Schweitzer Fachinformationen
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Die junge Antonietta wird nach ihrer arrangierten Heirat mit Don Lucio Carmine, dem Verwalter und Pachteintreiber von Ländereien und Stadthäusern, in dem stillen, verschatteten Haus in der Gasse nie glücklich werden. Don Lucio ist ein wortkarger und berechnender Tyrann, für den das Glück in der Gewohnheit liegt und im Geldverleih zu Wucherzinsen. Nicolina, Antoniettas jüngere Schwester, soll ihr den Umzug in die fremde Stadt erleichtern. Sie bleibt nach der Geburt des ersten Kindes bei dem Ehepaar und erniedrigt sich zur Dienstmagd. In ihrer Bewunderung für Don Lucio und in der Eifersucht auf das scheinbare Glück der Schwester wird sie zur fügsamen Geliebten des Schwagers. Schwelender Hass und eine tiefe Traurigkeit liegen fortan wie ein Schatten über diesem Gespinst von Abhängigkeiten, aus dem es kein Entkommen gibt. Nach ihren Erzählungen, mit denen sich Maria Messina in den 1910er-Jahren einen Namen machte und einen unverwechselbaren literarischen Ton entwickelte, veröffentlichte sie 1921 ihren ersten Roman, der ihren Ruf festigte: In Das Haus in der Gasse entfaltet sie ein klaustrophobisches Kammerspiel, das mit seiner großen poetischen Kraft auch uns Leserinnen und Leser gefangen nimmt.
NICOLINA saß auf dem Balkon und nähte. Rasch tat sie die letzten Stiche im schwindenden Licht der Abenddämmerung. Der Blick vom hohen Balkon war eingeengt, wie erdrückt zwischen dem zu dieser Stunde tief und düster wie ein leerer Brunnen wirkenden Gässchen und der weiten Fläche rötlicher und bemooster Dächer, auf denen ein niedriger, farbloser Himmel lastete. Nicolina nähte eilig, ohne aufzublicken. Sie spürte die Eintönigkeit der begrenzten Umgebung, als atme sie diese mit der Luft ein. Unwillkürlich musste sie an das Haus von Sant'Agata denken. Sie sah den kleinen Balkon mit dem verrosteten Eisengitter vor sich, davor die Weite der Felder und den freien Himmel, an dem die Wolken sich mit dem fernen, fernen Meer zu vermischen schienen.
Dies war für Nicolina der ruhigste, aber auch der melancholischste Augenblick des Tages. Alles war getan. Im Haus, in der Luft und im Gemüt entstand eine Ruhepause, eine betrübte Stille. Dann schien es so, als wären die Gedanken, die schmerzlichen Erinnerungen, die Hoffnungen, die einem in den Sinn kamen, in dasselbe ungewisse Licht getaucht, von dem auch der Himmel erhellt war. Und niemand unterbrach die vagen, im Leeren versickernden Selbstgespräche.
Antonietta saß im Zimmer an Alessios Bettchen. Er hatte seit sechs Tagen Fieber. Der Schwager blieb gewöhnlich am Tisch sitzen, wenn Nicolina abgedeckt hatte. Im Halbdunkel des Zimmers war die Glut der Pfeife zu sehen, ein kleiner roter Punkt. Nach dem Abendessen - sie aßen noch bei Tageslicht, um nicht mit vollem Magen ins Bett zu gehen - rauchte er ruhig und mit halb geschlossenen Augen eine Stunde lang, während das Uhrpendel an der Wand hin und her schwang.
Es wurde Nacht. Das letzte Licht schwand. Nicolina legte die Näharbeit wieder in den Korb und erhob sich ein wenig widerwillig. Sie musste das Glas Wasser vorbereiten, das der Schwager zwei Stunden nach dem Abendessen in kleinen Zügen zu trinken pflegte. Antonietta, die nur das kranke Kind im Sinn hatte, würde sich nicht darum kümmern.
