Schweitzer Fachinformationen
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Rragam, Winter 1943
»Wo ist denn der Krieg, Großvater?«
»Weit weg, Kajan. Iss dein Abendessen.«
»Und warum können wir ihn nicht sehen?«
»Weil er uns nichts angeht. Ich bin zu alt und du bist zu klein«, sagte Betim und lächelte.
»Sind Mami und Babi deshalb nicht hier bei uns? Weil der Krieg sie was angeht?«
»Nein, Kajan, es ist eher so, dass sie den Krieg was angehen.«
»Warum?«
»Der Krieg entsteht zuerst in einigen wenigen Köpfen, dann in vielen Köpfen, von den Köpfen wandert er in die Hände und Beine und von dort in die Augen. Und dort, in den Augen, bleibt er, auch nachdem er vorbei ist. Halte dich vom Krieg fern, Kajan, sieh nie hin, der Krieg ist furchtbar. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Sind Mami und Babi deshalb nicht hier? Damit ich den Krieg nicht sehen muss?«
»Ja, Kajan.«
»Wegen der Deutschen?«
»Ja, wegen der Deutschen. Man könnte meinen, die wollen ganz Europa für sich haben.«
»Und warum wollen sie dein Land nicht?«
»Mein Land haben sie mir schon vor langer Zeit genommen, mein Kleiner. Das Land hier hat meinem Vater gehört, deinem Urgroßvater. Es ist sein altes Haus.«
»Und das wollen die Deutschen nicht?«
Natürlich wollen sie das auch, dachte der Alte bei sich.
»Dieses Land ist weit weg von den Städten und so nah an den Bergen, dass es ihnen vielleicht egal ist, Kajan. Jedenfalls werden Mami und Babi dafür sorgen, dass die Deutschen es nicht bis zu uns schaffen, du wirst sehen. Sie sind fortgegangen, um dich zu beschützen.«
»Sind Mami und Babi Helden?«
»Und ob sie das sind«, sagte Betim, während eine düstere Stimme in seinem Kopf ihn daran erinnerte, dass Helden am Schluss immer sterben. Er hätte lieber eine lebendige und feige Tochter als eine mutige und tote.
»Warum steht unser Haus so weit weg von den anderen Häusern im Dorf?«
»Damit wir leichter weglaufen können, falls die Deutschen doch kommen. Außerdem haben wir hier unsere Ruhe.«
»Mami sagt, du hättest im Krieg viel verloren.«
»Als ich jung war, hatte ich außer deiner Mami noch drei andere Kinder. Ein Krieg hat sie mir weggenommen. Genau wie meine geliebte Anita, deine Großmutter. Als man sie fand, hatte sie noch deine Mutter in den Armen, um sie zu beschützen.«
Der Junge sah seinen Großvater ängstlich an.
»Und wann war das?«
»Vor vielen Jahren, Kajan, vor vielen, vielen Jahren.«
Kajan hatte seine Mahlzeit aus fasule beendet und stand auf, um den leeren Teller zurück in das Holzregal im hinteren Teil des einen großen Raums zu stellen, aus dem das Haus bestand.
»Großvater, das da auf deinem Hals, war das der Krieg?«
»Das ist eine Narbe. Ja, das war der Krieg«, sagte Betim mit ruhiger Stimme.
»Wie weit weg ist Deutschland eigentlich?«
»Sehr, sehr weit weg.«
»Können wir es sehen, wenn wir oben auf den Berg klettern?«
»Nein, Kajan, es ist viel weiter weg, als du dir vorstellen kannst.«
»Weiter als die Sterne?«
»Aber nein, nicht weiter als die Sterne.«
»Und wieso können wir dann die Sterne sehen und Deutschland nicht?«
»Weil die Sterne viel größer sind!«
»Größer? Aber die sind doch ganz klein, Großvater.«
»Sie sehen klein aus, aber eigentlich sind sie sehr, sehr groß. Das ist eine Frage der Perspektive.«
»Was ist das, Perspektive?«
»Mein Gott, Kajan, stellst du viele Fragen, du bist wie deine Mutter.« Betim lachte herzlich.
»Ach bitte, Großvater, erklär's mir«, flehte Kajan.
Betim seufzte laut, als wollte er sagen: Meinetwegen, damit Ruhe ist.
»Gut, dann schließ deine Augen.«
Kajan gehorchte sofort.
