Schweitzer Fachinformationen
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Im holzgetäfelten Süderker auf Burg Juval, wo der Blick 500 Meter tief ins Etschtal abfällt und die Berge dahinter die Welt begrenzen, saßen mir in den vergangenen zehn Jahren eine Reihe neugieriger Menschen gegenüber, die mit ihren Fragen alle dasselbe suchten: einen Blick in meine Seele.
Sie alle bekamen Antworten, und ich verriet ihnen vieles, doch meine Seele verriet ich ihnen nicht.
»Ein Grenzgänger wollen Sie also sein, ein Pfadfinder, der die kalten, dunklen, einsamen Winkel seiner Seele erkundet.«
»Ja, ich bezeichne mich als Grenzgänger. Das ist ein Mensch, der am Rande des gerade noch Machbaren in der wilden Natur unterwegs ist. Mit eigenen Kräften. Ich suche das Extreme, bemühe mich jedoch, nicht umzukommen. Mein Tun wäre kein Grenzgang, wenn das Todesrisiko von vornherein ausgeschlossen wäre.«
»Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel, um es zu retten?«
»Das ist kein Widerspruch. Für mich ist dieser Zusammenhang logisch. Ja, ich gehe zum Nordpol, weil es gefährlich ist, und nicht, obwohl es gefährlich ist. Aber ich will dabei nicht umkommen. Durchkommen heißt meine Kunst.«
»Können Sie mir erzählen, wann Ihre Neigung zu solchen eher wenig verbreiteten Künsten entstanden ist?«
»Ich kann es nicht genau aufschlüsseln und will auch nicht mein eigener Psychotherapeut sein. Ich vermute aber, dass es unter anderem mit meiner frühesten Jugend zu tun hat.
Ich bin in einem engen Alpeneinschnitt aufgewachsen, ganz unten im Tal. Ich wollte aus dieser Enge heraus, wollte die Welt von oben sehen, wollte über den Rand des Tales hinausschauen. Als ich mit fünf Jahren meinen ersten Dreitausender bestieg, natürlich nicht alleine, sondern zusammen mit meinem Vater, bekam ich hinterher für meine Ausdauer und Geschicklichkeit viel Lob. Bereits in der Pubertät zeigte ich beim Klettern mehr Geschick als auf jedem anderen Gebiet, sei es in der Schule, beim Sport oder bei den Mädchen. Ein weiteres Moment der Spannung bestand natürlich darin, dass wir Kinder selbstständig, ohne Begleitung von Erwachsenen, zum Bergsteigen gingen. Ich habe mich rasch zum fanatischen Kletterer entwickelt. Damit einher ging eine Abneigung gegen Moralapostel und gegen Autorität in jeglicher Form. Die althergebrachte Wahrheit, die Doktrin der Lehrer, das Gehabe der Spießbürger, das Urteil der Masse war mir zuwider. Später kam Ehrgeiz dazu: Ich wollte die extremen Leistungen der anderen übertreffen, zuerst im Alpen-Klettern, dann im Himalaja-Bergsteigen und zuletzt im Eiswandern.«
»Sie muten damit Ihrer Familie eine ganze Menge zu! Ist sie nicht ständig in einer Art Warte- und Abschieds- und Wiederkehrhaltung?«
»Sabine, die Frau, mit der ich seit Jahren lebe, hat mich kennengelernt, als ich ein Grenzgänger war. Sie hat sich trotzdem mit mir zusammengetan. Und sie weiß - das gilt auch für meine Freunde und Verwandten -, dass ich ein vorsichtiger Mensch bin. Trotzdem, es kommen dann und wann Ängste auf. Bei Sabine, bei mir. Nicht jedoch bei den Kindern, denn sie sind noch zu klein. Meine Gefahren sind sichtbar, hörbar, fühlbar. Sie füllen die Welt um mich herum und in mir aus - weil unter mir ein Abgrund klafft oder weil ein