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Kapitel 2
Wurzeln einer namhaften Familie
Flucht vor der Roten Armee - und Neustart in Ostholstein
Auch für Dorothea Frantz, geborene von Goßler, von ihrer Familie Dosy genannt, endet das Jahr erschütternd. Flächendeckende Bombardements legen die Städte des noch bestehenden Deutschen Reichs in Schutt und Asche. Im Sommer war Hamburg durch die »Operation Gomorrha« der britischen und amerikanischen Luftwaffe im Bombenhagel und Feuersturm kollabiert. Während die Alliierten die Invasion der Normandie planen, befindet sich im Osten die Rote Armee im Anmarsch. Der Zusammenbruch Nazideutschlands steht unmittelbar bevor. Nicht nur Weihnachten ist anders als jemals zuvor.
Erstaunlich, dass der Postweg in dieser Ära kompletter Auflösung noch funktioniert. Selbst zum Schluss herrscht in der Verwaltung teutonische Ordnung. Auf dem Gut Schaetz der Familie Goßler im Kreis Guhrau in Schlesien ist ein versiegelter Briefumschlag eingetroffen. Kurz vor dem Jahreswechsel 1943/44 steht Dorothea von Goßler im Wohnzimmer des schlossähnlichen Herrenhauses. Das Gut befindet sich im Besitz ihrer Eltern. Schweigen. »Er ist gefallen«, habe ihre Mutter nach der Lektüre des staatlichen Kondolenzschreibens lediglich geflüstert, erinnert sich ihre Tochter Monika später. Gemeint ist ihr Ehemann Richard Frantz, Oberstaatsanwalt in Breslau. Gefallen an der Ostfront, irgendwo in der Nähe von Minsk, im heutigen Belarus. Genauer Ort, Umstände und Todestag? Unbekannt. Eine Grabstelle existiert nicht. Wahrscheinlich auf ausdrücklichen Befehl der Nationalsozialisten. Sie wollten den ihnen missliebigen Richard Frantz aus der Wahrnehmung tilgen.
Die Todesnachricht selbst, wurde später bekannt, traf bereits am Tag vor Heiligabend ein. Doch wurde sie ein paar Tage zurückgehalten, um der Familie und den Kindern noch ein halbwegs harmonisches Weihnachtsfest zu bescheren. »Das ist preußisch«, sagt Justus Frantz. Im Moment dieser Hiobsbotschaft ist Dosy Frantz schwanger. Im Frühjahr 1944 erwartet sie ihr fünftes Kind. Jetzt soll der Junge Justus heißen. Der Gerechte, aus dem Lateinischen übersetzt. Seinen Vater kennt Justus Frantz später nur vom Hörensagen. Ebenso wie die folgende Schreckenszeit mit Vertreibung und Flucht, mit Hunger, Ängsten - aber auch mit einem Fünkchen Hoffnung. Dass Justus Frantz eines glücklicheren Tages deutsche und internationale Musikgeschichte schreiben wird, kann in dieser dramatischen Kriegszeit keiner ahnen.
Beginnen wir bei den Wurzeln der Familienzweige Frantz und von Goßler. Bildung, (Klavier-)Musik und Sinn für Kultur gehörten hier wie dort zum guten Ton. Selbst in wirtschaftlich anstrengenden Zeiten war dabei nach Möglichkeit ein Flügel unabdingbar.
Justus' Urgroßvater Gustav Adolph Constantin Frantz kam 1817 zur Welt. Der Publizist, Mathematiker, Philosoph und Politiker war vielseitig begabt. Er wirkte als preußischer Diplomat und veröffentlichte 35 Werke, die heutzutage teilweise noch verlegt werden. Beispiele sind »Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft« oder ein Buch über »Die Wiederherstellung Deutschlands« aus dem Jahr 1865. Constantin Frantz galt zeitweise als Gegenspieler des zwei Jahre älteren Reichskanzlers Otto von Bismarck.
Sein Nachfahr Wilhelm Frantz wuchs in politisch interessierten, kulturell gepflegten und wirtschaftlich wohlsituierten Verhältnissen auf. In der Universitätsstadt Greifswald im Nordosten des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern lag seine Yacht vor Anker. Die Familienvilla befand sich in Nachbarschaft des Greifswalder Doms. Nachfahr Richard Frantz studierte zügig Rechtswissenschaft. Mit Station in Stettin zog er nach Breslau, die Großstadt im Westen Schlesiens. Dort stieg Richard Frantz zum angesehenen Oberstaatsanwalt auf. Sein nicht nur im Familienkreis unverhohlen geäußertes Misstrauen dem Nationalsozialismus gegenüber war bekannt. Zwar blieb der renommierte Jurist ob seines Amtes zuerst von starken Repressalien verschont. Dass seine Einberufung in die Wehrmacht sowie seine Versetzung an die Ostfront in diesem Zusammenhang stehen, ist nicht bekannt. Er hatte vier Kinder: Dorothea, Monika, Malte, Sibylle. Sein fünftes Kind, Justus, sollte der Vater nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Seine 1906 auf Gut Schaetz geborene Ehefrau Dorothea »Dosy« von Goßler hatte Richard Frantz in Stettin kennen- und lieben gelernt. Sie heirateten Anfang der 1930er-Jahre. Die namhafte, weitverzweigte Adelsdynastie, auch in Hamburg durch das Goßlerhaus in Goßlers Park in Blankenese bekannt, hat eine ebenso bemerkenswerte Historie aufzuweisen. Ein markantes Beispiel ist Dosys Vater Alfred von Goßler. Der Verwaltungsjurist, Gutsbesitzer und preußische Politiker wurde 1867 im Kreis Guhrau in der damaligen Provinz Niederschlesien geboren. Der Rechtswissenschaftler gehörte als Mitglied der Deutschkonservativen Partei ein Jahrzehnt dem Abgeordnetenhaus Preußens an. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte er als Rittmeister im Zieten-Husarenregiment. Der Kaiser ernannte ihn zu einer Art »Generalgouverneur« der drei baltischen Staaten. Auf dem Kamin zu Hause bei Justus Frantz dokumentiert ein altes Foto die damaligen Ereignisse. Auf dem Bild sind neben dem Kaiser und Alfred von Goßler drei Repräsentanten der baltischen Staaten zu sehen.
