Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1
Im Kleingartenverein »Erntedank« herrschte Frühjahrsstimmung. Pünktlich zum Osterfest hatten sich die ersten wärmeren Tage zum Dienst gemeldet. Die Gartenflora war aus der winterlichen Erstarrung zurückgekehrt - bereit, das Kleingarten-Szenario mit Farbe zu übergießen. Die heimischen Singvögel hatten Freude daran gefunden, die Tonleitern zu strapazieren, und den Kampf um geeignete Partnerinnen und katzensichere Nistplätze eröffnet. In den Regalen der Supermärkte waren die Meisenknödel übergangslos von Grillkohle abgelöst worden.
Inzwischen war es Mai geworden. Der Vorstand des Kleingartenvereins mit dem Musikpädagogen Andreas Klapphorn und der Stadtplanerin Franziska Morgenstern an der Spitze hatten ihre Aktivitäten ebenfalls wieder aufgenommen und zur ersten Sitzung in das Hinterzimmer des Landheims »Erntedank« eingeladen. Diese Gaststätte wurde seit einigen Jahren mit zunehmendem Erfolg von Rudi Klingebiel geleitet. Er hatte die fünfzig überschritten, und im selben Maße, wie sein Haar allmählich den Rückzug antrat, bildete sich ein dezenter Bauchansatz.
»Ein schönes Gesicht braucht Platz und ein Mann ohne Bauch ist wie ein Haus ohne Keller«, pflegte er die allmählich einsetzende Metamorphose seines äußeren Erscheinungsbildes zu kommentieren. Er war ein Gemütsmensch, verträglich im Umgang und nur reizbar, wenn es um Behördenwillkür oder andere, offensichtliche Ungerechtigkeiten ging. Dann bediente er sich allerdings eines Vokabulars, das als kaum zitierfähig bezeichnet werden konnte.
Ihm zur Seite stand Maria, seine etwa gleichaltrige, mütterlich-mollige Lebenspartnerin, die ursprünglich nur an besonders betriebsamen Tagen in der Gaststube aushalf. Rudi, der gerade frisch geschieden war, hatte sich mit Maria auf Anhieb verstanden, und schon bald gediehen die Gemeinsamkeiten über die Belange des gastronomischen Betriebes hinaus.
Tatjana, Tochter aus Rudis erster Ehe, betrachtete diese Entwicklung mit Wohlwollen. Sie studierte Sozialwissenschaften und hatte sich aktuell den Nachwuchs-Kriminalbeamten Olaf Knispel zum Lebensabschnittsbegleiter erkoren. Als Rudi nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau erneut geheiratet hatte - diesmal ein deutlich jüngeres Gewächs -, hatte es zwischen Tatjana und Vater Rudi erhebliche Spannungen und schließlich Funkstille gegeben. Mit Rudis Trennung von seiner zweiten Frau, die ihm schlussendlich sogar nach dem Leben getrachtet hatte, kam das Vater-Tochter-Verhältnis wieder ins Lot und funktionierte besser als je zuvor.
An diesem Freitagnachmittag fanden nicht nur Jungkommissar Knispel, sondern auch sein Chef, Kriminalrat Karl-Eberhard Strelitz und seine Kollegin, Oberkommissarin Konstanze Kannengießer, den Weg ins Landheim. Mehrere unerfreuliche Vorfälle hatten eine gewisse, zeitweise nicht immer ungetrübte Nähe zwischen dem Strelitzschen Ermittlungsteam und den Vereins-Akteuren entstehen lassen. Inzwischen gelang es allen Beteiligten, vorbehaltlos miteinander umzugehen. Die gemeinsam erlebten, mitunter beklemmenden Ereignisse hatten sie zusammengeschweißt und zur Folge gehabt, dass das Kriminaltrio von Zeit zu Zeit im Landheim »Erntedank« auf ein Bier vorbeischaute.
So auch heute - und während Andreas Klapphorn und Franziska Morgenstern sich noch mit den alltäglichen Prüfungen eines ehrenamtlich tätigen Vorstands auseinandersetzten, nahmen die »Kriminalen« bereits eine erste Runde Kräusen-Pils. Diese Spezialität bremischer Braukunst hatte Rudi neuerdings in sein Repertoire aufgenommen.
Im Hinterzimmer rief Andreas Klapphorn gerade den nächsten Punkt auf.
»Wir haben mal wieder etwas Besonderes«, verkündete er mit einem bedeutsamen Blick über den Rand seiner Lesebrille, die weit auf die Nasenspitze gerutscht war und abzustürzen drohte. Andreas nahm die Brille vorsorglich ab. »Es gibt eine Anfrage der ARD, ob wir bei einem Filmprojekt über >Kleingärten< behilflich sein könnten. Ob es dabei um eine dokumentarische Aufarbeitung des Kleingartenwesens gehen soll oder aber eine Serie - ähnlich wie >Die Camper< - geplant ist, wissen wir im Moment noch nicht. Ich möchte euch aber darum bitten, dass ihr Franziska und mir Vollmacht zur Führung eines ersten Gespräches erteilt. Ich würde gern schauen, ob wir im Gegenzug etwas für den Verein herausholen können.«
»Wir würden euch natürlich auf dem Laufenden halten und alle Entscheidungen, die zu treffen sind, hier in diesem Kreis besprechen«, klinkte sich Franziska ein.
»Vielleicht sollen ja die Kriminalfälle aus den letzten zwei Jahren verfilmt werden«, sinnierte einer der Beisitzer.