Schneesturm tobt oder weil ich am Rande meiner physischen Kräfte bin. Wer mich kennt, weiß, dass das, was ich mache, gefährlich ist. Gefahren aber bedrohen jeden Einzelnen von uns. Sie gehören zum Leben wie der Tod. Viele Menschen sind latent durch Krebs oder Herzinfarkt gefährdet. Die meisten aber sind sich dieser Gefahr nicht bewusst, weil sie noch keine konkrete Gestalt angenommen hat, noch nicht manifest geworden ist, die Auswirkungen noch nicht spürbar sind. Und die globalen Gefahren, die uns alle bedrohen, spüren wir noch weniger. Die globale Gefahr, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit umkommt, ist ebenso groß wie die Gefahr, dass ein Einzelner stirbt. Ich weiß, dass ich früher oder später sterbe. Dass ich aber bei meiner nächsten Expedition umkomme, die ich im Frühling 1995 zum Nordpol unternehmen werde, halte ich für unwahrscheinlich. Ich werde alles tun, um den Gefahren auszuweichen. Wenn ich merke, es wird zu gefährlich, gebe ich auf. Ich habe viele Grenzgänge abgebrochen, kann mir das Scheitern ebenso wie die Kritik, ein störrischer Einzelgänger zu sein, leisten. Mit der Einstellung, Scheitern kommt nicht infrage, weil es meinem Image schadet, würde ich den Grenzgänger zum Todeskandidaten machen. Stolz und unnachgiebig bin ich nur den Menschen gegenüber, der Natur ordne ich mich unter. Ich bin einem körperlichen Veränderungsprozess unterworfen, werde schwächer, unbeweglicher, aber ich hoffe, dass ich mir die Fähigkeit erhalte, zu wissen, wie weit ich jeweils gehen kann. In diesem Punkt bin ich rechtschaffen bis zur Pedanterie.«
»Sie wollen überleben, sagen Sie. Davon gehe ich auch aus. Und trotzdem behaupte ich, dass hinter diesem Grenzgängertum eine geheime Todessehnsucht steckt.«
»Ich behaupte das Gegenteil, kann es aber nicht beweisen. Todessehnsucht wird von Außenstehenden sehr gern in das Tun des Grenzgängers hineininterpretiert. Aber gerade wenn jemand immer wieder an die äußerste Grenze geht, obwohl er Tragödien zu verkraften hat - ein Bruder von mir ist an einem Achttausender ums Leben gekommen, ein anderer in den Dolomiten tödlich abgestürzt, Freunde sind erfroren, an Erschöpfung gestorben -, lebt er doch Hunger nach Leben vor. Wie oft habe ich mit dem Rücken zur Wand gestanden! Wie oft habe ich keinen Ausweg mehr gesehen! Umzukommen wäre das Leichteste gewesen. Ich habe mich dagegen gewehrt. Also war es nicht Todessehnsucht, die mich antrieb. Mein Spiel heißt Durchkommen. Nicht Umkommen. Jedes Spiel hat Regeln, und die Regeln beim Grenzgang mache ich mir selber. Meine erste Regel dabei heißt: lebend zurückkommen. Wenn ich mich umbringen wollte, müsste ich nicht monatelang bei minus 40 Grad durch Grönland laufen oder unter höllischen Anstrengungen auf den Mount Everest steigen. Ich gehe weiter und behaupte, dass potenzielle Selbstmörder zum Leben zurückfänden, wenn sie sich derartigen Anstrengungen und Gefahren bei ihren Selbstmordversuchen aussetzten. Gefahr weckt Energie und Lebensfreude, wenn wir ihr Schritt für Schritt, in kleinen Dosierungen begegnen. In der Wildnis bemühen wir uns, trotz häufiger lebensgefährlicher Augenblicke nicht umzukommen. Kurz: Wenn ich mich umbringen wollte, dann nicht in der Antarktis, nicht am Nordpol und nicht am Mount Everest. Jetzt und hier wäre es einfacher.«
