Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Luciano
Luciano saß auf der Bank vor dem kleinen Steinhaus, das oberhalb des elterlichen Hofes lag. Ein sanfter Wind wehte ihm den Duft von wildem Thymian und Rosmarin um die Nase. Es war immer noch warm. Während er dem Gesang der Zikaden lauschte, blickte er hinauf nach Il Nido, das wie ein Vogelnest auf dem Felsen rechts von ihm lag, den die untergehende Sonne zum Leuchten brachte. Hinter dem kleinen Ort erstreckte sich das Madoniegebirge mit seinen kargen Steinlandschaften. Zu seiner Linken reichte sein Blick über den abfallenden Hügel, auf dem wie hingestreut einzelne Höfe lagen, bis zum Meer.
Luciano liebte diese Stunde, wenn die Geräusche des Tages leiser wurden, wenn sich der aprikosenfarbene Himmel über Sizilien langsam in ein immer dunkleres Violett färbte. Doch an diesem Abend war alles anders. Vor drei Tagen hatte er erfahren, dass er bald arbeitslos sein würde. Die Autowerkstatt in Cefalú, wo er schon seine Lehre gemacht hatte, würde schließen. Carlo war im Alter von fünfzig völlig unerwartet verstorben.
Nach einem tiefen Seufzer zog er an seiner Zigarette und stieß den Rauch scharf aus. Er wusste, dass sich sein Leben fortan verändern würde. Er wusste nur noch nicht, in welche Richtung. Erleichternd war, dass er bei seinen Plänen weder auf eine Ehefrau noch auf Kinder Rücksicht nehmen musste. Er konnte überall hingehen, um zu arbeiten.
Luciano blickte den Hang hinunter zum elterlichen Hof, von dem das Singen seiner Mutter und das Lachen seiner beiden Neffen zu ihm heraufklangen. Seine Familie wusste noch nichts von seiner Situation. Er hatte seine Mutter nicht beunruhigen wollen.
Ein Geräusch, das nicht in die ihm vertrauten Geräusche der Natur passte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand auf und trat die Zigarette aus. Ein Motorroller kam die sich windende, schmale Straße herunter. Er zog eine lange Staubwolke hinter sich her. Luciano erkannte den Fahrer auf den ersten Blick. Es war der Sohn des Barbesitzers aus Il Nido. Der Sechzehnjährige bog in den Weg ein, der zu Lucianos kleinem Rustico führte.
»Buona sera, Luciano, come stai ?«, rief der Junge ihm zu.
»Bene«, antwortete Luciano mit plötzlich pochendem Herzen. Mit einem Mal spürte er eine unbestimmte Unruhe in sich - eine Ahnung, dass etwas geschehen war, das Auswirkungen auf sein Leben hatte.
»Du sollst deinen Onkel in Deutschland anrufen. Es ist dringend.«
»Ich komme sofort«, erwiderte Luciano und lief hinein, um seinen Motorradschlüssel zu holen.
Als er am elterlichen Hof vorbeifuhr, rief sein Bruder ihm erstaunt zu: »Wohin fährst du ? Wir essen in einer halben Stunde.«
»Bin gleich zurück.«
Eine Viertelstunde später fuhr Luciano die steile Straße von Il Nido wieder hinunter - und fühlte sich wie neu geboren. Vom Himmel funkelten ihm die ersten Sterne zu, als wollten sie ihm gratulieren, und von Weitem schon wehte ihm der köstliche Duft von Pasta con le sarde entgegen. Pasta, Sardinen und wilder Gebirgsfenchel - nach dem Rezept seiner Mutter zubereitet - war sein Lieblingsessen. Seine Familie saß bereits an dem langen Holztisch unter der mit Wein bewachsenen Pergola im Innenhof.
»Na, endlich !«, rief sein Bruder missmutig. »Wir haben Hunger.«
Maria, die Frau des Bruders, brachte den Korb mit der noch ofenwarmen Focaccia. Seine Mutter stellte eine große Platte mit pomodoro verde auf den Tisch. Silvio schenkte den Nero d'Avola ein, den er selbst erzeugte, während sich seine Söhne lautstark über die neuesten Fußballergebnisse stritten.
»Gabriele, Matteo - basta !«, rief ihre Nonna sie zur Ordnung, woraufhin die beiden sofort verstummten.
Luciano musste lächeln. Jeder hatte vor seiner Mamma Respekt.
Nachdem seine Mutter das Gebet gesprochen hatte, machten sich alle nach ihrem harten Arbeitstag über die grünen Tomaten mit Olivenöl her. Violetta Pasini richtete ihren Blick auf ihren jüngsten Sohn. »Warum bist du hoch in den Ort gefahren ?«
»Onkel Cesare hat in der Bar angerufen«, antwortete Luciano, nachdem er einen Schluck Rotwein getrunken hatte.
»Was wollte er ?« Die großen schwarzen Augen seiner Mutter hatten bis heute nicht an Feuer verloren. Unter diesem prüfenden, ja geradezu warnenden Blick fühlte sich Luciano zurückversetzt in seine Kindheit, als hätte er etwas Verbotenes getan, was nicht im Sinne seiner Mutter gewesen war.
