Schweitzer Fachinformationen
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»Lange dachte ich, Früher heißt das Land, aus dem sie kamen.«
Hausnummer 36 und 37, hier in Berlin haben sie jahrelang in direkter Nachbarschaft gelebt. Als Kind spielte die Enkeltochter Tischtennis auf dem Glastisch im Wohnzimmer der Großeltern. Als Erwachsene löst sie deren Wohnung schließlich auf, bringt Besteck, Töpfe und Musikkassetten nach nebenan zu sich. Und sie will noch etwas bewahren: Levitanus, den Familiennamen. Der Wunsch, den Namen wieder anzunehmen, begleitet sie nicht nur im Alltag, sondern führt sie auch nach Riga. Sie folgt den Worten ihres Urgroßvaters Salomon und findet ein Fenster im ehemaligen Rigaer Ghetto, das eng mit ihrer Familiengeschichte verknüpft ist - und sie zeichnet die Bewegungen von vier Generationen nach, vom sowjetischen Lettland der siebziger Jahre bis nach Deutschland.
Ricarda Messner erzählt in ihrem Debütroman vom Ort ihrer Erinnerungen, kehrt immer wieder zurück zum Leben in zwei Wohnungen, nähert sich Verlusten und Lücken, verbindet Heute und Gestern. Wo der Name wohnt lässt so zärtlich wie klar eine Familie aufleben und bewahrt ihre Geschichten.
Sie sagen, Sie besitzen den Namen nicht mehr. Ich verstehe nicht ganz, antworte ich und zeige, hier, die beiden Geburtsurkunden, und weiter erklären sie, die erste ist nicht mehr gültig. Der Name, in dem Sie geboren sind, ist nicht Ihr Geburtsname. Im Namen Ihrer Mutter. Im Mutternamen. Ich sehe den Mutternamen, sage ich, auf der ersten Urkunde, auf der, die meine Geburt bestätigt, und sie wiederholen, nein, Sie sind im Namen des Vaters geboren. Ich frage sie, bin ich wirklich geboren und überhaupt, woher kommt die Fünf, woher kommen die fünf Jahre, noch mit dem fünften Lebensjahr hätte ich also sagen können, ich will so oder so heißen. Fünf wie fünf Gebote auf zwei Steintafeln, die zusammen zehn Gebote ergeben, oder fünf Wundmale am Leib Christi. In einem Gedankenspiel denke ich an den Mutternamen, er ist ein Feld auf einem Spielbrett, bereits mit dem nächsten Würfeln ziehe ich weiter zu den Vätern und Großvätern und Urgroßvätern. Ich gedenke meiner namenlosen Mutter und stelle ihr Fragen über unser erstes Jahr, in ihrem Namen, auf dieser Straße.
Hat uns der Briefträger, als wir neben ihren Eltern wohnten, bei der Zustellung von Briefen und Paketen mit demselben Namen auf zwei Klingelschildern zusammengedacht? Hat er das Paket, wenn die einen nicht da waren, einmal bei den anderen abgegeben und bei der persönlichen Übergabe gefragt, Sie gehören doch zusammen, kann ich Ihnen das Paket geben? Stelle ich meiner Mutter solche Fragen, kann sie mir nicht weiterhelfen, wundert sich. An die von mir gewünschten Details kann sie sich nicht erinnern, auf solche Dinge hat sie nicht geachtet, und überhaupt erinnert sie die Vergangenheit schlecht. Oft erwähnt sie dann andere Namen, wenn die noch leben, die oder der, die wissen es bestimmt besser. Aber ich will, dass sie erzählt. Egal was. An manchen Tagen wirkt sie müde, erschöpft von meinem Ziehen in die Vergangenheit, sie möchte, dass ich mehr von meinen Tagen erzähle. Sie wisse nichts von mir oder nur sehr wenig, sagt sie dann. Und dann gibt es andere Tage, die ich nicht verstehe, über die ich mich aber freue. Da will Mutter von alleine zurück, schenkt mir fantastische Geschichten, schickt Fotos, erzählt die Geschichten hinter den Fotos, nur um am Ende zu sagen, das sind Nebensächlichkeiten, Kleinigkeiten, wen interessiert das. Gelegentlich erklärt meine Mutter, dass viel Zeit zwischen uns liegt. Ja, ich weiß, ich zähle fast durchgehend die Zeit, häufiger als sie sich vorstellen kann. So habe ich ihr das noch nie gesagt.
Vierzig Jahre liegen zwischen uns, und nach dem 9.April 1971, dem Tag ihrer Ausreise aus Riga, vergehen achtzehn Jahre, bis wir zusammen hier im zweiten Stock wohnen werden. In diesen Zwischenzeiten hat sie das Erzählen nicht geübt, hat sie das Gedächtnis nicht trainiert. Doch sie ist die Einzige, die mir geblieben ist, die weiter zu mir spricht. Heute ist sie diejenige, die sagt, du musst die Füße mehr bewegen.
