Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wir führen nur sporadisch Buch. Es geht um die Denkwürdigkeiten.
23. September 1968
Fast dämmert es schon unter den hohen
Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit
den nahen Friedhofsbäumen verschränken.
Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch,
vermischt mit einem Hauch von Urin, über
den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse
und räumt das Leckereienkabäuschen auf,
sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln.
Während der junge Heilsarmeeoffizier zu
einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett
ansetzt, greifen wir entschlossen nach den
Kugelschreibern und setzen unsere Signa-
turen unter den Mietvertrag des Gebäudes,
der schon seit dem Morgen in doppelter
Ausführung vor uns auf den Badetüchern
liegt: Die Firma steht.
7. August 1969
Kurz vor Feierabend versetzt Alexander,
unser kaufmännischer Lehrling, die junge
Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein
richtiges Leben im falschen, habe er über
Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er
fragt grübelnd nach, ob es das "richtige"
Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser
Dasein schon von Grund auf "falsch" ange-
legt sei: sodass es eigentlich nur das falsche
im falschen geben könne: Was ja dann
aber, minus mal minus ergibt plus, durch-
wegs wieder zum "richtigen" führen müsse.
Die Belegschaft atmet auf, hörbar.
2. September 1971
Im Frühjahr entsteht neben dem florieren-
den Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn
Bahnen, was bei den Angestellten natür-
lich stets für unliebsame Ablenkung sorgt
und auch wochentags "viele Sportbegeis-
terte und Familien ans Schlageisen ruft", wie
der Berichterstatter des Tagblattes elegant
festzuhalten weiß. - Am Samstag, es nieselt,
ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den
Scheitelbereich.
16. Mai 1972
Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der
Frauenliga fährt vor - Schirmbild - und
macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind
die Männer an der Reihe, sie machen sich
schon im Freien oben frei. Einatmen. Still-
halten. Ausatmen. "Aufatmen", sagen die
Raucher und langen noch schnell nach einem
Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit
gehen. "Nach dem Durchleuchten der
Damen riecht es jeweils weniger streng im
Wagen als bei den Herren, Angstschweiß
halt", sagt der Fahrer, er raucht eine mit.
"Die strahlende Röntgenschwester hat uns
ja alles ganz leicht gemacht", sagen wir,
versenken die Kippen im Abwasserschacht.
19. Januar 1973
Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des
Prager Frühlings bei uns aufgenommen
und dann gern in der Firma behalten haben,
trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich
denn unter dem feinen Golddeckel verstecke,
wollen wir immer wieder von ihr wissen.
Sie widersetzt sich den Neckereien konse-
quent, "zieht den Eisernen Vorhang zu",
sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm
ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bild-
chen des jungen Jan Palach, der sich aus
Protest gegen den sowjetischen Einmarsch
auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat.
Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.
19. April 1975
Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offen-
sichtlich in geschäftseigenen Räumen
vollzogen worden, wir hätten darüber hin-
wegsehen können: Die beiden Beteiligten
zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter
unscharf das Firmenlogo. (Vom Foto-
grafen, der das Bild kurz nach Neujahr ans
Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.)
Wir haben Stellung beziehen müssen und
halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen
der gesamten Belegschaft verlässt das
Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoff-
nung die Kirche.
2. April 1978
In unserem Firmenkeller wird getrommelt
und geschwitzt. Mittwochnachmittags
ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit
drei Freunden und ihrem Schwermetall
zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet.
Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen,
was es heißt, wenn einem Hören und
Sehen vergehen soll. "Gezinst" wird auf den
1. Januar, ein Gratiskonzert für die Beleg-
schaft, so steht's im "Vertrag". Noch wissen
wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder
davor fürchten sollen.
7. Februar 1980
Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen!
Das Emailschild dräut über dem Geschäfts-
eingang unseres einzigen Untermieters, dem
permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen
sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und
seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin
aus Graz, entschließen wir uns, über der Tür
des eigenen Betriebes eine entsprechende
Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten
werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt
es uns mit einem Allwetterhut.
7. Januar 1981
Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass
in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe
Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die
einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche
ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt.
Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorge-
gangen bis zum Wohnzimmer: "Auf der
Ofenbank sitzt Großvater, Onkel Pepin auf
der Couch, Großmutter hantiert wie immer
in der Küche." Beim Erzählen steigen Irina
Tränen in die Augen: "Aber ich", sagt sie,
"bin eine andere geworden. Eine Fremde."
11. Juni 1981
"Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes
Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen
im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir
in meiner kulinarischen Unentschlossenheit
nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den
Sinn gekommen ist." - Fast habe er sich vor
dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt.
Überhaupt sei es einer seiner anregendsten
Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet
Karl, der langjährige Außendienstmitarbeiter,
bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma,
korrekt wie immer, durchfaxt.
12. Februar 1982
Der Freitag ist stets fleischlos bei uns.
Apfel- und Käsekuchen stehen zur Auswahl.
Die Kantinefrauen erhalten zum Schälen
Verstärkung aus der Produktionsabteilung.
Es gibt in letzter Zeit immer mehr Männer,
die sich zum Wettrüsten melden; Warte-
listen sind in Umlauf, da sich in der Firma
rasch herumgesprochen hat, wie lustig
es am runden Tisch jeweils zu- und hergeht
mit den scharfen Messerchen in der Hand.
Nur an den Guss und die Käsemischung lässt
Frau Grütter niemanden heran.
1. Mai 1984
Keiner wird gewinnen, KWG, soll, wenn es
nach dem frisch bestellten Betriebsrat geht,
unser künftiger Solidaritätsfond heißen:
Für Notfälle im engsten Firmenkreis. Ein
minimaler Lohnabzug erfolgt monatlich und
verbleibt in den betriebseigenen Beständen.
Einzig Kneuss, der dem neuen Gremium
als Beisitzer angehört, ist skeptisch, hat er
doch in seiner Stammkneipe schon während
Jahren in eine gemeinsame Kasse einbezahlt,
den Jackpot aber bis heute nicht geknackt.
15. Oktober 1984
Herr Kamber kehrt aus der Rehabilitation
zurück, noch etwas bleich im Gesicht, aber
wieder sicher auf den Beinen. Sein künst-
licher Ausgang ist vernäht, die Narben sind
verheilt. Es stehen Hortensien auf seinem
Tisch. "Schnell delegierst du als Kranker
dein Elend an einen anderen in dir. Kontrast-
mittel bringen ihn zum Leuchten, den Fins-
terling. Und schon fast gelassen, betrachtest
du dann dessen Befunde", sagt Kamber und
fügt mit einem nur schwer einzuordnenden
Lächeln hinzu: "Beträfen sie dich tatsächlich,
du hieltest dem Schmerz gar nicht stand.
So aber überlistest du ihn. Mit Erfolg, wie ihr
seht. Und, danke für die Blumen!"
12. Juni 1985
Während der kürzer werdenden Frühsommer-
nächte arbeitet es in uns allen unheimlich
emsig weiter. Bis zum Morgengrauen sehen wir
uns jeweils von lauter Packmaterialien umstellt.
Uneingeweihte würden vermutlich von einem
eigentlichen "Schachtelparadies" sprechen und
unseren hohen Ein- und Umsatz loben, wir aber
verschweigen selbst den Allernächsten gegen-
über diesen kollektiven Albtraum. Aus asch-
grauem Karton. Denn die Arbeit ruft.
23. September 1988
Zu unserem Firmenjubiläum fahren wir
mit der alten Fortuna fast vollzählig auf den
nahen See hinaus....
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