Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Grelles Sonnenlicht fiel durch das gotische Maßwerk und zauberte ein flüchtiges Schattenmuster auf die in den Boden eingelassene Grabplatte.
>Hier liegt ein armer Sünder. Bittet für ihn< war in den roten Marmor graviert. Kein Name. Kein Wappen, wie bei den anderen Gräbern. Oberhalb der Inschrift hatte man ein flaches Relief eingearbeitet. Es zeigte einen Totenschädel über gekreuzten Langknochen.
Anna war müde und zu warm angezogen. Das Plätschern des Springbrunnens im Innenhof ging ihr auf die Nerven. Sie hatte Kopfschmerzen. Ein sanfter Luftzug wehte den schweren Duft der üppig blühenden Rosenbüsche aus dem Garten bis in den letzten Winkel des Kreuzgangs. Sie hasste Rosen. Warum hatte sie sich diesen Job angetan? Schon wieder Tote.
Anna zog ihren Pullover über den Kopf und legte ihn auf die oberste Schachtel des Stapels Bananenkisten, in denen sie die Knochen aus den Gräbern aufbewahrte. Die Toten mussten ihre Ruhestätten räumen, um für die Rohrleitungen der neuen Fußbodenheizung Platz zu schaffen. Damit die Patres es kuschelig hatten in ihrer Kirche. Allerdings war die Ausgrabung keine große Sache, und sie konnte ihrem Freund, dem alten Pater Johannes, einen Gefallen tun.
Sie seufzte, streifte einen Handschuh ab und kniete nieder. Sorgfältig untersuchte sie den Rand der Grabplatte. Ein Schweißtropfen löste sich von ihrer Augenbraue und klatschte auf den heißen Marmor.
»Hier ist eine Scharte im Stein.« Sie wischte mit dem Handrücken über die Stirn und blickte hoch zu Pater Michael. »Hattet ihr die Gruft schon einmal offen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Anna stand auf, band die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und krempelte die Ärmel ihres karierten Hemds auf. Sie griff nach der Brechstange und setzte das breite Ende an der abgeschlagenen Stelle des Steins an.
Pater Michael legte einen Holzpfosten zurecht, damit sie das Grab in weiterer Folge offen halten konnten.
»Auf drei«, sagte sie.
»Drei!«, rief er.
Anna warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Stange. Sie mochte es, wenn sie ihre Kraft spürte. Sich lebendig fühlte. Knirschend hob sich der Deckel des Grabs. Dann traf es sie wie ein Schlag.
Sie ließ das Werkzeug fallen, stolperte nach hinten, hinein in die Schachteln mit den Knochen. Pinsel, Besen, Kellen und Putzeisen kollerten klirrend über den Steinboden.
Der Geruch war unverwechselbar. Süßlich und moschusartig vermischte er sich mit dem Duft der Rosen und blieb für immer im Gedächtnis haften.
*
Anna kauerte auf der steinernen Bank in der Nische, ganz hinten in einer Ecke des Kreuzgangs. Die Füße in den Bergschuhen eng an den Körper gepresst, umklammerte sie ihre Knie und beobachtete Pater Michael. Der stand in seiner schwarzen Soutane am anderen Ende der Galerie und sprach mit Polizisten in weißer Schutzkleidung. Er gestikulierte hektisch und deutete in die offene Grube, als zwei Männer einen grauen Metallsarg auf einem Wagen an das Grab rollten. Die Szenerie erschien Anna immer irrealer, und das Pochen ihres Herzens wurde lauter. Keine Panik. Atmen. Wo blieb Paul? Am Telefon hatte er gesagt, er sei unterwegs. Ausatmen. Die Luft tief einsaugen. Den Bauch spüren. Keine Panik! Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie befahl sich, ihre Aufmerksamkeit umzulenken und sich auf das Plätschern des Springbrunnens zu konzentrieren. Umso stärker nahm sie jedoch den Duft der Rosen wahr. Den Geruch, der ewig mit dem Bild des toten Priesters verknüpft sein würde. Er war auf dem Bauch gelegen. Sein aufgeblähter Körper hatte den schwarzen Anzug komplett ausgefüllt. Wie ausgestopft, hatte Anna gedacht. Sein Kopf war zur Seite gedreht. Sie hatte sofort erkannt, dass mit seinem Unterkiefer etwas nicht stimmte.
»Er hat einen Stein im Mund!«, hatte Pater Michael gerufen.
Der linke Arm des Toten lag eng an seinem Körper. Die Handfläche war nach oben gewandt, und seine Finger - den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt - bildeten eine sogenannte >Feige<.
Anna hob den Kopf und streckte sich wie eine Katze. Als ob sie so das Bild aus ihren Gedanken schütteln könnte. Da sah sie Paul, der den Kreuzgang betrat. Endlich. Auch er hatte sie bereits entdeckt, winkte ihr zu, blieb aber an dem offenen Grab stehen.
Major Paul Kandler war um Einiges kleiner als Pater Michael, er musste zu ihm aufsehen, als er ihm zuhörte. Er nickte, kniete sich an den Rand der Grube, stand auf, zog seine Jacke aus und blickte dabei immer wieder zu Anna. Der Gerichtsmediziner kam, stellte seine Tasche ab und mischte sich in das Gespräch. Pater Michael deutete auf Anna.
