1 - Cover [Seite 1]
2 - Der Autor [Seite 3]
3 - Innentitel [Seite 4]
4 - Impressum [Seite 5]
5 - Handelnde Personen [Seite 6]
6 - Inhalt [Seite 9]
6.1 - Prolog [Seite 9]
6.2 - Kapitel 1 [Seite 13]
6.3 - Kapitel 2 [Seite 21]
6.4 - Kapitel 3 [Seite 26]
6.5 - Kapitel 4 [Seite 34]
6.6 - Kapitel 6 [Seite 49]
6.7 - Kapitel 7 [Seite 50]
6.8 - Kapitel 8 [Seite 55]
6.9 - Kapitel 9 [Seite 58]
6.10 - Kapitel 10 [Seite 59]
6.11 - Kapitel 11 [Seite 61]
6.12 - Kapitel 12 [Seite 69]
6.13 - Kapitel 13 [Seite 74]
6.14 - Kapitel 14 [Seite 77]
6.15 - Kapitel 15 [Seite 83]
6.16 - Kapitel 16 [Seite 88]
6.17 - Kapitel 17 [Seite 91]
6.18 - Kapitel 18 [Seite 97]
6.19 - Kapitel 19 [Seite 103]
6.20 - Kapitel 20 [Seite 108]
6.21 - Kapitel 21 [Seite 111]
6.22 - Kapitel 22 [Seite 120]
6.23 - Kapitel 23 [Seite 126]
6.24 - Kapitel 24 [Seite 134]
6.25 - Kapitel 25 [Seite 136]
6.26 - Kapitel 26 [Seite 140]
6.27 - Kapitel 27 [Seite 148]
6.28 - Kapitel 28 [Seite 155]
6.29 - Kapitel 29 [Seite 157]
6.30 - Kapitel 30 [Seite 159]
6.31 - Kapitel 31 [Seite 161]
6.32 - Kapitel 32 [Seite 164]
6.33 - Kapitel 33 [Seite 166]
6.34 - Kapitel 34 [Seite 173]
6.35 - Kapitel 35 [Seite 175]
6.36 - Kapitel 36 [Seite 185]
6.37 - Kapitel 37 [Seite 188]
6.38 - Kapitel 38 [Seite 191]
6.39 - Kapitel 39 [Seite 193]
6.40 - Kapitel 40 [Seite 199]
6.41 - Kapitel 41 [Seite 201]
6.42 - Kapitel 42 [Seite 207]
6.43 - Kapitel 43 [Seite 209]
6.44 - Kapitel 44 [Seite 214]
6.45 - Kapitel 45 [Seite 218]
6.46 - Kapitel 46 [Seite 231]
6.47 - Epilog [Seite 235]
7 - Ebenfalls im KellnerVerlag erhältlich [Seite 237]
8 - Rücktitel [Seite 242]
Kapitel 1
Rudi Klingebiel, Gastwirt im Landheim des Kleingartenvereins »Erntedank«, war bester Stimmung. Während die Zahl seiner Gäste in früheren Jahren kaum gereicht hatte, um über die Runden zu kommen, konnte er derzeit fast jeden Abend ein volles Haus verzeichnen. Dafür waren hauptsächlich die »Filmleute« verantwortlich, die sich vor einigen Monaten auf zwei nebeneinander liegenden Parzellen angesiedelt hatten. Obwohl die Begleitumstände eher betrüblich waren, musste Rudi eingestehen, dass er von den tragischen Ereignissen, die es damals im Zusammenhang mit einem doppelten Mord zu beklagen gab, enorm profitierte.
Die Verantwortlichen hatten entschieden, an den Arbeiten für eine neue Fernsehserie festzuhalten, die im Kleingartenmilieu spielte. Das führte dazu, dass die »Filmleute« zum Ende des Drehtages oft bei ihm einkehrten und neben Bier, Wein und Absackern auch warme Mahlzeiten begehrten. Seine Lebensgefährtin Maria hatte in der Küche reichlich zu tun, und Rudi war - wie er es nannte - für das operative Geschäft in der Gaststube zuständig. An Wochenenden half ihm seine aus erster Ehe stammende Tochter Tatjana aus, die eigentlich mit dem Studium der Sozialwissenschaften befasst war.
Um den Ansprüchen der Filmcrew gerecht zu werden, waren Franziska Morgenstern und Andreas Klapphorn, die nicht nur eine Lebensgemeinschaft bildeten, sondern auch den Vereinsvorsitz innehatten, ihm beim Zusammenstellen einer Weinkarte behilflich gewesen. Für zusätzliches Gästeaufkommen sorgten die beiden, indem sie für das Landheim immer wieder Einzelveranstaltungen organisierten.