»Sie sind fünfzig Jahre alt. Wann beginnt für Reinhold Messner der Ruhestand?«
»Mit dem Tod. >Unsere Natur ist in Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod<, sagt Pascal. Also vorerst kein Ruhestand. Aber ich beginne mich damit auseinanderzusetzen, dass ich all das, was ich jetzt tue, früher oder später nicht mehr tun kann. Zweimal schon habe ich mich von einer Sparte des Grenzgangs in eine völlig andere verändert. Mit fünfundzwanzig bin ich vom Felskletterer zum Höhenbergsteiger umgestiegen. Beim Überleben in sauerstoffarmer Luft brauchte ich weniger Schnellkraft, dafür mehr Ausdauer. Mit fünfundvierzig habe ich nochmals den Beruf gewechselt und als Fußgänger einen Schlitten durch die Antarktis gezogen. Für dieses Unternehmen waren meine psychischen Kräfte in weitaus größerem Maße gefordert als meine physischen.«
»Einen Beruf nennen Sie das?«
»Was sonst. Gehen ist das, was ich am besten kann. Nur darin bin ich kein Dilettant. Gehen hat mit Lust, Wohlbefinden, Erkennen zu tun. Denn die Welt, durch die ich gehe, ist eine andere als die Welt, von der wir reden. Das gilt auch für unsere Innenwelt. Mit 45 Jahren verfügte ich über jenes Maß an Ausgeglichenheit, dass ich mich mir selbst auf einer Laufstrecke von 2800 Kilometern 90 Tage lang ausliefern konnte. Früher wäre ich vor so viel Weite und Leere an Angst erstickt.«
»Und was wollen Sie mit sechzig tun?«
»Ich werde noch einmal umsteigen. Nach der Vertikalen und der Horizontalen bleibt mir nur noch eine geistige Dimension. Dabei kann ich sogar sitzen. Und schlimmstenfalls verrückt werden.«
»Sie vertrauen letztendlich nur auf Ihre eigenen Kräfte. Sind Sie ganz im Innern ein Einzelgänger?«
Wer ich bin, glaubten viele zu wissen. Was ich aber denke und fühle, interessierte sie mehr. Mehr als das, was ich tue.
»Ich bin nicht immer allein unterwegs, und ich bin kein Einzelgänger. Ja, ich habe Alleingänge gemacht, verspüre einen starken Wunsch nach Autarkie und Autonomie, und gleichzeitig brauche ich Freunde. Vertrauensbeweise rühren mich zu Tränen, Vertrauensbrüche erschüttern mich nachhaltig.«
»Die Partner als Versuchskaninchen?«
»Mich interessiert, wie mein Gegenüber wirklich ist. Jede Maske fällt, wenn wir in einer senkrechten Felswand klettern oder der Alltag am Ende der Welt nur noch vom Kampf ums Überleben geprägt ist.«
»Was verbirgt sich hinter Ihrer Maske?«
»Zum Beispiel Kopflosigkeit. Selbstkontrolle musste ich mühsam lernen. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, dass ich mich in die Flucht nach vorne rettete, ohne Sinn und Verstand weiterkletterte, weil ich die Übersicht verloren hatte, keinen Ausweg mehr sah. Meine Ausstrahlung als ausgeglichene, souveräne Persönlichkeit steht auf den tönernen Füßen meines Wunschdenkgebäudes.
Auch bin ich ein ungeduldiger Mensch, und ich habe große Probleme, die Leistung anderer anzuerkennen. Ich kann motivieren, aber kritisieren kann ich besser.«
»Haben Sie noch Freunde?«
»Ja. Einen guten Freund kann ich nicht durch Kritik oder kopfloses Handeln verlieren. Sonst ist er kein Freund. Einen Freund verliere ich, wenn ich keine Zeit für ihn habe, wenn ich...
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