Schweitzer Fachinformationen
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Gletscher sterben nicht, sie schwinden, ehe sie verschwinden, denke ich, während wir über glucksende Rinnsale steigen. Immer weiter bergan. Es ist wärmer, als es sein sollte, obwohl der Morgen klar ist. Früher, in meiner Jugend, erinnere ich mich, war es in den Eisregionen während der Nachtstunden so kalt, dass Schnee und Wasser gefroren. Auch in den Sommermonaten. Nur tief unter den Gletscherzungen blieb ein fernes Rauschen hörbar, nachsickerndes Schmelzwasser vom Vortag.
Ich habe zwar ein ungutes Gefühl - warme Morgen sind im Hochgebirge Schlechtwetterboten -, aber Angst kommt vorerst keine auf. Wenigstens noch nicht. Auch keine Wut wegen des Gletscherschwunds etwa als einer Folge der zunehmenden Erderwärmung. In letzter Zeit werde ich nicht mehr so schnell wütend wie früher. Dabei ist der Niedergang der Gebirge überall sichtbar. Am Gletscher auch hörbar, sogar riechen kann man ihn. Wo der Permafrost auftaut, rutscht, schwitzt, stinkt die Erde. Es riecht überall nach Fäulnis.
Ich bleibe stehen und weise mit der Hand auf die grauschwarze Felswand links von uns. Sie liegt im Schatten. Trotzdem tropft Wasser aus jeder Ritze. »Dort irgendwo«, sage ich, »haben wir eine Erstbegehung gemacht. Vor bald 30 Jahren.« »Schwierig?«, fragt Wolfgang, der Bergführer ist und die 1000 Meter hohe Flanke mit den Augen absucht. Ich sehe, wie sein Blick die Felsen prüft, sich emportastet. Wie erfahrene Bergsteiger es immer tun, wenn sie aus einer gewissen Distanz in Gedanken eine kletterbare Route durch eine Felswand legen. Diese Art zu suchen - nach einem brauchbaren Weg, einer neuen Route - gehört zum Ritual einer jeden Erstbegehung. Wir allerdings wollen heute keine neue Route, sondern nur den ältesten Ortleraufstieg finden, um ihm bis zum Gipfel folgen zu können. Also stehen wir unter den fast senkrechten Dolomitwänden im Westen des Ortlers, des höchsten Berges von Südtirol, und sehen uns den Fels an. Trotzdem: Wir wissen nicht recht, ob wir einsteigen sollen. Es ist zu warm, und bald wird Steinschlag einsetzen. Es ist jetzt aber müßig, über den Verfall der Berge zu lamentieren, zumal man als Zeitgenosse selbst mit dazu beiträgt, dass das Eis schmilzt. Schließlich habe ich mich schon früher für die Erhaltung der Berge starkgemacht, bin aber trotzdem Auto gefahren.
Unweit von uns schlagen jetzt die ersten Steine auf dem Toteis ein. »Weg von der Wand«, schreit Hubert, mein neun Jahre jüngerer Bruder, der noch die Instinkte des Bergneulings hat. Früher wollten wir die Berge für die Nachwelt so erhalten wissen, wie wir sie vorgefunden haben: erhaben, gewaltig, gefährlich, herausfordernd. »Alles für die Nachwelt«, grinst Wolfgang und springt ein paar Schritte zur Seite, als hoch oben in der Wand wieder ein Surren zu hören ist. Der Schutt auf dem tauenden Eis, auf dem wir stehen, ist ins Rutschen gekommen, und Wolfgang hat Mühe, das Gleichgewicht zu halten. »Das hier ist unsere Nachwelt«, meint Hubert darauf und möchte wissen, was zu tun ist. Sollten wir weitersteigen auf der Suche nach dem ältesten Weg zum Ortlergipfel, den ein Outlaw und Gämsjäger namens Josef Pichler, genannt Pseirer Joséle, vor genau 200 Jahren gefunden hat, oder zurückgehen nach Drei Brunnen hinter Trafoi, wo unsere Autos stehen? Von dort sind wir am Vortag bis zur Bergl-Hütte aufgestiegen.
