Schweitzer Fachinformationen
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In ihrer Dachkammer sitzt Annelie an ihrem kleinen Eichenholzschreibtisch vor dem geöffneten Fenster und betrachtet die majestätische Stadtkirche, deren Sandsteinfassade gerade im Sonnenlicht hell erstrahlt.
Liebe Mama, ich hoffe, es geht dir gut da oben!
Die Briefe an ihre Mutter beginnt sie immer so, wie sie auch vorher immer einen kurzen Blick auf die Kirche richtet, jenen Ort, an dem sie Abschied nehmen musste.
Mama, ich bin verzweifelt! Immer wenn ich einen Mann kennenlerne, ist der schneller wieder weg, als ich Sargdeckel sagen kann. Immer wieder erlebe ich diese kleinen Tode. Wie jetzt mit Jonas. Der ploppte auf dem Frühlingsfest drüben in Neustadt so unverhofft und süß in meinen Abend. Er sah toll aus, groß und dunkelhaarig, mit so einem niedlichen Grübchen am Kinn. Und dann kam er und . wir gingen bald . Schon beim ersten Kuss, an der Bushaltestelle, wurde mir ganz anders. Wir sind schnell zu mir, es war so wunderschön. Dann aber? Klosuche, Leichenkeller, weg! Wie immer. Und weißt du was? Ich glaube, ich muss hier auch weg.
Unten von der Straße hört Annelie plötzlich den Zweitaktmotor von Hannos alten Barkas-Leichenwagen aufheulen. Dieses typisch hektische Heulen der DDR-Zweitaktmotoren ist in Sonneberg selten geworden, denkt Annelie und freut sich, denn so erkennt sie immer, wenn Hanno mit seinem Barkas in den tieferliegenden Hof hinter dem Bestattungshaus rangiert.
Liebe Mami, ich muss Schluss machen. Hanno rangiert schon, und der Brief soll ja heute noch an dich raus. Eins noch: Was soll ich machen? Ich bin so unsicher. Soll ich wirklich weggehen nach München, so wie Frau Wächter meinte? Oder soll ich bleiben und Bestatterin werden, was meinst du? Gib mir ein Zeichen, wie immer, bitte! Und schnell! Ich drücke dich fest!
Deine Anni
Routiniert faltet und verklebt Annelie den Brief. Küsst ihn flüchtig und rennt über jede zweite Stiege hinab in den Leichenkeller. Dort liegt der Leichnam von Frau Klawitter in einem rustikalen Holzsarg aus Eiche zum Abtransport in die Kapelle bereit. Die alte Frau war nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstation verstorben. Hanno hatte auch diesen Tod zeitlich genau vorhergesagt. Obwohl sie Hannos außergewöhnliche Fähigkeit hinreichend kennengelernt hat, findet Annelie es immer noch gruselig. Dann ortet sie kurz, wo sich dem Geräusch nach der alte Barkas gerade befindet. Hanno braucht Gott sei Dank noch etwas Zeit, bis der Leichenwagen im Hof richtig steht. Annelie hebt den noch nicht verschraubten Sargdeckel geschickt an und will gerade einen Schraubenzieher dazwischenklemmen, da vernimmt sie, wie draußen der Motor abgestellt wird und die Autotür klappt. Schnell und dennoch behutsam lässt sie den Sargdeckel wieder hinunter. In dem Moment öffnet Hanno die Hoftür. Sein Blick ist ernst. Annelie weiß, dass ihm ihre Absage vom Morgen immer noch in den Knochen steckt. Sie kennt ihren Vater nur zu gut. Er vergisst nicht so schnell.
»Ich möchte mich von Frau Klawitter verabschieden! Nimmst du mich mit auf den Friedhof?« Annelies Ton ist zugewandt und friedlich.
»Hmm.«
Hanno öffnet wortlos den zweiten Türflügel zum Hof, während Annelie schon mal den Sargdeckel verschraubt. Gemeinsam schieben sie den Sargwagen Richtung Auto, Hanno hebt den Sarg routiniert in die schon etwas wackelige Führung des Leichenwagens und lässt ihn dann ins Innere gleiten.
Mit Mühe quält sich der alte Leichenwagen mit seinen 43 PS den Berg zur Friedhofskapelle hinauf. Annelie sitzt still neben ihrem Vater und staunt wieder mal, wie er die riskante Steigung meistert. Hanno weiß genau, wie er schalten muss. Zuvor hatte er wie immer den Sarg mittels einer extra Seilwinde besonders gegen Verrutschen gesichert.
Als sie auf den Parkplatz hinter der Kapelle einbiegen, warten die Weikerts schon stoisch auf ihren Einsatz. Annelie mag Hannos Helfer nicht besonders, sie sind ihr zu leblos. Als die Weikerts Hanno kommen sehen, lassen sie nacheinander ihre Zigaretten zu Boden fallen und treten sie aus. Die Anfang der Siebzigerjahre geborenen, eineiigen Sechslinge in ihren schwarzen, abgetragenen Anzügen haben sich mit ihrer Behäbigkeit über Jahrzehnte als Sargträger bewährt. Der um Minuten jüngste der sechs Brüder, Peter, ist seit Langem ihr Chef. Er schaffte damals sogar die achte Klasse und machte dann später bei Hanno den Job für sich und seine Brüder klar.
