Kapitel 31
Den traditionellen Lagebesprechungsbrunch in der Lilie
ohne Kriminalrat Strelitz vorzunehmen, wirkte auf beide befremdlich. Die Eingebungen wollten einfach nicht kommen. Knispel stellte die These auf, dass ein gutes Brainstorming womöglich nach den Regeln bislang unentdeckter physikalischer Gesetze erst ab drei Personen funktioniert. Vorher waren wohl zu wenige Gehirnströme im näheren Umfeld mit ein und demselben Problem befasst. Kannengießer bezweifelte diese These. Einmal mehr fragte sie sich, wie ihr manchmal so schusseliger Kollege trotzdem erfolgreich durch die polizeitechnische Ausbildung stolpern konnte.
»Was ist, wenn wir die Einbuchtung der Golwitz nicht dem Schlüter überlassen und versuchen, auf die Schiene mit aufzuspringen, da wir bei Erkenschwick, der jegliche Aussage verweigert, im Augenblick sowieso festhängen?«
»Deine Ideen waren auch mal besser. Kein Mensch weiß, wo die Kleine ist. Anhaltspunkte gibt es nicht«, zügelte die Oberkommissarin ihren jungen Kollegen.
»Einen haben wir doch. Meinen Schwiegervater, Rudi Klingebiel!«, entgegnete Knispel.
»Stimmt, bei ihm hat sie gearbeitet, aber meinst du, dass er etwas weiß?«
»Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.«
Vor Ort im Landheim waren sie nicht die Einzigen mit dieser Idee: Wie zufällig war das Ermittlerteam Schlüter
und Fröhlich bereits dort. Sie kamen gerade von dem Einbruch in Erkenschwicks Büro zurück. Nachdenklich
befasste sich Schlüter mit dem nächsten Taschentuch, auf dem ein »F« prangte, das er am Tatort gefunden hatte und für ihn keinen Sinn zu ergeben schien. Er wendete es gedankenverloren in seiner Hand hin und her.
»Ah, Team B ist auch hier, hallo!«, grüßte Knispel frech in die Runde.
»Wen nennen Sie hier Team B? Ich muss doch sehr bitten! Wenn hier jemand zweitklassig arbeitet, dann ja wohl Sie! Die Morgenstern ist ja immer noch auf freiem Fuß! Wo haben Sie denn gesucht? Wird das diese Woche eigentlich noch was, oder muss ich beim PP anrufen?«
Volkmar Fröhlich, der damit beschäftigt war, sämtliche Gäste von Rudi über Annemarie Golwitz zu befragen, hatte
es prompt mit dem Gastwirt höchstpersönlich zu tun, der sich nun aufgebraust mit dem Fuß auf den Fußboden klopfend neben ihm eingefunden hatte.
»Darf ich fragen, was das hier werden soll? Seit wann nehmen Sie hier die Bestellungen auf?«, donnerte Rudi ziemlich laut drauflos.
»Kommissar Fröhlich, zu Diensten; zu Ihnen komme ich gleich noch. Alles der Reihe nach. Zunächst befrage ich Ihre Stammgäste. Jede Information könnte wichtig sein.«
»Meine Gäste kannten Annemarie doch wohl kaum persönlich. Mit Ihren unnötigen Fragen müssen Sie uns nicht belästigen.«
In diesem Moment betrat Mangoldini mit seiner Zirkus-
familie die Räumlichkeit. Erst vor Kurzem hatten sie ihr Zelt, wie mit dem Vorstand besprochen, direkt neben dem Landheim hochgezogen und brachten nun regelmäßig jeden Abend ungekannten Schwung in den Laden und den armen Rudi völlig aus dem Konzept wegen der vielen Kundschaft. Er ging hektisch von Tisch zu Tisch, um die nicht enden wollende Bestellaufnahme zu absolvieren.
In der Zwischenzeit führte Fröhlich ungehindert die
Befragung der Gäste weiter.
Kapitel 32
Am Ende der Befragung versprachen Kollegen Schlüter und Fröhlich, mit dem Strelitz-Team in Verbindung zu bleiben, verlangten im Gegenzug aber nun eine »umgehende Festnahme dieser Morgenstern«. Rudi vergewisserte sich, dass Schlüter und Fröhlich endgültig verschwunden waren, und schloss erleichtert die Tür hinter sich. Rasch kehrte er an den Tisch mit Knispel und Kannengießer zurück.
»In was ist Franziska da reingeraten? Wieso wird sie schon wieder verdächtigt? Was machen wir denn jetzt bloß?«, sprudelte es aus ihm hervor.
»Wenn wir das nur wüssten! Wir können dir aus ermittlungstechnischen Gründen leider keine Informationen über den bisherigen Stand zukommen lassen. Wir sind eigentlich nur hier, um dich zu Annemarie Golwitz zu befragen. Sie ist zurzeit flüchtig, und sie aufzuspüren hat für uns im Augenblick höchste Priorität. Wie dir mit Sicherheit aufgefallen sein dürfte, ist deine Arbeitskraft seit einigen Tagen unauffindbar. Kannst du uns zu ihrer Person etwas sagen?«, stellte Knispel ihr ursprüngliches Anliegen dar.