Nicolina presste fast eine halbe Zitrone in das Wasser, achtete darauf, dass mit dem Saft kein Kern hineinfiel, goss nur so viel Wein hinzu, dass das Wasser sich leicht färbte, löste einen halben Teelöffel Zucker darin auf, schüttelte, rührte um und wartete, dass es sich setzte. Dann hielt sie das Glas gegen das Licht der Lampe, um sich zu vergewissern, dass das Getränk vollkommen klar war, genauso, wie es Antonietta immer zubereitete. Und schließlich trug sie das Glas behutsam auf einem Teller hinein.
Sie ging wieder auf den Balkon, aber der Schwager rief sogleich:
»Willst du auch noch krank werden? Es ist feucht draußen.«
Nicolina hätte gern erklärt, dass ihr die Luft ungewöhnlich milde vorkomme. Aber sie trat wieder ins Zimmer, ohne etwas zu erwidern.
»Mach die Tür zu.«
Seufzend schloss sie die Balkontür bis auf einen Spalt.
»Mach sie fest zu.«
Sie schloss auch die Fensterläden, geräuschlos.
Sie dachte an ihren Vater, der nie wollte, dass die Fenster fest geschlossen würden, und der zu sagen pflegte: »Der müde Wanderer, der nachts ins Dorf kommt, fasst Zuversicht, wenn er ein wenig Licht in den Häusern sieht .«
Sie setzte sich an den Tisch und nahm ihre Arbeit wieder auf, wobei sie sich bemühte, den Schwager mit ihren Handbewegungen beim Fädenziehen nicht zu stören. Carmelina, die ihre Spielsachen zur Tante hingeschleppt hatte, begann, eine Puppe aus zwei Stofflappen und einem Stück Bindfaden hin und her zu wiegen und dabei zu singen: »Schlaf . Schlaf .« Aber sie brach sogleich ab, blickte den Vater ein wenig ängstlich an und verstummte.
Da kam Antonietta, bleich und besorgt, und setzte sich zu ihnen.
»Gut, dass du an das Zitronenwasser gedacht hast«, flüsterte sie der Schwester ins Ohr.
»Du kamst ja nicht .«
»Weil du ja da warst. Da habe ich mir keine Sorgen gemacht.«
Und sie fügte halblaut hinzu, wobei sie die Kleine streichelte:
»Es ist Zeit, dass sie ins Bett kommt, oder was meinst du? Ich muss wieder zum Jungen.«
»Ich nähe das nur noch fertig. Dann kümmere ich mich um sie.«
Sie schwiegen. Meistens waren sie still, wenn sie arbeiteten und Don Lucio im Hause war, um ihn nicht zu verstimmen.
Antonietta, die eine quälende Unruhe verriet, unterbrach das lastende Schweigen zweimal durch tiefe Seufzer. Jedes Mal schaute Nicolina von der Arbeit auf und sah sie bekümmert an.
Don Lucio genoss das Rauchen mit beinahe wollüstiger Genugtuung. Mit halb geschlossenen Augen verfolgte er jede kleine Bewegung der Schwestern. Beide zeigten dieselbe Befangenheit in ihrer Art, sich auszudrücken, in ihren Bewegungen und Blicken, und dieselbe Unbeholfenheit, die von der ständigen unerklärlichen Furcht herrührten, ihn zu stören. Er empfand jedes Mal wieder eine tiefe Befriedigung, wenn er merkte, wie sehr er die beiden Frauen einschüchterte, vor allem Nicolina, die zu Anfang ungestüm und unangenehm lebhaft gewesen war.
Nicolina stand auf, und Carmelina folgte ihr, nachdem sie eilig die kalte harte Hand geküsst hatte, die der Vater ihr jeden Abend hinstreckte, ohne das Rauchen zu unterbrechen.