Wieder einer dieser Konflikte, die mich mein Leben lang begleitet haben. Weiter oder zurück? Es gibt Momente, in denen ich guten Grund hätte, aufzugeben, mich in die Sonne zu legen und auf alle Risiken zu pfeifen. Aber was bringt einem das? Kommen wir auf diese Weise weiter? Ausruhen, das ist das eine, doch jetzt abbrechen wäre wie Alles-Aufgeben. Es hätte etwas Endgültiges. Wenigstens versuchen sollten wir es. Natürlich muss auch ich mich überwinden. Es ist schließlich der größere Kraftakt, nicht aufzugeben, als nach Hause zu gehen. Denn in die Wand einsteigen heißt Mühen ertragen, ein Risiko eingehen. Vielleicht gelingt es ja doch, den richtigen Einstieg zu finden, und vielleicht hilft dann das Klettern, jenes flaue Gefühl der Leere loszuwerden, das mich in diesem Moment des Zweifels beschleicht.
Was ich noch vermisse, ist das Instinktive, das ich sonst beim Unterwegssein verspüre. Einmal unterwegs, bin ich mir meist selbst genug. Als sei ich ein Wesen, das eins ist mit allem. Auch mit den Kletterpartnern.
Später, als ich wieder in Juval bin, wo ich mit meiner Familie die Sommermonate verbringe, holt mich dieses Gefühl der Leere noch einmal ein. Es hat nichts mit Sabine oder den Kindern zu tun; sie freuen sich, wenn ich da bin. Es ist etwas anderes. Am Berg sind wir mit all unseren Entscheidungen letztlich allein. Und jede Tour kann tödlich enden. Es hilft uns niemand über unsere Zweifel hinweg: eine spezifische innere Einsamkeit, die ohne Rat ist, bleibt ein ständiger Begleiter. Anders als in der Zivilisation, wo alle gewünschten Sicherheiten suggeriert werden. Auch anders als jene universelle Erfahrung, die Religionen geboren hat.
Über Geröll gehen wir weiter, immer parallel zur Wand. Ein leichter Fallwind bläst uns jetzt ins Gesicht. Steine sind im Eis eingeschmolzen, der Schnee überfroren, aber nicht hart. Bei jedem Schritt breche ich in den Firn ein. Hoch über uns eine Eisbruchbarriere. Sie scheint an die 60 Meter hoch zu sein, auch wenn sie teilweise eingestürzt ist. Die Flanke in Falllinie darunter müssen wir meiden, denke ich. Schutt, Lawinenkegel und Krater am Sockel der Wand verraten, dass mit Lawinen Tonnen von Eis und Geröll heruntergekommen sind. Dort also dürfen wir keinesfalls hochklettern. Diese Angst kommt wie eine Ahnung, wohl von Erfahrungen aus der Vergangenheit gespeist.
Den ganzen Morgen schon habe ich dieses ungute Gefühl. Es ist keine wirkliche Angst, aber doch eine mahnende Stimme in meinem Unterbewusstsein. Es gilt, auf der Hut zu sein. Meine Sorge ist nicht, dem Aufstieg nicht gewachsen zu sein, doch die Befürchtung nimmt zu, herabfallendes Eis könnte uns erschlagen. Düstere Bilder entstehen in meiner Phantasie, während wir auf eine finstere Schlucht zusteigen. Auf der ersten gefrorenen Eisplatte rutsche ich aus. Nur der Eispickel, reflexartig eingesetzt, bremst mein Stolpern. Ich zwinge mich, ohne innezuhalten weiterzumachen. Der Sprung vom unbewussten zum bewussten Gehen bewirkt, dass meine Muskeln sich verkrampfen. Und jedes Mal, wenn Huberts Eispickel an Steinen abprallt, muss ich an die beiden Brüder denken, die ich beim Bergsteigen verloren habe. Nicht auszudenken, wenn ein weiterer umkäme.
