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Was meine Großmutter mir über das Leben erzählte - SPIEGEL-Bestseller
»Wenn Sie unbedingt auf Ihr Volk stolz sein möchten, empfehle ich Ihnen den Beruf des Imkers.« Mit diesem Satz prostete Christel Vollbrecht, Jahrgang 1898 und die Großmutter von Hubertus Meyer-Burckhardt, ihrem Gegenüber in der Weinstube Boos zu, wo sie nahezu jeden Abend saß. Wenn sie nicht gerade im Beiwagen einer Moto Guzzi kauerte und dem Fahrer befahl: »Schneller. Fahren Sie doch bitte endlich schneller!«
Ein Leben auf der Überholspur, rebellisch, unangepasst, voller Lebensfreude und unglaublich stark und mutig: So erinnert sich Hubertus Meyer-Burkhardt - TV-Produzent, Bestsellerautor und Gastgeber der NDR-Talkshow - an seine geliebte Großmutter, die ihn wie kein anderer Mensch geprägt hat. Wie ging sie mit der Welt um, die zweimal vor ihren Augen zerbrach? Was gab sie ihrem Enkel mit auf seinen Lebensweg? Und wäre es nicht wunderbar, hätten wir in der heutigen Zeit wieder mehr Menschen ihres Kalibers? Menschen mit einer unbedingten Liebe zum Leben, mit Witz, Widerspruchsgeist und Charakter. Hubertus Meyer-Burckhardt erzählt in autobiographischen Episoden von einer Frau, die ihrer Zeit voraus war: eine zärtliche Liebeserklärung und eine Spurensuche nach den Antriebsfedern des eigenen Lebens.
Hubertus Meyer-Burckhardt, 1956 in Kassel geboren, betrat bereits im Alter von 15 Jahren die Bühne des dortigen Staatstheaters. Seitdem wusste er, dass er einmal »irgendetwas mit Unterhaltung« machen wollte, und besuchte die Hochschule für Fernsehen und Film in München. Er gewann zahlreiche Preise als TV-Produzent, verbrachte einige Jahre im Vorstand von Axel Springer sowie von ProSiebenSat.1Media und hatte eine Professur an der Hamburg Media School inne. Einem Millionenpublikum ist er als Gastgeber der »NDR Talk Show« bekannt. 2021 erschien sein SPIEGEL-Bestseller Diese ganze Scheiße mit der Zeit: Meine Entdeckung des Jetzt. Meyer-Burckhardt lebt in Hamburg.
1. Meine Großmutter war eine Wanderpredigerin der Lebenslust: Ihr Credo, das sie nicht müde wurde zu wiederholen, lautete: Lass dir das Recht aufs Handeln nicht nehmen. Werde vor allen Dingen nie zum Spielball anderer. Sicherheit ist eine Illusion. Verschiebe nichts. Sei nie der Schuster, der bei seinen Leisten bleibt. Trotze dem Leben das Abenteuer ab. Und langweile dich nicht, am wenigsten mit dir selbst.
Ob Liebeskummer, Ärger mit den Lehrern, ob pubertär bedingte Melancholie oder Angst vor der Zukunft, immer gab sie denselben Kommentar ab, um meine Klagen in Grenzen zu halten: »Jungchen, wat willste? Det is det Leben.« Immer wieder dieser eine kluge Satz, der mir im Leben ein Geländer war.
Wenn man mich bäte, in knappen Worten das Milieu meiner Kindheit zu beschreiben, würde ich sagen: Mein Vater trug Hut, meine Mutter wischte Staub, und meine Großmutter trug Kostüm.
Als meine Großmutter starb, war ich Anfang dreißig. Ihr Tod liegt also fast vierzig Jahre zurück. Unsere beiden Leben haben sich lediglich drei Jahrzehnte überschnitten. Im ersten Jahrzehnt war ich zu jung, um mich mit ihr auszutauschen, im dritten war sie zu alt, am Ende dement. Im Grunde kannten wir uns nur kurz. Viel zu kurz.
Auf unerklärliche, fast gespenstische Weise ist mir meine Osi seit ein, zwei Jahren so präsent, als hätte sie sich erst vorgestern von mir verabschiedet. Sie kommt mir beim Autofahren in den Sinn oder wenn ich abends im Bett liege und mein bisheriges Leben Revue passieren lasse. Etwas befremdlich finde ich das schon. Freilich habe ich sie häufig vermisst. Aber es ist nicht so, dass ich verlässlich einmal in der Woche über sie nachgedacht habe. Gut, ich bin immer mal wieder nach Kassel zu ihrem Grab gefahren - was auch das Grab meiner Mutter und meines Großvaters ist -, habe Blumen hingelegt und ein bisschen innegehalten. Aber jetzt, im Spätsommer meines Lebens, ist meine Großmutter mir so nah wie noch nie nach ihrem Tod.
