesehen.«
»Die meisten bleiben in ihren Häusern. Sie haben die Nase voll von fremden Uniformen. Man sieht mehr Katzen als Menschen, es wimmelt nur so von den Biestern. Wissen Sie, warum man hier alles so eng und verwinkelt gebaut hat?«
Felix schüttelte den Kopf.
»Wegen der türkischen Piraten. Sie sollten sich in den Gassen verlaufen, wenn sie mal wieder vorbeikamen, um das Kloster zu plündern.«
Plünderer sind wir doch alle, dachte Felix. Man hatte ihn und die anderen Bibliothekare schließlich nicht nach Deutschland geschickt, um den Nazis die Bücher abzustauben. In Wahrheit ging es darum, die besten Stücke in die Staaten zu verschiffen, ehe sich die Österreicher und Tschechen um die Reste balgen durften.
Hier auf Patmos war wenig von den Spannungen zu spüren, die anderswo in Europa zwischen den Siegermächten herrschten. Für die Rückeroberung der Ägäis von den Deutschen waren vor allem britische Kommandos zuständig, die eine Insel nach der anderen unter ihre Kontrolle brachten. Waren die Kämpfe erst einmal beendet, schärfte sich auch wieder der Blick für die natürliche Schönheit der Umgebung. Hier auf Patmos waren keine Bomben abgeworfen worden, hatten keine Feuerstürme die Bewohner ausgelöscht. Abgesehen von den Einschusslöchern erinnerte kaum etwas an den Krieg. Bald würden sich die Menschen wieder aus ihren weißen, zweistöckigen Häusern wagen, die Narben in den Fassaden verspachteln und zu ihrem alten Leben zurückkehren.
Viele Gassen waren mit polierten Bruchsteinplatten gepflastert. Die Enge tat ein Übriges, dass Felix sich kaum wie im Freien fühlte. Vielmehr schien es, als wären die Wege nur weitere Zimmer der Häuser, über denen sich ein endloser Himmel spannte statt einer Balkendecke. Die Luft roch blumig und nach salzigem Seewind. Von den Rändern der Flachdächer ergossen sich Blütenkaskaden, neben manchen Türen standen Feigenbäume in Töpfen. Zweifellos hatte es während der Besatzung durch die Deutschen Erschießungen und Folter gegeben, doch nicht einmal sie hatten die mediterrane Gelassenheit dieses Ortes für immer vergiften können.
»Wie merken Sie sich den Weg?«, fragte Felix. »Sie sind doch auch erst zwei Tage hier. Für mich sieht ein Haus wie das andere aus.«
»Die bunten Türen. Ich hab ein gutes Gedächtnis für Farben. Sehen Sie: erst blau, dann grün, dann wieder blau, die da ist rot . Das ist wie ein Morsecode, nur anders.«
»Morsecode.«
»Ja. Kurz - lang - lang - kurz. Hier dann blau - grün - blau - rot. Ist ein Kinderspiel, wenn man's einmal raushat.«
Felix hob beeindruckt eine Braue. »Und darauf achten Sie, während wir reden?«
Der Offizier lachte leise. »Ist nicht meine erste griechische Insel in diesem Krieg.« Er deutete mit einem Nicken voraus. »Da vorn ist es.«
Oben auf dem Hügel öffneten sich die weißen Häuserreihen, und die Festungsmauern des Klosters wuchsen vor ihnen in den Himmel. Über den Zinnen ragten bogenförmige Glockentürme empor. Am Portal nahmen ein paar britische Soldaten Haltung an, als sie den Offizier entdeckten. Einer berichtete knapp, dass die Lage im Inneren unverändert sei. Der durchgedrehte Deutsche habe sich nach wie vor in der Bibliothek verschanzt, niemand komme an ihn heran. Die Mönche würden immer lauter über ihre kostbaren Bücher lamentieren und damit allen gehörig auf die Nerven gehen. Felix bekam mehr und mehr den Eindruck, dass er der einzige Ausländer auf der Insel war, der sich ernsthaft um die sagenumwobene Bibliothek sorgte....
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