Aus der Froschperspektive erscheinen sogar Steilwände harmlos. Als ob sie zu überschauen wären. Auch die Wand über uns senkt sich jetzt in den höheren Partien scheinbar ab. Als ob es dort flacher würde. Und das Gelände hat Risse, Bänder, eine Aufstiegslinie. »Es geht«, sage ich. Die Felsstruktur erscheint dem erfahrenen Auge jetzt aufgeschlüsselt. Also versuchen wir es! Unser erster Beschluss an diesem Tag: Einstieg direkt unter dem Finish, 700 Meter höher oben an einer Eiskante. Darüber jetzt das Leuchten des Morgenhimmels.
Mit den ersten Klettergriffen werden wir zu Vierbeinern. Ich könnte nicht sagen, dass ich dabei einer speziellen Technik folgte, ich steige einfach nur, Arme und Beine tun wie selbstverständlich, was sie tun müssen. Der Abgrund unter uns wächst zwar, aber ich merke es nicht. Ich sehe und spüre nur noch das Tasten und Greifen der Hände, das Setzen der Füße. Leichte, kurze Berührungen.
Klettern ist eine Sache der Konzentration. Wir Kletterer leben dabei in einer Art Eigenwelt. Alles andere wird ausgeschaltet, die Erinnerung schwindet. Die Außenwelt ist wie ausgesperrt, weit weg. Als gäbe es nichts mehr auf der Welt als unser kleines Team. Wir sind nur noch für uns selbst da. Wir steigen in einen Zustand unseres Daseins hinein, den es im Flachland, unten in den Städten nicht gibt. Dabei ist alles so wirklich, weil alle unsere Sinne, Instinkte und Kräfte jetzt mehr als sonst gefordert sind. Wir funktionieren nun automatisch. Die Bewegungen folgen dem Sehen, Tasten und Hoffen. Eine ergibt die andere, und alle ergänzen einander: Hand, Fuß, Arm, Bein und der Herzschlag, alles wird eins. Wie bei einem artistischen Tanz. Das Steigen geht bald in eine fließende Bewegung über. Wir sind ganz da, ganz gespannte Aufmerksamkeit und doch selbstvergessen.
In diesem Schwebezustand dürften wir dem Dasein der Tiere näher sein als dem des Menschen. Deshalb habe ich als Kletterer auch nie Probleme damit gehabt, mit einem Eichhörnchen oder Affen verglichen zu werden. Was sie mit uns Kletterern verbindet, ist das vollkommene Selbstverständnis der Bewegung bei gleichzeitiger Relativierung von Höhe und Tiefe und Reduktion der Landschaft ringsum zur bloßen Kulisse. Das Klettern geschieht jetzt um seiner selbst willen. Und doch: Diese Art Sein ist absolutes Risiko. Allein schon wegen des Abgrunds. Es ist uns auch stets bewusst dabei, dass wir gefährlich leben, und je höher wir steigen, je tiefer wir in den Gefahrenraum hineinklettern, umso weiter weg sind wir von allen Hilfen und Sicherheiten: auf uns selbst und an den Rand unserer Existenz gestellt. Als ob zwischen dieser Art Selbstverschwendung und dem jederzeit möglichen Absturz ein instinktives, weil lebensbejahendes Handeln keinen Fehler zuließe. Handeln und Sinn und Sein sind jetzt eins. So wie das Steigen zum Klettern wird, weil wir auch die Hände dabei brauchen, um unser Gleichgewicht zu halten, wird unbewusst ein Fließen daraus.
Während der Tour stellen sich solche Gedanken nicht ein. Immer erst im Nachhinein, wenn ich wieder zu Hause bin und realisiere, dass alles gutgegangen ist, kommt zum Übermut jenes...
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