Letztens habe ich sie gefragt, ob sie noch weiß, was Großmutter und Großvater in dem kleinen schwarzen Topf gekocht haben. Welcher Topf?, fragte sie zuerst. Vielleicht Milch, vielleicht das aufgewärmt, was vom Vortag übrig war, ein bisschen Suppe, ein bisschen Bratkartoffeln. In den Topf passt nicht viel hinein, er ist klein, hat nur einen seitlichen Henkel, keinen Deckel. Wofür ich das wissen möchte?, fragte sie weiter, und jetzt, im Nachhinein, in meiner Vorstellung, könnte ich den Topf füllen, womit auch immer ich will. Und von der Vorstellung habe ich doch einiges. Das wiederholt meine Mutter, seit ich mir als Kind eine ältere Schwester ausgedacht habe. Ich kenne sie nicht mehr, habe keine Erinnerung an diese Schwester. Dank meiner Mutter lebt sie noch, taucht auf, wenn Mutter mir erzählt, wie wir einmal verreist waren und ich während dieser Reise viele Tage mit einem Mädchen gespielt habe, wir waren beide ungefähr vier Jahre alt. Dieses Mädchen fragte plötzlich nach meiner älteren Schwester, wie es ihr geht, wegen einer starken und höchst ansteckenden Erkältung musste sie zu Hause bleiben. In meiner Erzählung hustete sie ununterbrochen dunkelgelben Schleim in Taschentücher, ich gab ihr sogar lange Locken und einen Namen, Sascha. Da verstand meine Mutter zumindest besser, woher Sascha kam, denn ich hatte mir in der Kurzform meines zweiten Vornamens eine Schwester überlegt.
Ich wünschte, ich hätte genug Vorstellungskraft, mich woandershin zu denken. Aus diesem Zimmer, aus diesen Räumen hinaus, in ein anderes Haus, zwischen andere Häuser und Wände. Ich frage mich, welchen Klang die Worte haben würden, wenn es Worte mit Abstand wären, wenn es welchen gäbe zwischen den Wegen des Alltags und den Erinnerungen. Erinnerungen und Alltag sind hier nah beieinander, liegen am Ende des Tages übereinander wie Kleidung auf Stühlen.
Neulich kam mir der Gedanke, für etwas Entfernung die Wohnung zu tauschen. Eine Freundin meinte, das sei eine schöne Idee. Ohnehin könnte man das viel öfter machen, wenn es die Lebenssituation erlauben würde. Also nicht für lange, aber wenigstens für ein paar Tage, eine Woche, einen Monat vielleicht, dann könnte das Auge etwas anderes sehen, könnten die Beine und Füße andere Wege gehen, wer weiß, was das mit einem macht. Man könnte sich gegenseitig einladen, sich sozusagen selbst beieinander besuchen und schauen, wie sich das anfühlt, ob ein Gefühl der Sehnsucht aufkommt, wenn man jemandem im eigenen Zuhause beobachtet. Meine Freundin hat mich letztens wieder gefragt, was damit sei. Sie schickte mir konkrete Vorschläge, an welchen Daten ihr solch ein Wohnungstausch, eine solche Hausverschiebung passen würde. Mir gefiel dieses Wort. Doch einen Moment später überkam mich bereits der Zweifel, was wäre, wenn ich mich selbst ohne jegliche Sehnsucht besuchen würde. Lieber nicht, habe ich ihr gesagt, dass es mir gerade nicht so gut passt. Aber ja, irgendwann auf jeden Fall.
Gestern lag ich die ganze Nacht wach, konnte nicht schlafen. Es war viel los im Treppenhaus. Ständig ging die Haustür auf, einige liefen die Treppen hoch oder runter, andere nahmen den Fahrstuhl. Dieser öffnet und schließt sich laut, das Blech knallt jedes Mal, weil die Lichtschranke fehlt, deshalb reagiert die Tür auch erst, wenn sie auf eine Schulter oder einen dazwischengestellten Stuhl trifft. Nach all den Jahren kann ich sagen, wer wann nach Hause kommt, wer wann das Haus verlässt. Ich höre die Stockwerke bis in mein Zimmer hinein. Damals, als ich wieder hier eingezogen bin, schlief ich die ersten zwei Monate schlecht. Tage reihten sich an Nächte, Nächte an Tage, machten keinen Unterschied. Ich war wohl im Glauben eingezogen, die Hausgeräusche müssten mir vertraut sein. Nichts schien mir vertraut, besonders nachts dichtete das Auge hinzu, und ja, wir hatten doch nur ein Jahr hier gelebt, daran erinnerte mich meine Mutter. Ohnehin meinte sie, eine Rückkehr geht anders.
Bevor ich einzog, litt ich seit einiger Zeit an einem Schwindel. Nicht die Art von Schwindel, bei der sich alles dreht. Einmal, es schien die Sonne, schrie ich sogar laut auf, war mir sicher, alles würde plötzlich grau, oder ich lief auf den Straßen, sprach von einem sich unter den Füßen öffnenden Boden, einem aufgehenden Asphalt, sprach in Vergleichen, hoffte, so würde ich verstanden. Im Grunde genommen lief ich außerhalb meiner selbst. Es spukte im Kopf. Gleichzeitig war es der Kopf, auf den Verlass war, der, wenn es die Gedanken weiter als weit schafften, mich zurückholte. Ein dumpfes Dröhnen breitete sich aus, ausgehend vom Hinterkopf, unterbrach das Denken, schloss mir die Augen. Ich sah für einen kurzen Moment angenehm schwarz. Halt fand ich in Häuserwänden, machte sie zu stützenden Händen, hielt mich an ihnen fest, lief dicht an dicht, Schulter an Schulter mit den Fassaden. Ab und zu riss der Putz die Haut der Handflächen auf oder bröckelte herab. Ich spürte ein leichtes Brennen, freute mich ein wenig, betrachtete die Schleifspuren, hob die Hand zum Beweis und dachte, ich schaffe Wege. Am Anfang des Schwindels muss ich noch unbeholfen auf den Straßen gewirkt haben. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die neue Art, zu gehen, flüsterte zu den erstaunten Gesichtern beim Entgegenkommen, Sie brauchen sich nicht zu wundern, ich laufe irgendwo im Dazwischen. Es spukte in mir, im Kopf, im Herzen, in der Leber, in der linken Niere. Täglich wartete ich auf die Ohnmacht. Eigentlich wartete ich die ganze Zeit auf etwas. Ja, ich...
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