Kapitel 1
»Backe, backe, Kuchen, der Bäcker hat gerufen .« Ich singe mein Lieblingslied aus dem Kindergarten vor mich hin, während ich weiße Schokolade mit dem Sparschäler raspele, um meine fruchtige Erdbeer-Marzipan-Torte zu verschönern.
Backen macht glücklich. Mich jedenfalls. Wenn ich das leise Surren der Küchenmaschine höre, gerate ich in Hochstimmung. Am liebsten würde ich den ganzen Tag in der Küche stehen, in den vergilbten Kladden meiner Oma schmökern und lauter feine Tortenträume für meine Lieblingsmenschen zaubern.
»Bist du wieder fleißig, Mila?«, sagt eine sonore Stimme, und ein Schauer jagt über meinen Rücken. Mit klopfendem Herzen will ich herumwirbeln und dem Mann meiner Träume um den Hals fallen. Zwei starke Hände legen sich auf meine Schultern und halten mich fest. »Ich habe noch nie eine Frau wie dich kennengelernt, Mila.«
Auf diese Worte habe ich lange gewartet. Verzückt schließe ich meine Augen, schmiege mich an meinen Traummann und atme seinen vertrauten Duft ein, der sich schwer in Worte fassen lässt. Durch seine körperliche Nähe fühle ich mich beschützt und geborgen.
»Du riechst so gut! Nach frischen Früchten, Mandeln, Zucker und Rosenwasser. Für mich bist du eine zuckersüße Verführung.« Seine Zähne knabbern sanft an meinem Ohrläppchen, und die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich ganz von allein auf. »Weißt du, dass du mich ganz verrückt machst?«
Das leise Knurren törnt mich an.
Sein Atem geht schneller, und ich spüre eine raue Zunge über meine Haut gleiten.
Moment mal. Meine Alarmglocken läuten Sturm. Seit wann haben mich Männer zum Fressen gern? Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht!
»Bäh!« Mit einem lauten Schrei setze ich mich in meinem Bett auf und starre in die warmen braunen Augen meiner kleinen Sheltie-Hündin Amy, die es sich direkt neben mir gemütlich gemacht hat. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts verloren hast, Amy.«
Mein Liebling ist sich keiner Schuld bewusst. Mit einem betont unschuldigen Gesichtsausdruck räkelt sie sich auf dem weichen Zierkissen.
»Vollgesabbert hast du mich auch!« Angeekelt wische ich mir mit der Hand über den Mund und schlage die Bettdecke zurück, während Amy fröhlich aus dem Bett springt und mich erwartungsvoll anschaut.
Nach dem Mittagessen habe ich mich hingelegt, weil ich rasende Kopfschmerzen hatte. Allem Anschein nach ist sie der Meinung, dass meine Erholungspause vorbei ist. Nichts geht über einen langen Spaziergang an der frischen Luft.
»Wuff!«
Manchmal habe ich das merkwürdige Gefühl, dass Amy jedes Wort versteht. Natürlich ist das absoluter Quatsch. Schließlich ist sie nur ein Hund - zugegeben: ein sehr intelligenter und süßer Sheltie -, und jedes kleine Kind weiß, dass man Tiere nicht mit Menschen gleichsetzen darf. Trotzdem freue ich mich über die positiven Schwingungen zwischen Amy und mir.
Sanft wuschele ich ihr durch das seidenweiche Fell. »Natürlich geh ich gleich mit dir raus, Schätzchen. Ich will mich nur im Bad frisch machen und einen kleinen Artikel für meinen Blog schreiben.«
Amy muss nicht lange warten. Der Blogartikel ist schnell geschrieben:
Liebt ihr Pusteblumen? Sind sie für euch mit wunderschönen Kindheitserinnerungen verbunden? Meine Oma hat mir mal erzählt, dass man sich etwas wünschen darf, wenn man es schafft, mit einem einzigen Atemzug alle Samenschirmchen wegzupusten. Als Kind hat man tausend Wünsche - und heute? Wunschlos glücklich bin ich nicht, auch wenn sich mein größter Wunsch, der Traum von einem eigenen Hund, mit meiner Hündin Amy erfüllt hat .
Nachdenklich betrachte ich das Foto, das ich heute einstellen will. Es zeigt eine zuckersüße Szene, die im vergangenen Jahr auf einem Spaziergang entstanden ist. Mein Hündchen und ich posieren auf einer wildromantischen Streuobstwiese. Amy schnuppert an einer hauchzarten Pusteblume und schaut mich mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck an. Meine Lippen sind gespitzt, und man glaubt den leisen Hauch meines Atems zu sehen, während ich mich zu ihr hinunterbeuge.
Durch den silberweiß schimmernden Löwenzahn ist der gesamte Hintergrund in ein diffuses warmes Licht getaucht. Mit dieser Momentaufnahme kann ich zufrieden sein. Die hellen Sonnenstrahlen rücken nicht nur das wunderschöne Fell meiner treuen Freundin, das in den Farben Weiß, Rot und Schwarz schimmert, ins rechte Licht, sondern verleihen auch meinen eigenen Haaren, die zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden sind, einen goldenen Glanz.
Mit neunundzwanzig Jahren bin ich keine strahlende junge Schönheit auf Instagram, wie sie von Heidi Klum für ihre Sendung gesucht wird. Dennoch kommt meine natürliche Ausstrahlung bei meinen Abonnenten gut an. Wenn man so will, bin ich das klassische »Mädchen von nebenan«, mit dem sich jedes weibliche Wesen mühelos identifizieren kann.