»Jetzt sage mir, sind Mami und Babi weit weg?«
»Ja.«
»Und du hast sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, nicht wahr?«
»Beschreibe ihre Gesichter.«
»Mami hat rechts am Mund einen kleinen braunen Punkt. Sie lächelt fast immer. Ihre Zähne sind knallweiß, ihre Lippen dünn. Und sie hat welliges Haar, das mag ich sehr. Ich sehe aber mehr aus wie Babi. Babi ist lieb und wird nie böse, außer . wenn ich was angestellt habe, wird er ein bisschen böse. Er hat schwarze Augen, aber manchmal sehen sie heller aus als die blauen von Mami. Seine Haut ist dunkel, er liebt die Sonne. Deshalb wird er auch nie krank, sagt Mami.«
Kajan öffnete die Augen und sah ein Lächeln auf den verhärmten Wangen seines Großvaters.
»Mach sie noch einmal zu«, sagte Betim.
Kajan folgte.
»Jetzt beschreibe Pajo, der uns heute Morgen çaj gebracht hat.«
»Hm, Pajo ist groß . und er hat kurze Haare .«
»Und sein Gesicht?«, fragte der Alte.
Kajan zuckte die Schultern.
»Weiß nicht.«
»Wie, du weißt das nicht? Du hast Pajo doch vor ein paar Stunden gesehen.«
»Ich erinnere mich trotzdem nicht daran.«
»Siehst du, Kajan, wenn eine Sache dir etwas bedeutet, wenn sie dir wichtig ist, dann spielt es keine Rolle, wie weit weg oder nah sie ist. Selbst wenn deine Eltern am anderen Ende der Welt wären, würdest du sie immer vor dir sehen. Das, Kajan, liegt eben an der Perspektive.«
»Dann werde ich dich auch immer vor mir sehen, Großvater«, sagte Kajan leise.
»Ich weiß, zemër, ich weiß«, sagte Betim. »Das ist also die eine Art von Perspektive. Es gibt aber noch eine andere.«
»Und welche?«
»Siehst du das alte Klavier da drüben in der Ecke?«
»Ja, klar.«
»Für dich ist es nur ein Spiel, aber jedes Mal, wenn du zum Gotterbarmen darauf herumklimperst, dann quälst du es.«
Kajan lachte.
»Aber wenn du stattdessen darauf zu spielen lernen würdest, dann könntest du durch seinen Klang sprechen. Du könntest dich durch die Musik mit anderen Menschen unterhalten. Und vor allem würdest du dann endlich damit aufhören, meine Trommelfelle so zu strapazieren! Spielen lernen: Perspektive Nummer eins. Nicht spielen lernen, das Klavier nicht mehr anrühren und meine Trommelfelle schonen: Perspektive Nummer zwei. Was sagst du dazu?«, fragte Betim schmunzelnd.
Prompt lief Kajan zu dem alten Klavier, das der Großvater vor einigen Jahren aus den zurückgelassenen Habseligkeiten eines Adligen gerettet hatte, der Hals über Kopf in den Kosovo geflohen war, und begann, wahllos auf die Tasten zu hauen und ein furchtbares Getöse zu veranstalten.
»Hör nur, Großvater, wie schön ich spielen kann!« Vergnügt hämmerte er weiter.
Der Großvater fiel in Kajans Lachen ein, und für einen Moment vergaßen die beiden, dass in Albanien Krieg herrschte, dass es 1943 war, das Jahr, in dem an die Stelle der faschistischen Besatzung die nationalsozialistische getreten war, dass ihre Liebsten in alle Winde verstreut waren, um gegen einen Feind zu kämpfen, der stärker war als sie, und dem Wort »Freiheit« Leben einzuhauchen. Das Feuer im Kamin wärmte sie, während sich draußen vor den Fenstern die kalte Nacht über Rragam legte, jenes kleine Dorf in Nordalbanien am Ufer des Flusses Drin.
»Willst du mich noch mal im tavull schlagen, Kajan?«
»Ja, aber wo sind die Würfel?«
»Hast du sie etwa verschlampt?«
»Du warst das, Großvater! Letztes Mal habe ich dich besiegt und du warst so wütend, dass du sie einfach weggepfeffert hast«, sagte Kajan.
»Meinetwegen, mein Kleiner, dann legen wir uns jetzt schlafen. Morgen früh müssen wir den Stall ausmisten, sonst beschweren sich die Tiere.«
»Aber ich will dir noch etwas vorspielen!«, sagte Kajan und tat so, als wollte er wieder zum Klavier laufen.
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