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Ahrensburg
Als Marie das Telefonat mit dem Rechtsmedizinischen Institut beendet hatte, bestand Klarheit darüber, dass sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen hatte. Bei dem Toten handelte es sich um Robert Kuhn. Ein Abgleich der Fingerabdrücke durch das BKA hatte schnell das Ergebnis geliefert. Die genaue Todesursache schien offensichtlich, aber hatte sich Kuhn die Schädelfraktur vor seinem Sturz oder durch seinen Sturz zugezogen? Die Dame vom Institut hatte sich mehrfach für den Zeitverzug entschuldigt, krankheitsbedingte Ausfälle bei den Ärzten hätten zu einem Leichenstau geführt. Marie überlegte, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen Kuhns Gemütszustand und seinem Sprung in den Tod gab. Vielleicht hatte er private Sorgen oder Geldprobleme gehabt? Auch psychische Probleme konnten seinen wortwörtlichen Absturz herbeigeführt haben.
Die gestrige Nacht am Tatort war für Marie und ihre Kollegen lang geworden. Die Zeugenbefragungen hatten sich in die Länge gezogen, und auch die Spurensicherung hatte allerhand zu tun gehabt. Nun ging es darum, die Indizien auszuwerten. Nach dem, was sie vermuteten, hatte Robert Kuhn auf der Brücke gestanden, den Regionalzug Hamburg-Lübeck abgepasst und war dann in den Tod gesprungen. Einzig und allein die Möglichkeit, dass Kuhn dem Zugführer zugewunken hatte, schien nicht recht ins Bild zu passen.
Kein schöner Tod, stellte Marie fest. Diese Form des Freitods empfand sie als verwerflich, weil man auch allen unmittelbar beteiligten Personen schadete, obwohl sie nichts damit zu tun hatten. Sie dachte an den Zugführer, der bereits den zweiten Todesfall in kurzer Zeit hautnah miterlebt hatte.
Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten einen kleinen Erfolg für sich verzeichnet. Auf und unter der Brücke wurden neben einigen McDonald's-Papptüten und jeder Menge McDonald's-Verpackungen auch zahlreiche Papierblätter gefunden. Die meisten Blätter waren unbedruckt, einige zeigten den Aufdruck "Mein letzter Wille" ohne weiteren Inhalt. Was es damit auf sich hatte, wusste wohl nur Robert Kuhn, denn die Ausdrucke schienen zu ihm zu gehören. Fingerabdrücke zu nehmen war ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, zumal der Regen am Abend auch wieder eingesetzt und Spuren beseitigt hatte.
Der Leichnam von Robert Kuhn war noch an Ort und Stelle untersucht worden. Die äußeren Verletzungen waren im Detail begutachtet und protokolliert worden. Zu den inneren Verletzungen, der Schädelfraktur und ob Kuhn zum Zeitpunkt des Sprungs alkoholisiert gewesen war, gab es bislang keine gesicherten Erkenntnisse, aber in der Hosentasche des Toten war ein Notizzettel mit einer Handynummer gefunden worden. War dies ein Anhaltspunkt für die weiteren Ermittlungen? Sein Handy, oder vielmehr die Einzelteile, hatten sie verteilt im Gleisbett gefunden.
Der Journalist der Hanseatic Post war bei der Polizei durch seine regionale Tätigkeit nicht unbekannt. Seit mindestens drei Jahren schrieb er schon für den Regionalteil des Hanseaten. Marie kannte Robert Kuhn flüchtig, hatte ihn gelegentlich bei Pressekonferenzen und Stadtverordnetenversammlungen im Publikum gesehen und ordnete ihn aufgrund seiner sachlichen Berichterstattung eher dem gemäßigten Flügel der Zeitung zu.
In Gedanken an die bisher gewonnenen Erkenntnisse stand Marie am Kaffeeautomaten, hatte gerade die Caffè-Latte-Taste betätigt und wartete geduldig auf das schwarze Gold mit Milchhaube in ihrem Becher. Auch wenn sie den Kaffee ihres Lieblingsbaristas vom Caligo Café im Ahrensburger Stadtzentrum bevorzugte, konnte sie diesem doppelten Espresso mit Milch aus der Maschine einiges abgewinnen. Er machte wach und brachte ihren Kreislauf auf Betriebstemperatur. Sie gähnte dem Automaten entgegen, als wolle sie ihn motivieren, sein Bestes zu geben, und hoffte inständig, dass niemand sie beobachtet hatte. Die letzte Nacht war anstrengend gewesen. Sie hatte das Gefühl, dass sich auch ihre Kolleginnen und Kollegen, die sie gestern Abend auf den Bahngleisen tatkräftig unterstützt hatten, über einige Stunden mehr Schlaf gefreut hätten. Einzig und allein Michael Paulsen wirkte frisch und ausgeruht. Er hatte bei dem Einsatz gefehlt und war auch Stunden nach dem Vorfall nicht über sein privates Handy erreichbar gewesen. Wie Marie kurz vor der Sitzung erfahren hatte, hatte Michael am gestrigen Abend ein klassisches Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie besucht und am Ende der Veranstaltung vergessen, das Handy wieder einzuschalten.
Die Sitzung war für 10 Uhr angesetzt. Alle am Fall beteiligten Kollegen mussten auf den aktuellen Ermittlungsstand gebracht werden. Da Manfred Paschke an einer wichtigen Telefonkonferenz für seinen eigenen Chef teilnehmen musste, hatte er Marie gebeten, den Vorsitz und die Protokollierung der Sitzung zu übernehmen. Sie sollten gemeinsam die letzten Ergebnisse durchgehen und die Aufgaben für die nächsten Tage verteilen.