Ich bin nicht perfekt und will es nicht sein, im Gegensatz zu meinem fotogenen Sheltie, der sich zum erklärten Liebling auf Social Media entwickelt hat. Diese gelungene Aufnahme spiegelt pure Harmonie von Mensch und Tier wider, und meine Follower werden von meinem neuen Post begeistert sein.
Seit zwei Jahren führe ich meinen Blog Hundherum glücklich. Wenn man im Netz unterwegs ist, malt man sein Leben in strahlenden Farben. In Wahrheit sieht es alles andere als rosig aus. Mein Dasein ist weit entfernt von Friede, Freude, Hundekuchen. Einen Traummann werde ich mir backen müssen. Im echten Leben gibt es nämlich weit und breit kein männliches Prachtexemplar, das mich zum Anbeißen findet.
Vor einem halben Jahr ist meine große Liebe dahingeschmolzen wie Kuvertüre im Wasserbad. Nach unserer Trennung hat mein Ex-Freund unsere gemeinsame Wohnung behalten, und ich bin mit Sack und Pack in mein altes Kinderzimmer in meinem Elternhaus gezogen. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man wieder in das vertraute Nest zurückkehrt, nachdem man den Absprung in die Freiheit geschafft hatte.
Auch beruflich gesehen läuft nicht alles bestens. Nach meiner Ausbildung als Bankkauffrau habe ich zwei Fortbildungen zur Bankfachwirtin und Bankbetriebswirtin absolviert. Unterm Strich haben sich diese Maßnahmen nicht gerechnet. In den vergangenen Jahren habe ich mich von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten gehangelt, und zum dreißigsten April werde ich meinen aktuellen Arbeitgeber verlassen und mir eine neue Beschäftigung suchen müssen.
Mit interessanten Stellenangeboten sieht es in meiner Heimat mau aus. In Zeiten der Digitalisierung sind viele Filialen geschlossen worden. Wahrscheinlich werde ich mich auf eine längere Durststrecke gefasst machen müssen. Von diesen Dingen müssen die Leser meines Blogs nichts wissen. Schließlich möchte ich sie nicht mit meinen privaten Problemen belasten.
Mit einem tiefen Seufzer speichere ich meinen Eintrag ab, drücke auf »Senden« und klappe den Laptop zu. »Komm, Amy. Heute haben wir genug an unserem Blog gesessen. Jetzt müssen wir uns auspowern.«
Amy und ich sind ein unzertrennliches Gespann. Wenn ich an meinem Laptop arbeite, ist meine süße Hündin immer an meiner Seite. Heute hat sie brav auf ihrem kuscheligen Hundekissen gelegen und vergnügt an einem Kauknochen genagt.
Nun spitzt sie ihre kleinen Ohren, läuft zum Flur und bringt mir ihre Leine, die ich auf der Garderobe liegen gelassen habe.
»Gut gemacht!«, lobe ich sie, während ich sie vorschriftsmäßig anleine, und Amy schaut mich mit glänzenden Augen an. Dann verlassen wir das Haus. »Ich bin so stolz auf dich!« Sie ist ein unkompliziertes Mädchen, das sich gut an veränderte Lebensumstände anpassen kann.
Bei unserer Rückkehr in mein Elternhaus sind Amy und ich mitten in den Alltag eines eingespielten Paares gepurzelt, das seine Freiheit genossen hat. Trotzdem haben wir es gar nicht so schlecht getroffen. Nach dreißig Jahren sind meine Eltern immer noch glücklich, und wir sind fest in ein harmonisches Familienleben integriert.
In aller Herrgottsfrühe unternehme ich immer einen kleinen Spaziergang mit Amy. Danach ist ein gemeinsames Frühstück mit meinen Eltern angesagt. Wenn ich mit meinem Auto zur Arbeit fahre, darf Amy bei meinen Eltern bleiben. Sie führen eine gemeinsame Hausarztpraxis in der Nähe meines Elternhauses, und sie können sich ihren Tagesablauf relativ frei einteilen. Auf diese Weise muss Amy nicht lange allein bleiben.
Früher hat meine Mutter Amy immer mittags aus der schicken Wohnung abgeholt, die mein Ex-Freund und ich gemietet hatten, und ich habe sie am späten Nachmittag wiedergesehen, wenn ich von meinem Arbeitsplatz direkt zu meinen Eltern gebraust bin.
Über dieses Arrangement war meine Mutter glücklich, weil sie selbst eine ausgeprägte Schwäche für Hunde besitzt und sich ihren Herzenswunsch in meiner Kindheit wegen ihres beruflichen Engagements als Hausärztin versagt hat.
Mein Ex-Freund hat die Verantwortung für ein Haustier nicht übernehmen wollen. Deshalb sind alle Pflichten, die mit der Haltung von Amy verbunden sind, an mir hängen geblieben.
Eigentlich geht es mir heute besser. Ich lebe in einem Haus, in einem hübschen Zimmer mit Vollpension und Familienanschluss, verbringe meine Freizeit mit Amy und kann meine Kröten für unsere gemeinsame Zukunft sparen. Als einziges Kind genieße ich die volle Aufmerksamkeit meiner Eltern und bin in einem Kokon von Fürsorge und Liebe geborgen. Dennoch wünschte ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen, wieder in meinen eigenen vier Wänden leben und mein eigenes Süppchen kochen - pardon: meine eigenen Hundekuchen backen.
Von meinem Elternhaus bis zu unserem Wäldchen sind...