»Oh ja, und Andreas erhält im nächsten Jahr den Oscar für die beste Nebenrolle!« Die Schriftführerin Ursula Brettschneider gluckste vor Vergnügen. Sie schien für einen Moment vergessen zu haben, welche tiefen Einschnitte die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit auch in der Arbeit des Vorstandes hinterlassen hatten.
Andreas klopfte mit seinem Bleistift auf die Tischplatte, um die ausbrechende Heiterkeit zu bremsen. »Ich nehme das mal als Zustimmung«, fasste er das Stimmungsbild zusammen. »Wir kommen dann zum nächsten Punkt: Beschwerden über Deborah Stellmacher.«
»Oje, was hat die Arme denn nun wieder angerichtet?«, fragte einer der Beisitzer.
»Eigentlich nichts«, stellte Andreas fest. »Es sind im Grunde auch keine klassischen Beschwerden, sondern immer nur Berichte, dass sie >komisch< sei - was immer das auch heißen mag - und sich nicht eingliedert. Sie meidet den Kontakt zu den Nachbarn, kommuniziert wenig, ist zwar freundlich, aber immer mit einer Restdistanz. Sie lebt hinter ihren hohen Hecken sehr zurückgezogen. Aber das kann man niemandem zum Vorwurf machen. Der eine ist eben eine Betriebsnudel und braucht jeden Tag das Bad in der Menge, und andere ruhen mehr in sich.«
So wie du, dachte Franziska, die ihn seit einigen Monaten als Lebensgefährten - oder, wie sie selbst es nannte, als Lebenskameraden - an ihrer Seite hatte. Und in der Tat, auch Andreas gehörte nicht zu den Mitmenschen, die pausenlos bedeutsame und weniger wichtige Botschaften verbreiteten. Aber wenn er was sagte, dann war das in der Regel zuhörenswert und lebte vom trockenen typisch norddeutschen Humor.
Andere Vorstandsmitglieder schalteten sich in die Debatte ein. Dabei waren verständnisvolle Äußerungen, aber auch kritische Stimmen zu hören.
Andreas setzte sich erneut durch. »Habt ihr schon mal überlegt, ob Deborah Stellmacher eine Autistin sein könnte? Bei diesem Krankheitsbild gibt es eine gewaltige Bandbreite, von der Aspergschen Variante bis hin zu den ganz schweren Fällen. Ich hab immer wieder mit Schülern zu tun, die mit Autismus belastet sind. Sie alle sind etwas Besonderes - in der Regel hochintelligent und eben mit einem besonderen Verhaltensmuster ausgestattet. Wenn man sich auf die Denk- und Handlungsweise von Autisten einlässt, kann das auch für den eigenen Horizont durchaus wertvoll sein.«
Andreas wirkte nach diesem für seine Verhältnisse langen Redebeitrag etwas angegriffen, aber er hatte mit einer Eindringlichkeit gesprochen, die ahnen ließ, dass er auch ein bisschen in eigener Sache unterwegs war. Schließlich bestand Einigkeit darüber, dass in dem »etwas absonderlichen Verhalten« von Deborah Stellmacher kein Verstoß gegen die Regeln des Kleingartenwesens zu sehen war.
»Menschen sind eben so, wie sie sind.« Ursula Brettschneider hatte für fast alle Wechselfälle des Lebens eine Generalformel parat.
Franziska bot an, Deborah aufzusuchen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. »Vielleicht werden wir dann etwas schlauer.«
»Soweit alles bedacht und gesagt?«, fragte Andreas. »Ansonsten sind wir durch.« Er klappte seine Mappe zu. »Ich wünsch euch was, bis zum nächsten Mal.«
Fehlt nur noch, dass er Hausaufgaben ansagt, dachte Franziska amüsiert.
Die Vorstandsmitglieder standen auf, reckten ihre Gliedmaßen und zerstreuten sich. Einige begaben sich auf den Heimweg, andere suchten sich einen Platz an Rudis Tresen und orderten frisch gezapfte Biere. Franziska und Andreas setzten sich zu Kriminalrat Strelitz und seinem Team.
»Ist doch mal schön, ohne Aufklärungsdruck zusammenzusitzen«, gab sich der junge Kommissar Olaf Knispel entspannt.
»Beschwören Sie es nicht, Olaf«, grummelte Strelitz. »So, wie ich diesen Kleingartenverein kenne, müssen wir jeden Moment damit rechnen, dass auf der Toilette dieser Gaststätte eine Leiche gefunden wird.«
»Was ist mit meinem Klo?«, fragte Rudi besorgt, der eben eine weitere Runde Kräusen-Pils brachte.
»Oh, nichts. Kriminalrat Strelitz schließt lediglich nicht aus, dass sich auf deinem Klo eine Leiche befinden könnte«, verkündete Franziska.
»Wie bitte?« Rudi stellte sein Tablett ab und stand ganz offensichtlich im Begriff, seine Gelassenheit gegen einen kurzatmigeren Gemütszustand einzutauschen.
»Nur ein Scherz, Rudi. Nur ein Scherz«, beruhigte Strelitz den empfindsamen Gastronomen.
»Mit so etwas scherzt man nicht!« Rudi hatte empört die Hände in die Hüften gestemmt. »Zur Vorsicht gucke ich jetzt nach.« Sprach's, drehte sich um und steuerte tatsächlich in Richtung der sanitären Anlagen, die in einem kleinen Anbau untergebracht waren.
»Rudi, bleib hier!«, rief Andreas dem Wirt hinterher.
Strelitz' verdrossenem Gesichtsausdruck war ein breites Grinsen gewichen.
Franziska suchte nach einem neuen, unverfänglicheren Themenfeld. »Sind wir denn alle gut ins neue Jahr gekommen?«, fragte sie in die Runde.
»Oh ja, doch«, nahm...
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