»Hol mir meine Papiere und die Brille.«
Antonietta brachte die mit Papieren vollgestopfte Aktentasche zum Tisch sowie das Kästchen mit den Federhaltern und das Tintenfass, die auf einem kleinen Regal am Balkon ihren Platz hatten. Selbstgefällig betrachtete Don Lucio seine Frau, während sie zweimal hin- und herlief. Er genoss die weichen Bewegungen ihrer breiten und vollen Hüften und war mit sich zufrieden, so wie jedes Mal, wenn er sich die Zeit gönnte und die teuren Möbel betrachtete, mit denen er das Haus ausgestattet hatte.
Nicolina kam herein und sagte:
»Ich bin bei Alessio gewesen. Er wimmert im Schlaf.«
Antonietta sah ihren Mann flehend an. Sie ging und kehrte sofort auf Zehenspitzen zurück.
»Lucio!«, rief sie schüchtern von der Tür her mit weinerlicher Stimme. »Ich glaube, es geht ihm schlechter!«
Er tat, als werde er wütend:
»Wollt ihr mich wieder ärgern?«, rief er. »Mir die wenigen Minuten vergällen, in denen ich mich ausruhen kann, nach einem anstrengenden Tag?«
Antonietta kehrte zerknirscht und betrübt ins Schlafzimmer zurück. Er glaubte ihr nie, wenn sie ihm ihre Ängste mitteilen wollte.
»Das ist meine Schuld«, gestand sie der Schwester, »ich habe nicht die richtige Art, die Dinge zu sagen .«
»Soll ich mit ihm reden?«
»Nein, das nützt nichts. Heute Abend ist er schlecht gelaunt. Geh nur, Nicolina. Sonst sieht es so aus, als hätten wir hier Heimlichkeiten. Das darf nicht sein.«
Aber an diesem Abend war Don Lucio friedlich gestimmt. Er hatte mit gutem Appetit gegessen, verdaute mühelos und war zufrieden. Was ihn als Einziges ein wenig störte, war, dass er seine Frau nebenan weinen hörte .
Schließlich erhob er sich und ging ins Schlafzimmer. Nicolina, die sich wieder an ihre Arbeit gesetzt hatte, wurde vor Angst blass.
Seine Frau saß, ganz dem Schmerz hingegeben, im Halbdunkel am Bettchen und sah beinahe schön aus. Don Lucio wollte sie umarmen, und schon meinte er, ihren warmen, weichen Körper in seinen mageren Armen zu halten und zu spüren, wie er sich gefügig seiner Umarmung hingab.
Antonietta jedoch war in diesem Augenblick weit davon entfernt, an Hingabe zu denken. Ihre ganze Seele war von dem kranken Sohn in Anspruch genommen.
Don Lucio betrachtete das Bettchen mit einer Art Widerwillen. Seit dieser Junge auf der Welt war, hatte er ihm nur Ärger und den Frauen nur Sorgen bereitet.
»Du Dummchen!«, rief er mit ungewöhnlich milder Stimme aus. »Glaubst du wirklich, dein Sohn liegt im Sterben?«
Antonietta zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Aber dann, als sie ihn lächeln sah, wagte sie zu erklären:
»Auch das Wasser spuckt er wieder aus. Und dann . fühl mal, wie heiß er ist .«
»Da sieht man, dass du keine Erfahrung hast!«, erwiderte Don Lucio, ohne den kleinen Kranken anzusehen. »Wenn deine Mutter jetzt hier wäre, würde sie dir sagen, du bist ein Dummchen. Kinder sind doch wie Aprilwetter .«
Antonietta fasste wieder etwas Mut. Die Gegenwart ihres Mannes schüchterte sie zwar ein, bewirkte aber auch, dass ihr all ihre Ängste klein und unbegründet erschienen.
Dieser Trost aber dauerte nur so lange, wie sich Don Lucio in der Nähe aufhielt. Als sie in dem halbdunklen Zimmer wieder allein war, wurde sie aufs Neue von der Angst überwältigt. Das Kind schien zu schlafen. Sein feines Gesichtchen war wachsbleich und erschreckte sie. Voller Schmerz blickte sie...
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