Diese plötzliche Verbundenheit kann ich mir nur so erklären, dass sie neben der Rolle einer Großmutter eine Schwester im Geiste war. Wahrscheinlich sind wir Seelenverwandte gewesen, haben uns aber aufgrund der Generationsabfolge verpasst. Möglicherweise bleibt tatsächlich die Energie mancher Menschen, wenn sie gestorben sind, so präsent, als ob sie nie weg gewesen wären. Ich habe, pathetisch gesprochen, das Gefühl, dass viel von ihr in mir weiterlebt, ohne dass ich es bisher bemerkt hätte. Man könnte gar sagen: Sie hat sich nach ihrem Ableben wie ein blinder Passagier bei mir eingenistet.
»Mit wem kannste ein Scheißhaus stürmen?«
Es gibt in meiner Familie keine Onkel, Tanten oder andere Zeitzeugen, sodass ich zwar ein paar Fakten rekonstruieren kann, aber nicht die Emotionen, die Empfindungen, was mir durchaus wichtiger wäre. Mein Vater war Einzelkind, ebenso meine Mutter und ich leider auch. Nach meinem Tod wird niemand mehr etwas über meine Großmutter wissen. Was ja das Schicksal von uns allen ist: dass wir vergessen werden, wenn unsere Geschichte keiner mehr kennt, keiner aufschreibt.
Meine Großmutter kam Ende des 19. Jahrhunderts im vorstellbar ungünstigsten Zeitslot zur Welt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war sie sechzehn, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einundvierzig Jahre alt. Ende der 1930er-Jahre verließ sie zusammen mit ihrem Mann, meinem Großvater Hugo, ihre Heimat Wittenberg, ging Richtung Westen, nach Kassel. Dort wurde sie ausgebombt, verlor alles, nur nicht ihren Humor. Sie hat beide Weltkriege überlebt. Als sie schließlich anfangen konnte, in Freiheit und mit etwas Wohlstand nach ihrer Façon zu leben, war sie bereits fünfzig und Großmutter. Meine Großmutter.
Was soll eine nachwachsende Generation überhaupt mit der Lebensgeschichte einer Frau anfangen, die vor fast einhundertdreißig Jahren geboren wurde? Interessant und amüsant für mich ist, dass da jemand gelebt hat, der nicht die Konformität suchte, nicht die Stromlinie. Meine Großmutter hatte große Freude an der Rebellion in jedweder Form. Sie war eine Provokateurin, eine Unruhestifterin in Wort und Tat. Dahinter steckte immer eine Absicht: Es interessierte sie, wie andere auf sie reagierten, welcher Charakterzug in so einem Moment zum Vorschein kam. War ihr Gegenüber ein Weichei oder jemand - sie benutzte gern die folgende Formulierung -, mit dem man ein Scheißhaus stürmen könne? Sie leistete sich Späße, mitunter derbe, die sich stets in der Grauzone zwischen Humor und ihrem Bedürfnis nach Entertainment bewegten. Mir ist erst spät bewusst geworden, wie skurril meine Großmutter war. Als Kind hat man noch keinen Kriterienkatalog, um zu bemessen, ob etwas schräg ist oder normal. Sie war eine Optimistin, eine lebenslustige und lebenshungrige Frau, die jeder Minute ihres Alltags Spannung abrang. Pessimisten empfand sie als intellektuell armselig, der Optimist hingegen entfalte eine gestalterische Energie.
»Es muss sich leicht anfühlen.« Das ist ebenfalls ein zentraler Satz, den ich von ihr übernommen habe. Geht es dir leicht von der Hand? Ist es etwas, das deiner Seelenlage entspricht? Oder verkrampfst du? Wenn es dir nicht entspricht, liegt kein Segen drauf. Diese Leichtigkeit als Lebensprinzip bezog sich übrigens auch auf Niederlagen, die man leichten Herzens einstecken müsse.
»Es muss sich leicht anfühlen.«
Es mag sein, dass es zwischen ihrer Lust zu leben einerseits und den beiden katastrophalen Kriegen andererseits, die ihre Welt zweimal zerstörten, ihr die Heimat nahmen, ihre Verwandten und Freunde in den Tod schickten, einen Zusammenhang gibt. Wenn man unter solchen Umständen in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nicht zu einer positiven Weltsicht kommt, wann dann?