So hatte Andreas, von Haus aus Musikpädagoge, das Kollegium seiner Schule zu einer Kohlfahrt im Winter überredet; auch bei Matjes- und Spargelessen hatte Maria ihr Können schon unter Beweis stellen können.
Nun stand ein Klassentreffen auf dem Programm. Franziska war zunächst wenig begeistert gewesen, als sie die EMail öffnete, mit der sich ein selbsternanntes Organisationskomitee aus dem Kreis ihres ehemaligen Klassenverbandes mit dem Vorschlag zu Wort meldete, sich erstmals nach dem Abitur zu treffen. Die Aussicht, diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten beizuwohnen, fand sie wenig verlockend.
»Da wird den ganzen Abend aufgezählt, wer wie viele Kinder hat, es werden Scheidungen und Affären durchgehechelt, und natürlich wird mit Karrieren geprahlt: mein Haus, mein Auto, meine Yacht«, beklagte sie sich bei Andreas.
»Du hast die Reitlehrerin vergessen«, schmunzelte ihr Lebensgefährte und blickte von einer Klassenarbeit auf, deren Korrektur ihm wenig Freude bereitete.
»Ja, und über die Handicaps beim Golfen wird auch zu sprechen sein«, mutmaßte Franziska. »Ich könnte ein bisschen was über Mini-Golf zum Besten geben - dass ich an der 14. Bahn trotz des Fünfer-Eisens keinen Birdie schaffe, geschweige denn ein Hole-in-One.«
Andreas' Rotstift wütete in einer weiteren Klassenarbeit. Er wirkte tief frustriert. »Man könnte meinen, dass die lieben Kleinen ihre Hörorgane mit Unterrichtsbeginn auf Durchzug stellen und nur die Minuten bis zur Pause zählen, um sich wieder ihren Handys zu widmen. Zuhören scheint nicht mehr zu den Kulturtechniken der Gegenwart zu zählen«, klagte er.
»Du lieferst dafür gerade ein Beispiel«, meinte Franziskas vorwurfsvoll.
»Inwiefern?«, fragte Andreas, ohne aufzublicken. Sein Rotstift malte eine tiefrote »5« auf eine Klassenarbeit.
»Weil ich dir meine innere Zerrissenheit vortrage, und du beschränkst dich darauf, mit diesem Rotstift Schüler unglücklich zu machen.«
Andreas seufzte. »Erstens macht mir das genauso wenig Spaß wie dir das Klassentreffen, und zweitens: Was erwartest du denn über meine grundsätzliche Anteilnahme hinaus von mir?«
»Eine Entscheidungshilfe - ich will einerseits nicht die Spaßbremse spielen, aber es gibt auch niemanden aus meiner alten Klasse, den ich wiedersehen muss. Kurz gesagt, es gibt keinen Grund, dort hinzugehen.«
Andreas durchschaute Franziskas eigentliches Problem. Sie war unverheiratet, hatte keine Kinder und war mit ihrem Job als Stadtplanerin zunehmend unzufrieden. Bei den von ihr prophezeiten Vergleichen würde sie als Leichtgewicht dastehen und allenfalls Anteilnahme, aber keine Bewunderung erzeugen. Er war jedoch klug genug, diese Erkenntnis für sich zu behalten.
»Ist es nicht besser, deine Klassenkameraden reden mit dir anstatt über dich? Geh' unbekümmert hin und versuche, das Ganze in Rudis Landheim stattfinden zu lassen. Dann hast du ein Heimspiel, und wenn es dir nicht mehr gefällt, gehst du Erholung suchend mit mir nach Haus. Wir haben nämlich zeitgleich an dem Abend die Sprechstunde des Kleingartenvorstandes, und die kann ich ausnahmsweise ja mal allein abwickeln.«
»Das würdest du tun?«
»Aber ja, Hauptsache ist doch, du kannst an deinem Klassentreffen teilnehmen.«
Sie fiel über ihn her, knuffte und kitzelte ihn und nahm ihn schließlich in den Schwitzkasten. Aus dem Gegeneinander wurde ein Miteinander. Letztendlich verschob sich die weitere Korrektur der Klassenarbeiten um einen Tag.
Nach etlichen Wochen begann der Abend des Klassentreffens. Rudi rotierte, einem Brummkreisel ähnlich, durch die Gaststube. Tatjana ging ihm zur Hand. Die ehemaligen Abiturienten hatten Platz an einigen zusammengeschobenen Tischen gefunden. Immerhin waren es einschließlich Franziska zwölf Personen, die jetzt zum Pegel des Gesprächslärms beitrugen. Am benachbarten Tisch hatte sich die Filmcrew von Radio Bremen niedergelassen.