Sollte sie aufstehen? Zu ihnen hinüber gehen? Mitreden? Sie wollte sich bewegen, aber ihre Beine gehorchten nicht. Endlich kam Paul auf sie zu und wollte sich neben sie setzen, doch sie konnte nicht zur Seite rücken, um ihm Platz zu machen. Sie war wie gelähmt. Er stand vor ihr und blickte auf sie hinunter. Dann ließ er seine schwere Lederjacke auf den Steinboden gleiten und setzte sich auf den Boden. Den Rücken an die Bank gelehnt, blickte er in den Wandelgang.
»Was hast du hier verloren?«, fragte er.
»>Vermeiden Sie es, zu vermeiden< hat mein Therapeut gesagt.«
»Du hast die Therapie abgebrochen.«
»Nicht abgebrochen. Ich bin fertig damit. Den Rest schaffe ich alleine.«
Er drehte den Kopf nach hinten, um sie anzusehen.
»So schaust du aus«, sagte er.
»Wie schau ich aus?«
»Wie das Hendl unter dem Schweif.« Er zog eine kleine Blechdose aus der Innentasche seiner Jacke, bot ihr ein Pfefferminz an und nahm selbst eines.
»Nie wieder beschwere ich mich über den Geruch von Rosen«, murmelte Anna.
Er schwieg.
»Die wollen in der Kirche eine Fußbodenheizung einbauen«, erklärte sie. »Dazu brauchen sie neue Leitungen. Die Gräber liegen den Bauarbeiten im Weg. Die Skelette werden an einer anderen Stelle im Kreuzgang neu bestattet.«
Sie zerbiss das Zuckerl. Der Gestank war zum Geschmack geworden.
»Und den Job kann außer dir keiner machen. Weil du die einzige Archäologin in diesem Land bist.«
»Der Therapeut hat gesagt, ich soll mich meinen Ängsten stellen.«
Paul sagte nichts.
»Ich brauche das Geld«, sagte Anna.
»Deshalb hast du uns auch ein bisserl Arbeit verschafft?«, Paul schüttelte den Kopf und fragte: »Hast du dir den Toten angeschaut?«
»Zwangsläufig.«
»Was soll diese komische Haltung der Leiche?«
Anna hatte sich aufgerichtet, krempelte einen Ärmel hinunter, überlegte es sich anders und schob ihn wieder über den Ellbogen zurück.
»Bin ich Google?«, fragte sie.
Paul antwortete nicht. Er wartete. Anna seufzte und gab schließlich nach.
»Das ist eine Sonderbestattung«, murmelte sie.
»Ach ja!«
»Die Bauchlage ist für einen Wiedergänger normal.«
»Wiedergänger?«
»Wiedergänger.«
»Ist das eine Art Vampir?«, fragte Paul.
»Das ist kein Witz.«
»Das habe ich befürchtet.«
»Er hat einen Stein im Mund. Es gibt einen archäologischen Befund in Venedig .«
»Und die Handhaltung?«, unterbrach sie Paul.
»Das ist die sogenannte >Feige<«, erklärte Anna. »Eine Moorleiche, ein dänischer Fund .«
»Du hast das Grab gemeinsam mit Pater Michael geöffnet?«
»Wir haben dort angesetzt, wo der Deckel schon vorher geöffnet worden ist.«
»Und unsere Spuren zerstört.«
»Welche Spuren? Es ist eh klar, wie der Täter die Platte geöffnet hat!«
»Es müssen zumindest zwei Täter gewesen sein«, sagte Paul. »Die Abdeckung wiegt ein paar hundert Kilo.«
»Nicht unbedingt. Eine Brechstange, ein Holzpflock und ein Wagenheber. Dann mach ich dir das Grab auch alleine auf. Das ist alles eine Frage der Technik. Schaut euch die Kratzspuren auf der Höhe des Reliefs mit dem Totenschädel an. Dort hat er den Wagenheber angesetzt.«
»Damit kriegt er die Platte nicht hoch genug.«
»Mit dem Wagenheber von meinem Jeep funktioniert's.«
Anna beobachtete die Männer in den grauen Hosen und weißen Hemden, die den Transportsarg parallel zu dem geöffneten Grab ausrichteten.
»Pater Michael kennt die Leiche«, sagte Paul. »Er hat den Toten vergangenen Sonntag in den Zug nach Rom gesetzt. Sein Name ist Raffaele de Rossi. Pater Raffaele.«
»Da war er noch am Leben«, murmelte Anna.
Die Bestatter hoben den Leichnam aus der mittelalterlichen Grabkammer und ließen ihn in den schmalen Metallsarg plumpsen. Anna atmete hörbar aus. Sie war Archäologin. Sie hatte es mit sauberen Knochen zu tun. Nicht mit auftreibenden Gasen, Haaren oder ekelhaften Flüssigkeiten. Am schlimmsten war der Geruch. Sie würde sich verbrennen lassen. Am besten noch am selben Tag ihres Todes. Sie schluckte schwer. Paul reichte ihr das blaue Blechdoserl, und sie nahm ein weiteres Pfefferminz.
»Pater Michael hat ihn am Sonntag zum Südbahnhof gebracht«, wiederholte Paul. »Seit damals hat ihn niemand gesehen. Der Sedlacek meint .«
»Sedlacek?«
»Der Gerichtsmediziner. Der Sedlacek meint, Sonntag könnte als Todeszeitpunkt passen. In dem Fall wäre er seit bald einer Woche tot. Genaues kann er erst nach der Obduktion sagen. Aber wem erklär ich das?«
»Tu nicht, als ob ich eine von euch wäre«, beschwerte sich Anna.
Paul wollte erst antworten, fischte aber dann das läutende Handy aus seiner Jacke und stand auf....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.