Foto: Justus Frantz privat
Alfred von Goßler (Mitte), der Großvater von Justus Frantz, mit Repräsentanten von Estland, Lettland und Litauen
Alfred von Goßler war Gutsherr auf dem eingangs erwähnten Hof Schaetz. Nach dem Tod seiner Mutter erbte er zudem das Gut Klein Kloden. Mit der mutigen Flucht Richtung Westen waren sämtliche Besitztümer verloren. Zwei Jahre vor Alfred von Goßlers Tod kam sein Enkel Justus Frantz zur Welt.
Und nach diesem Ausflug in die Vergangenheit zweier bekannter Familien kehren wir zurück in die chaotische Ära gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Deutsche Reich war dem totalen Zusammenbruch und der Kapitulation nahe. Da die Furcht vor der Roten Armee und deren Rache für Verbrechen unter dem Banner des Hakenkreuzes größer war als die Angst vor der Zerstörung im Westen des Deutschen Reichs, gab es nur einen Weg: die Flucht. Hals über Kopf, mit dem Nötigsten ausgestattet, machten sich Millionen auf eine strapaziöse, gefährliche Reise ins Ungewisse. Zur Erinnerung: Vor Kriegsende lebten mehr als 15 Millionen Deutsche im Osten Europas. Es war eine Völkerwanderung unvorstellbaren Ausmaßes. Viele kamen niemals an.
Justus Frantz hat die nachfolgenden Ereignisse erstaunlich präzise in seinem Gedächtnis gespeichert. In der Nachkriegszeit berichteten die Erwachsenen immer wieder von den ergreifenden Vorfällen dieser aufregenden Flucht. Da rückblickend das eine oder andere in der Erinnerung hin und her rutscht und da auch die Schilderungen in den einer Chronik ähnelnden Aufzeichnungen zu seinem 50. Geburtstag nicht in allen Punkten deckungsgleich sind, legt Justus Frantz Wert darauf, einen auf seinem Wissen basierenden Zeitplan niederzuschreiben. So soll es geschehen. Erinnerungen von Freunden und Verwandten folgen anschließend - um einen umfassenden Eindruck zu gewähren. Dass dabei die eine oder andere Beobachtung oder Erinnerung durcheinandergerät, ist auch den Turbulenzen der damaligen Zeit geschuldet. Sowohl in Schaetz wie in Hohensalza, den Wohnorten und Stützpunkten der Familien Frantz und von Goßler, wird dem immer größeren Chaos im Deutschen Reich mit Aufrechterhaltung von Regeln und Regularien getrotzt. Soweit möglich. Jeden Morgen versammeln sich alle zu Andacht und Gesang. Schulter an Schulter beten Familien, geflüchtete Einzelpersonen und Personal das Vaterunser.
Der Treck der Goßlers, dem sich etwa am 10. Januar 1945 weitere befreundete Familien und Nachbarn anschließen, besteht aus rund 200 Menschen und Zugpferden für Kutschen und Wagen. Von ein paar Kutschen abgesehen, handelt es sich um schlichte Wagen ohne Verdeck, so wie sie in der Landwirtschaft für den Transport von Rüben oder Kartoffeln verwendet werden. Führt der Weg bergauf, müssen die Pferde oft passen. Dann springen praktisch alle vom Wagen und schieben. Die Kinder finden es lustig. Zumindest tagsüber und bei kürzeren Strecken.
Die überstürzte Flucht Richtung Westen wurde durch ein dramatisches Ereignis noch dringlicher. Als Justus Frantz' Großvater mit einer befreundeten Familie etwas weiter östlich telefonierte, überbrachte der Diener am Telefon eine fürchterliche Nachricht: »Die Herrschaften werden gerade im Hof von der Roten Armee erschossen.« Es ist das Signal zum Aufbruch. Sofort.
Unter den Millionen westwärts eilender Vertriebener und Flüchtlinge fallen sie nicht weiter auf. Die Wehrmacht ist fast geschlagen. Zerstört, eingekesselt, auf der Flucht. Es kommt auf jeden Tag an. Verwandte und Freunde schildern Dorothea von Goßler als ungemein standhaft und mutig. Sie macht ihren Kindern und anderen Mut in fast hoffnungsloser Situation. Was sich in ihrem Inneren...
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