Hanno steigt aus, öffnet das Heck des Wagens und nickt Peter zu, der das Signal in Form einer laschen Handbewegung an seine Brüder weitergibt. Beim Rausheben und Tragen des Sarges dirigiert er sie mit unterschiedlicher Gestik und verschiedenen Brummgeräuschen bis in die Kapelle. Günther, Horst, Frank, Uwe und Manfred folgen diesen Anweisungen wortlos.
In der Kapelle bereitet sich derweil Klaus auf seine Rede vor. Seit Annelie denken kann, ist Klaus schon der Trauerredner in Hannos Team. Der Mittfünfziger mit dem blassen Teint und den wenigen Haaren steht eloquent im schwarzen Doppelreiher hinter dem Pult und überprüft seine Stimme in der Akustik der Kapelle. Annelie muss schmunzeln, als sie das mitbekommt, denn Klaus, der hier schon unzählige Trauerreden gehalten hat, kennt die akustischen Gegebenheiten nur zu gut. Annelie weiß, es ist seine Form der Eitelkeit, sich so vorzubereiten.
»Und? Alles klar?!«
Hanno winkt quer durch die Kapelle Klaus zu. Der grinst freudig und trötet ein gewaltiges »Jaaa« durch das Mikrofon. Als er Annelie hinter Hanno sieht, brummt er ein tiefes »Hallo, Annilein!« hinterher. Sie lächelt ihm zu. Sie mag Klaus, er ist schon immer wie ein lieber Onkel für sie. Stets fröhlich und zu Scherzen aufgelegt. Sie mag einfach seine lebendige Art, die er trotz seiner Arbeit mit Tod und Trauer nie zu verlieren scheint.
Hanno verlässt unterdessen die Kapelle für seinen obligatorischen Rundgang. Er kontrolliert den Weg zur Grabstätte und die Grube selber, prüft die Verschalung und die Balken, auf denen die Träger später stehen und den Sarg ablassen werden, auf Festigkeit.
Annelie setzt sich in die letzte Reihe und beobachtet nervös die Weikerts. Die Sechslinge sind für diese Arbeit wie geschaffen. Sie sind so einfältig, dass sie nie eine Miene verziehen. Mehr Pietät in einem Gesicht ist nicht möglich. Nicht mal Roboter wären so distanziert. Der Sarg ist nun aufgestellt, und die Brüder verlassen mit ihrer ganz eigenen Würde die Kapelle. Sie greifen jeder für sich in ihre Hosentaschen und holen ihre Zigarettenpäckchen hervor.
Ungeduldig lauert Annelie auf die Gelegenheit, ihren Brief an Frau Klawitter zu übergeben. Allerdings tritt nun Klaus erneut ans Pult und übt schon mal seine Trauerrede:
»Liebe Trauernde,
wir sind heute hier zusammengekommen, um von Elfriede Klawitter Abschied zu nehmen. Elfriede Klawitter wurde am 29. Oktober 1935 in Mürschnitz geboren. Ihre Kindheit und ihre Jugend waren unbeschwert, denn sie war die Tochter des beliebten Fleischereiehepaars Ernst und Selma Klawitter. Unbeschwert verlief auch ihr späteres Leben in der DDR. Sie fühlte sich dem Sozialismus als Fleischverkäuferin in der HO, der einzigen und besten Handelsorganisation unserer DDR, aufs Innigste verbunden. Hier hatte sie ihren festen Platz in unserer Stadt, war anerkannt und beliebt. Nach der Übernahme der DDR durch die BRD fiel ein dichter Schatten, der Kapitalismus, auf unsere Gesellschaft. So auch auf das Leben unserer teuren Toten. Jobverlust, finanzieller Abstieg, Einsamkeit. Elfriede Klawitter hatte tapfer gegen diese Entmenschlichung gekämpft, doch irgendwann, wenn die Gemeinschaft ihre Werte verliert, verlassen schließlich jeden von uns Kraft und Mut. Schön, dass sie es noch anders erleben durfte. Damals. In unserer Deutschen Demokratischen Republik.«
Klaus klingt mit seiner Stimme nun fast so wie Erich Honecker in seinen besten Tagen und setzt in diesem Moment zusätzlich zu großer Pose an, indem er seine Arme beschwörend hebt:
»Und ich sage euch: Ein Gespenst geht um, das Gespenst der sozialen Vereinsamung. Die Menschen werden sich selbst überlassen. Wo sind sie, die gesellschaftlichen Angelpunkte wie eine fortschrittliche Partei, eine vorbildliche Jugend- und Pionierorganisation oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft? Wo ist der starke Arm der Volkssolidarität? Und deshalb rufe ich euch zu, Brüder und Senioren aller Länder . vereinigt euch. Steht zusammen. Seid bereit, gemeinsam gegen den kapitalistischen Individualismus zu kämpfen. Gemeinsam sind wir stark!«
Die letzten Worte klingen durch die Kapelle wie ein Donnerhall. Klaus steht hinter dem Pult und hält den rechten Arm mit geballter Faust in die Höhe und genießt schon mal den später zu erwartenden Applaus. Nach einem langen Moment schaut er auf Annelie.
»Und?«
Sie weiß nicht so recht. »Welche fortschrittliche Partei meinst du? Die Grünen?«
Lautes Lachen erschallt. »Mensch, Anni, natürlich die SED - Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, schon mal gehört?«
Annelie dreht ihre Augen gen Himmel und wendet sich ab. Klaus rafft stolz sein Manuskript vom Pult und verlässt die Kapelle.
Wenig später, die Weikerts haben sich neben Klaus in ihre Raucherecke auf dem Parkplatz hinter der Kapelle zurückgezogen,...
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