»Onkel Cesare hat mich gefragt, ob ich für Antonio einspringen kann. Er muss ins Krankenhaus. Eine Magenoperation. Onkel Cesare will in einer Kleinstadt unterhalb von Bonn einen zweiten Eissalon eröffnen. Um die Nachfrage zu testen, ist Antonio seit ein paar Wochen für vier Tage die Woche dort mit dem Eiswagen unterwegs.«
Silvio, den so schnell nichts vom Essen ablenken konnte, blickte ruckartig vom Teller auf. »Aber du musst doch arbeiten.«
Luciano atmete tief durch. »Nur noch bis Samstag. Danach bin ich arbeitslos. Die Tochter von Carlo, Gott hab ihn selig, hat die Räume der Kfz-Werkstatt kurzfristig als Lagerräume an den Fischereibetrieb vermietet.«
Seine Mutter ließ das Besteck fallen und bekreuzigte sich. »Madonna ! Und was jetzt ?«
Silvio sah ihn vorwurfsvoll an. »Warum hast du uns das nicht erzählt ?«
Luciano hob die Schultern. »Ich wollte euch nicht beunruhigen.«
»Woher weiß Onkel Cesare denn, dass du Zeit hast ?«, erkundigte sich Silvio.
»Von Antonio. Ich habe ihn letzte Woche an seinem Geburtstag angerufen, weil ich vergessen hatte, eine Karte zu schicken.«
»Und jetzt willst du wirklich nach Deutschland und für deinen Vetter einspringen ?«, fragte Violetta, und ihre Missbilligung war nicht zu überhören.
»Montag fange ich an.«
»Madonna ! Dann musst du ja schon in vier Tagen fahren ! Und so weit weg ! Für wie lange denn ?«
»Vier Wochen. Bis Ende Juni.«
Wie nicht anders zu erwarten, begann Lucianos Mutter zu weinen. »Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt. Wer weiß, was in diesen vier Wochen alles passieren kann.«
Silvio legte eine Hand auf ihren Arm. »Mamma, wenn Luciano ab nächster Woche arbeitslos ist, passt das doch. Vielleicht kann er ja bei Onkel Cesare länger arbeiten als nur vier Wochen. Dann ist er abgesichert. Kein Mann will untätig herumsitzen, das musst du verstehen.«
»Nein, das hat er klargestellt«, wiegelte Luciano alle Hoffnungen seines älteren Bruders ab.
Violetta setzte sich aufrecht hin. Obwohl sie klein und rundlich war, strahlte sie etwas Hoheitsvolles aus. Ihre Augen sprühten Blitze. »Meine Kinder müssen nicht für Cesare arbeiten. Luciano wird auch hier Arbeit finden. In Palermo oder Catania.« Sie beugte sich vor, und ihre volltönende Stimme rutschte eine Oktave höher. »Wisst ihr, was euer Onkel Cesare ist ? Un egoista. Cesare hat seinen einzigen Bruder - meinen Mann und euren Vater - allein gegen die Tedeschi kämpfen lassen und ist dann auch noch zu denen gegangen, um dort reich zu werden.«
»Vergiss nicht, Mamma, dass Onkel Cesare uns nach Vaters Tod finanziell unterstützt hat«, erinnerte Silvio, der sonst nur wenig sagte, seine Mutter. »Die neue Ölmühle und den Traktor hätten wir uns ohne ihn nicht leisten können.«
»Taci !«, schnaubte Violetta mit wegwerfender Bewegung. »Und was ist mit Sophia ?«, wandte sie sich mit herausforderndem Blick an Luciano.
Alle sahen sie an, auch Luciano. Dieser spürte, wie die Wut in ihm hochstieg.
»Sie wird dich vermissen, wenn du nach Deutschland gehst, und dich danach vielleicht nicht mehr wollen.«
Er atmete einmal tief durch, bevor er ruhig, aber entschieden antwortete: »Mamma, lass bitte Sophia aus dem Spiel.«
Dummerweise hatte Sophia seiner Schwester Carlotta, die mit Sophias Onkel verheiratet war, anvertraut, dass er etwas mit ihr gehabt hatte - zweimal eine gemeinsame Nacht, jeweils nach einem Fest und zu viel Wein. Carlotta hatte diese Neuigkeit prompt in der Familie herumerzählt, die nun nur allzu gerne glauben wollte, dass aus ihm und der Nichte seines Schwagers Alessandro ein Paar würde.
»Du bist in dem Alter, in dem du eine Familie gründen solltest«, fuhr seine Mutter ungerührt fort. »Sophia wäre die richtige Frau für dich. Sie ist Sizilianerin, jung und schön. Nun gut, sie hat nicht den besten Ruf, aber sie gehört zur Familie. Und sie wird bestimmt einmal eine gute Mutter werden.«
Lucianos Halsschlagader begann zu pochen. Er wollte jetzt keinen Streit anfangen. Er liebte seine Mutter, sie meinte es nur gut mit ihm. Aber seine Zukunft würde er selbst gestalten. So griff er zum Glas und spülte die unwirsche Entgegnung, die ihm auf den Lippen lag, mit ein paar Schlucken Rotwein herunter.
»Sophia !« Sein sechzehnjähriger Neffe Gabriele verdrehte verzückt die Augen. »Bella Sophia . Jeder Mann aus Il Nido läuft ihr nach.«
»Und sie läuft Terzo nach«, fügte sein jüngerer Bruder Matteo grinsend hinzu.
»Jetzt nicht mehr, der ist ja als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen«, erwiderte Gabriele, bevor er sich ein Stück Focaccia in den Mund schob.
»Seid still !«, wies ihre Mutter die beiden zurecht. »Ihr seid noch zu jung für so etwas.«
»Sind wir nicht«, begehrten beide Jungspunde gleichzeitig auf.
»Adesso basta !«, sprach da ihre Nonna ein Machtwort, woraufhin beide sofort schwiegen.
»Ich hoffe, du verstehst, dass ich hier auf dem Hof keine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.