Als Marie den Sitzungsraum betrat, warteten dort bereits ihre Kollegen Christine Bülow, Tom Hansen und Michael Paulsen. Die Runde war damit vollständig, und sie konnten beginnen. Marie bemerkte, dass sich auch ihre Kollegen an dem Kaffeevollautomaten bedient hatten. Nur Michael Paulsen zog Tee vor, den er vornehmlich aus seinem eigenen Ahrensburg-Becher mit Schlossmotiv trank.
Kaum hatte Marie Platz genommen, ergriff er auch sogleich das Wort. "Marie, ich will dir nicht vorgreifen, aber haben wir irgendwelche Anhaltspunkte zum Motiv? Gibt es keine Zeugen, die den Mann beim Sprung gesehen haben? Nebenan ist doch gleich McDonald's, und meines Wissens hat das Fast-Food-Restaurant bis spät in die Nacht geöffnet."
Marie hatte damit gerechnet, dass Michael seine Fragen gleich zu Beginn der Sitzung stellen würde. Er hatte ein berechtigtes Interesse, zu erfahren, was sie bereits herausgefunden hatten. Sie bat ihn jedoch, sich mit den Fragen noch ein wenig zu gedulden, sie würde später darauf zu sprechen kommen.
Dann eröffnete sie offiziell die Sitzung. "Guten Morgen, liebe Kollegen!" Sie vermied unnötiges Gendern, das ihr allein schon beim Gedanken an die richtige Schreibweise rote Pusteln ins Gesicht zauberte.
Sie blickte in die Runde.
"Ich kann mir vorstellen, wie ihr euch fühlt. Auch ich hatte keine gute Nacht und konnte die Bilder nicht aus dem Kopf bekommen. Von der Rechtsmedizin steht noch das Obduktionsergebnis aus, wir stehen also wirklich noch am Anfang. Was wir aber sicher wissen, ist, dass es sich bei dem Toten um Robert Kuhn handelt. Er war Journalist beim Hanseaten. Vielleicht habt ihr mal den einen oder anderen Artikel von ihm gelesen." Marie nahm Kopfschütteln und Achselzucken bei den Kollegen wahr. "Wir haben gestern viele Zeugen vernommen, die meisten aus dem Zug, aber für mein Empfinden waren keine hilfreichen Hinweise dabei."
Sie schlug ihren Collegeblock auf und warf einen Blick auf die Stichpunkte, die sie sich vor der Besprechung notiert hatte.
"Wir müssen mehr über Kuhn wissen", begann sie. "Was war er für ein Typ? Was hatte er für Interessen und Gewohnheiten, wie ging es ihm vor seinem Tod, hatte er Krankheiten? Wir sollten herausfinden, an welchen Themen er gearbeitet hat. War er verheiratet, hatte er Kinder? Diese Fragen dürften schnell zu klären sein. Und dann bleibt noch deine Frage, Michael, zum Motiv. Könntest du dich einmal näher mit der Person Robert Kuhn beschäftigen?"
"Klar, kann ich machen." Michael Paulsen nickte Marie zu, machte sich einige Notizen und setzte dann die Ahrensburg-Tasse an den Mund.
Marie berichtete von den weißen Zetteln, die man, teilweise mit der Zeile "Mein letzter Wille" bedruckt, auf und unterhalb der Fußgängerbrücke gefunden hatte und die nun von der Kriminaltechnik untersucht wurden.
"Gibt es am U-Bahnhof Ahrensburg-West eigentlich Überwachungskameras?", wollte Christine wissen. "Ich meine, heutzutage ist doch nahezu jeder öffentliche Platz videoüberwacht. Wie steht es denn um die Kreuzung Hamburger Straße / Waldemar-Bonsels-Weg, also den Bereich, der zwischen dem Fast-Food-Restaurant und dem U-Bahnhof liegt? Oder dem Bahnhofsvorplatz?"
Marie strich diesen Punkt gedanklich von der Liste. "Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Guter Punkt, Christine. Überprüfe das bitte mal und nimm auch Kontakt zum Hamburger Verkehrsverbund auf. Wenn Kuhn mit der Bahn nach Ahrensburg gekommen ist, dann dürften die Kameras auf dem Bahnsteig das aufgezeichnet haben." Marie lugte auf ihre Checkliste. "Dann hätten wir noch die Telefonnummer, die wir bei Kuhn gefunden haben." Marie schaute zu Michael hinüber und erklärte: "Wir haben in Kuhns Hosentasche einen Notizzettel mit einer Handynummer gefunden. Über die Nummer lässt sich nur eine unbesprochene Mailbox erreichen. Wir sollten über den Handyprovider herausfinden, zu wem die Nummer gehört. Der Zettel ist im Labor zur Spurenauswertung, aber ich habe ein Foto vom Asservatenbeutel gemacht. Tom, ich würde dir gleich die Unterlagen per Mail zuschicken, okay?"
Tom Hansen quittierte diese Entscheidung mit einem gequälten Grinsen.
"Wenn es sein muss."
"Habt ihr noch Fragen, sonst würde ich die Sitzung beenden." Marie blickte in die Runde, als plötzlich Christines Arm nach oben schoss.
"Ja, habe ich. Sind die Angehörigen von Robert Kuhn schon informiert worden? Weiß die Öffentlichkeit schon Bescheid, und wie verhalten wir uns bei Presseanfragen? Das dürfte auch nicht ganz unwichtig für Michael sein, wenn er sich mit der Vita des Toten beschäftigt und mit dem Verlag telefoniert."
"Christine!"...
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