»Ja, sie ist nicht mehr zum Dienst erschienen und ich bin total aufgeschmissen. Du hast ja gesehen, was hier eben los war. Die Bande von Zirkusartisten kommt jeden Abend hierher. Seit einigen Wochen hilft mir Annemarie bereits. Ein absonderliches Mädel. Macht ihre Sache gar nicht so schlecht, verliert sich allzu oft jedoch in Tagträumen. Aber eine zuverlässige Hilfe. Jetzt wo sie verschwunden ist, läuft alles drunter und drüber. Ich bin komplett überfordert.«
»Weißt du irgendetwas aus ihrem Privatleben?«
»Lass mich überlegen . da fällt mir was ein. Ich hab noch einen Ersatzschlüssel zu ihrem Spind in der kleinen
Umkleide nebenan. Vielleicht finden wir dort etwas?«
Der Spind von Annemarie Golwitz war seltsamerweise nicht verschlossen und die Tür war auch nur halb angelehnt.
Während sie noch überlegten, was das bedeuten konnte, fiel
ihnen ein Volleyball entgegen, an der Spindtür klebte Ziggy Stardust in seinem roten Kostüm, über ihm eine eingeklebte Visitenkarte von »Dr. Klee - Psychiater, Seelenheiler«.
Kapitel 33
»Habe ich heute noch Termine?«, blätterte Dr. Klee verunsichert in einem dicken Buch herum, als Oberkommissarin Kannengießer und Kommissar Knispel an die Tür zu seiner Praxis klopften.
»Guten Tag, Dr. Klee. Mein Name ist Konstanze Kannengießer, Kripo Bremen. Und das ist mein Kollege Olaf Knispel. Wir hätten ein paar Fragen zu Ihrer Patientin Annemarie Golwitz. Sie ist in einen Mordfall verwickelt und derzeit auf der Flucht. Wir bräuchten alle Informationen, die uns irgendwie weiterhelfen könnten.
»Ja, das hatte ich vorausgeahnt, dass ihr das alles eines Tages zu viel wird. Es gab früher schon Anzeichen, die auf Aggressionsprobleme hinwiesen. Annemarie ist im Heim groß geworden und hat die dortige Zeit nie richtig verarbeitet. Sie hat nicht komplett gelernt, mit ihrer Wut umzugehen. Doch konnte ich ihr andere Lösungen aufzeigen. Ich habe ihr zu einer Art Zufluchtsort geraten, an den sie in schwierigen Situationen gehen kann, um sich alleine ohne meine Unterstützung zu beruhigen. Ich kann schließlich auch nicht immer rechtzeitig da sein.«
»Das hätte ich nicht erwartet. Haben Sie eine Idee, wo sie jetzt sein könnte?«
»So wie ich sie kenne, dürfte sie sich wieder in ihren Leuchtturm zurückgezogen haben.«
»In was für einen Leuchtturm?«, wollte Oberkommissarin Kannengießer wissen.
Knispel und Kannengießer machten sich nach dem Gespräch mit Dr. Klee auf den Weg zu Annemarie
Golwitz' geheimen Rückzugsort. Bei jenem verlassenen
Gelände angekommen sahen sie, dass man den unbenutzten
Leuchtturm ungehindert betreten konnte.
Kannengießer parkte den Dienstwagen knapp hundert Meter vom Eingang entfernt, um sich leise zu nähern, sich im Notfall allerdings auch schnell entfernen zu können.
»Wenn jetzt wenigstens der Chef hier wäre«, klagte Knispel und sandte ersatzweise noch eine SMS an Schlüter ab, die in wenigen Buchstaben ihren aktuellen Einsatz grob umriss. Sie ahnten nicht, wie nahe sie ihrem vermissten
Kriminalrat in diesem Moment waren.
Nun erklang nämlich seine Hilfe suchende Stimme durchs obere Fenster. Rasch drangen sie in das alte Gemäuer ein. Der Eingangsbereich war durch die längst vergangene
Benutzung in einem verkommenen Zustand. Trotz der maroden Beschaffenheit der Wendeltreppe begannen sie, den Turm zu erklimmen.
Sich dem Ende der Treppe nähernd, hörten sie erneut die Stimme ihres verschollenen Kriminalrates. »Du bist doch verrückt, du kannst mich doch hier nicht so zurücklassen. Wer zum Teufel soll mich hier finden?«
Als Kannengießer, oben angekommen, vorsichtig in den Raum blicken konnte, sah sie das Bild zu der absurden Szene. Strelitz waren seine Hände auf dem Rücken gefesselt worden und er saß auf einem klapprigen Stuhl Annemarie Golwitz gegenüber. Diese richtete die gesuchte Silberwaffe auf ihn, während sie mit dem Rücken zu den Eindringlingen stand.
Kannengießer versuchte, unbemerkt auf die andere Seite des Raumes zu gelangen. Leider verriet sie das Knarzen des alten Holzfußbodens unter ihren Füßen. Nach einem kurzen Schockmoment begab Golwitz sich hinter Strelitz und hielt nun die Waffe direkt an seine Schläfe.
»Nur einen Schritt weiter und du wirst deinen Freund hier nicht mehr laufen sehen«, lächelte Golwitz die Oberkommissarin an. Als sie ihren Blick zur Treppe schweifen ließ, entdeckte sie auch Knispel.
»Pah, noch so ein widerlicher Schnüffler! Raus da!«, rief Annemarie und drückte Strelitz die Waffe fester an den Kopf. »Stell dich zu der anderen da und leg den Schlüssel von dem Auto unten neben die Treppe!« Knispel gehorchte sofort.
»Man möchte meinen, Sie wären verkabelt, was, Herr
Strelitz? Wir verschwinden hier besser und machen uns auf die Suche nach Mangoldini!«
Annemarie Golwitz riss Strelitz von seinem Stuhl und nahm ihn in den Würgegriff. »Und wir bleiben hier jetzt
einfach so stehen?«, fragte Knispel fassungslos.
»Ja! Aber erst werfen Sie noch alle Ihre Handys aus dem Turm. Irgendwer sendet hier doch geheime Signale an die...