Meine Osi ließ sich nicht kleinkriegen, sie sah das Leben als unverdientes Geschenk und entschied sich für das Glück und gegen das Selbstmitleid. Das hasste sie. Sie mochte keine langen Sätze und auch keine Umwege. Ihr Credo war: Die meisten Probleme sind ganz einfach zu lösen, wir müssen nur den Mut dazu aufbringen.
Aber wie geht man dann mit Problemen um? Indem man, so meine Großmutter, zunächst das Wort »Problem« aus dem Wortschatz streicht und es durch »Aufgabe« ersetzt. Und dann auf diese Aufgaben mit der Haltung zugeht: »Det is det Leben. Und ick bin für det Leben. Punkt.«
2. Wer war nun diese Christine - »Christel« - Elise Wilhelmine Vollbrecht, geborene Glona? Sie kam am 17. Mai 1898 in der Lutherstadt Wittenberg als Tochter des Kaufmanns Johann Heinrich Glona und seiner Frau Wilhelmine Ida Luise, geborene Schaub, eine zu dieser Zeit recht bekannte Kunstmalerfamilie, als jüngste von drei Schwestern zur Welt. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren - eineinhalb Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs - heiratete meine Großmutter den Berufsoffizier Hugo Karl Adalbert Julius Vollbrecht, den sie um etwas mehr als fünfzehn Jahre überlebte, als sie im Juni 1988 kurz nach ihrem neunzigsten Geburtstag im nordhessischen Hofgeismar starb.
Eineinhalb Jahre nach der Eheschließung mit Hugo wurde meine Mutter Brigitte Vollbrecht geboren, am 1. Oktober 1921 in Wittenberg. Sie blieb das einzige Kind meiner Großeltern. Mein Großvater Hugo hatte im Ersten Weltkrieg einen Kopfschuss erlitten und dabei ein Auge verloren. Ich vermute, dass die Ehe meiner Großeltern nicht ganz einfach und meine Großmutter auch eine schwierige Mutter war, denn ihre Tochter bemühte sich zeitlebens darum, sich die Zuneigung ihrer Mutter zu erarbeiten.
Aber für mich als Enkel war sie das Beste, was mir passieren konnte. So viel Temperament, Originalität und Unerschrockenheit habe ich noch bei keinem Menschen erlebt. Als Kind war sie für mich eine Aufgabe, aber eine, die Spaß machte, die mich wachsen ließ. Sie hatte einen komplett eigenen Lebensstil, entwarf und baute sich ihr Leben wie ein Architekt nach ihren eigenen Vorstellungen.
Dass ich viel Zeit mit meiner Großmutter verbracht habe, lag zum einen daran, dass mein Vater kein guter Vater war, sondern alkoholkrank und gelegentlich rabiat. Als ich zwölf Jahre alt war, wehrte ich mich und warf ihn raus. »Geh aus dem Haus, du bist nicht mehr mein Vater!«, schleuderte ich ihm entgegen, worauf er aus meinem Leben verschwand. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Meine Mutter war - nunmehr alleinerziehend und berufstätig - stets in Sorge, dass sie mir, dem Heranwachsenden, nicht genug Zeit widmen könne. Insofern schätzte sie es sehr, dass sich Osi intensiv und liebevoll der Erziehung ihres Enkelsohnes annahm - wenngleich die beiden nicht immer einer Meinung waren, was die erzieherische Sorgfaltspflicht anbelangte. Viele unserer Abenteuer haben wir meiner Mutter einfach verschwiegen. Man könnte das auch »beschütztes Risikomanagement« nennen: Meiner Großmutter lag zum Beispiel viel daran, dass ihr Enkel ein sicheres Fahrgefühl erlangte, auf welchem fahrbaren Untersatz auch immer. Inspiriert mag sie ihre Vorliebe für den Formel-1-Rennsport haben. Mein Großvater Hugo und meine Osi konnten bei Autorennen stundenlang vor dem Fernseher sitzen. Es waren die Sechziger und Siebziger, die Zeit, in der Autorennen lebensgefährlicher waren als heute. Die Formel 1 brachte Ikonen hervor wie Jackie Stewart, Jacky Ickx, Clay Regazzoni, dessen Karriere 1980 ein fürchterlicher Unfall beendete, und Jochen Rindt, der 1970 beim Training für den Großen...
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