An der Theke sorgten einige Kleingärtner, die zur Vorstands-Sprechstunde gekommen waren oder gewohnheitsmäßig ihr abendliches Bier zu sich nahmen, für weiteren Umsatz. Einer von ihnen war Hermann Schilling, der mit seinem unberechenbaren Rauhaar-Dackel Friedhelm zur Grundausstattung des Landheims zählte. Hermann war inzwischen der älteste Kleingärtner des Vereins und Franziskas rechter Nachbar. Dackel Friedhelm hatte schon so manches Hosenbein und etliche Damenstrümpfe zwischen seinen Zähnen gehabt. An diesem Abend studierte er aufmerksam die Anwesenheit vieler neuer Waden. Allein die kurzgehaltene Leine, mit der er an Hermanns Barhocker vertäut war, verhinderte eine Inspektion des Frischfleisch-Nachschubs.
Die Begrüßungskultur der ehemaligen Oberstufen-Absolventen kannte unterschiedlichste Variationen. Da gab es Damen, die mit suchendem Blick hereinstöckelten, die gedeckte Tafel entdeckten und mit spitzem Quieken allen bereits Anwesenden um den Hals fielen, um sie mit Wangenküssen zu attackieren. Da gab es Herren, die mit einem lässigen »Hallo« an die lange Tafel traten und auf die Tischplatte klopften.
Ein besonders Verwegener versuchte es mit Abklatschen, ein Schüchterner hingegen kam nur zögerlich näher und erklärte, dass er der Kai-Uwe sei - verbunden mit der Frage, ob es sich bei dieser Runde um das Klassentreffen handele. Offensichtlich sah er sich außerstande, auch nur einen der ehemaligen Mitschüler zu identifizieren.
Schnell hatten sich die einstigen Cliquen gefunden und dies durch eine entsprechende Sitzordnung verfestigt. Gemeinsam mit dem benachbarten Tisch der Film-Leute herrschte eine Stimmung, die an eine Aktionärshauptversammlung nach der Abstimmung über die Dividendensteigerung erinnerte.
Franziskas Sorge erwies sich als begründet. Bald gab es erste Fotos von Ehepartnern und Kindern zu bewundern, auch spektakuläre Lebens-Bilanzen fanden begierige Zuhörer. Als die erste »Wisst-ihr-noch-damals-Geschichte« zu Gehör gebracht wurde, verspürte Franziska einen Fluchtimpuls und sehnte sich nach dem Hinterzimmer, in dem Andreas mit viel Geduld die monatliche Sprechstunde des Vereinsvorstandes zelebrierte. Sie nahm sich vor, mit ihm heimzugehen, sobald er seine Aufgabe erfüllt hatte.
Doch ausgerechnet heute herrschte dort ein bemerkenswerter Andrang. Vier langjährig aktive Kleingärtner wollten ihre Parzelle aufgeben und baten darum, zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus dem Pachtvertrag entlassen zu werden. Drei neue Bewerber traten auf und kompensierten die Kündigungsflut zu einem guten Teil.
Herr Obermeyer beklagte den Lärm spielender Kinder auf Parzellen in seiner direkten Nachbarschaft (»So etwas hätten wir uns mal zu unserer Zeit erlauben sollen!«), und Frau Strunck schlug in die gleich Kerbe (»Sie wissen ja, mein Mann ist ein Pflegefall, und er leidet sehr unter dem Lärm der vielen Rasenmäher«). Herr Nesselkamp schloss diesen Themenkreis mit einer vehementen Forderung, der Vereinsvorstand möge endlich die Mittagsruhe durchsetzen (»Ich sag Ihnen, bei diesem Heimwerker-Konzert geht das stabilste Nervenkostüm in die Knie. Bohrmaschinen, Kreissägen, Kantenschneider - man sollte die Kabel kappen!«), und Franz Papendiek erregte sich über die zunehmende Zahl von Fahrzeugbewegungen bei der Firma Grünkern & Dollinger (»Seitdem die in der alten Gärtnerei wirtschaften, ist es mit unserer Ruhe vorbei. Die brettern mit 80 Sachen durch unsere Wege!«). Er überreichte Andreas eine Unterschriftenliste, die von 28 Parzellisten aus seinem Weg unterzeichnet worden waren. Dann verließ er mit grimmigem Blick das Hinterzimmer und murmelte dabei etwas von »anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen«.
Schließlich kamen noch drei Parzellisten, die sich vom Gemeinschaftsdienst »freikaufen« wollten und die dafür fälligen zwanzig Euro in bar auf den Tisch legten. Andreas seufzte, machte sich umfangreiche Notizen und sehnte sich nach Franziska, die er jetzt gern an seiner Seite gehabt hätte - nicht nur wegen des Publikumsandrangs.
Die hatte sich zwischenzeitlich in ein intensives...