No-Touch-Policy
Auch die beiden Amerikanerinnen, die hinter mir sitzen und für MIT, Medical Teams International, irgendwo im Landesinneren zum Einsatz kommen werden, werfen gelegentlich einen Blick nach draußen. Während sie schlafen, entdecke ich bei der, die direkt hinter mir sitzt, ein wie ein kleines Maskottchen an ihrem Rucksack befestigtes Desinfektionsfläschchen, um das ich sie sofort beneide. Ich habe selbst keine Desinfektionsfläschchen gefunden, die man einfach so unauffällig in der Hosentasche tragen kann und also sofort griffbereit hat. In der Erwartung, ich würde in Liberia jede Bewegung, jeden Handgriff, jede auch noch so beiläufige Berührung immerzu mit einem Griff zur Desinfektionsflasche beantworten. Die Tür in einem Restaurant oder in einem Hotel, die versehentliche Berührung des Türgriffs eines Taxis, das unnötige Abstützen auf einer Mauer in der Nähe eines Krankenhauses oder überhaupt Oberflächen im gesamten Land, ob sie nun trocken sind oder nass, kühl oder sonnenbeschienen. Der sofortige Griff zum Fläschchen wäre die unweigerliche Folge, die notwendige Konsequenz. Schon mit Seife lässt sich das Virus ganz gut bekämpfen. Desinfektionsflüssigkeit aus dem A- und B-Bereich, die ausreichend viruzid sind, überlebt er garantiert nicht. Die Amerikanerinnen sind besser vorbereitet. Schon wenig später im Bus, den es neuerdings gibt und der einen direkt zu dem kleinen Flughafengebäude bringt, greift eine der beiden pummeligen, kleinen Frauen ganz unauffällig, wie eingeübt, nach dem kleinen am Rucksack festgemachten Fläschchen, und blitzschnell sind die kontaminierten Handflächen desinfiziert, wobei der eigentliche Kontakt mit dem Land, mit Liberia, mit dem Virus, ja noch bevorsteht. Desinfiziert sie sich die Hände, weil sie hinter mir gesessen hat? Ich habe zugegebenermaßen fast ununterbrochen gehustet. Schon bei der Zwischenlandung in Brüssel erwartete ich, dass einer der Tropenärzte der Bundeswehr zu mir kommen würde, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass sich diese Symptome gar nicht gut anhören und ich doch besser zu Hause bleiben sollte. Tatsächlich ist nach diesen Wochen ständiger und mitunter panischer Angst die Furcht am größten, ich könnte krank werden und die Reise, deren Vorbereitung mich so viel Kraft gekostet hat, gar nicht mehr antreten. Die Amerikanerinnen reinigen sich, desinfizieren sich, die eine reicht das Fläschchen diskret an die andere weiter, es ist mit einem Clip am Rucksack befestigt. Die Amerikanerinnen fassen die Plastikhandschlaufen des Zubringer-Busses nicht an, sondern desinfizieren ihre Hände. Ich fasse die Plastikschlaufen an und desinfiziere meine Hände nicht. Ist das schon der erste Fehler?
Es ist stockdunkel und weniger heiß als erwartet, es regnet sogar ein bisschen. Und dann kommt die große Begrüßungsshow. Die fröhlichen Ladies vom Flughafenpersonal. Die Gatekeeperinnen. Liberia will keine Ebolapatienten, es hat schon selbst genug. Also werden wir jetzt alle erst mal kontrolliert. Das kleine bescheidene Flughafengebäude Monrovias, Roberts International Airport, das mich immer an eine Filmkulisse aus einem Agententhriller aus den 50er Jahren erinnert hat, wenn man sich ihm zu Fuß vom Flugzeug aus nähert, hat sich jetzt in ein Kreiskrankenhaus verwandelt. Links und rechts vom Eingang stehen auf Holztischchen erhöht aufgebaut Eimer mit Chlorlösungen, und daneben stehen Frauen, die wie eine Mischung aus Stewardessen, Krankenschwestern und Polizistinnen aussehen, und messen die Temperatur. Welcome to Liberia. Die Stimmung ist angenehm locker, ich wasche mir die Hände, habe also den Desinfektionsvorsprung der Amerikanerinnen wieder eingeholt, und stelle mich in die Schlange zum Fiebermessen an. Davon hat man schon gelesen. Aber es ist trotzdem eine ganz besondere Erfahrung. Richtig gut fühle ich mich nicht. Es ist doch ziemlich heiß, ich bin müde und ich frage mich, ob der Fahrer, den mir Pandora schicken wollte, auch wirklich da ist und was mich dort, jenseits des Flughafengebäudes, in der liberianischen Wirklichkeit erwartet. Ebola?
Die Völkerwanderung, zu der wir alle gehören, kommt zum Stillstand. Brillenträger nehmen ihre Brille ab, das Metallgestell einer Brille könnte das Ergebnis verfälschen und zu einem Messfehler führen. Mützenträger heben ihre Mützen hoch, besonders große Menschen müssen sich etwas herunterbeugen. Die Infrarotthermometer, die ein bisschen wie Tackerpistolen aussehen, sind relativ unzuverlässig, wie sich noch herausstellen wird. Sie werden in einem Abstand von ca. 10 cm an die Schläfe gehalten, und dann wird in absoluter Blitzgeschwindigkeit das Ergebnis präsentiert, manchmal in höflicher Diskretion, indem der Messende das Display umdreht und einem das Ergebnis wortlos vor Augen hält. Kein Fieber. Ich habe es geschafft. Ich bin im Ebola-Land. »Bist du eigentlich verrückt?«, hatte einer meiner Freunde gesagt. Aber ich bin nicht verrückt. Ich habe nur Angst. 36,6 Grad Celsius. »Thank you. Welcome to Liberia.« Und dann beginnt das ganze Transportchaos, denn ich finde den Fahrer nicht und muss mir das Diensthandy eines Bundeswehroffiziers ausleihen, um Pandora anzurufen. »Kannst du ihn denn nicht sehen?«, ruft sie durchs Telefon. »Er ist da. Er steht bestimmt direkt vor dir.« Der Fahrer, der mich abholen soll. Es heißt, er führe nicht ohne mich. Wie Pandora mantraartig immer wieder ins Telefon sagt. Und in dem Trubel dieser monumentalen Massenankunft, Hunderte von Epidemiologen, Krankenschwestern, Tropenmedizinern, Labordiagnostikern, Amerikanern, Chinesen (mit Mundschutz), Journalisten, Soldaten, Beratern, vereinzelten Liberianern (am besten gelaunt, besser als die Flughafenmitarbeiter) und unzähligen konfus die Laufbänder überschwemmenden Koffern, verliere ich erst den Überblick und dann beinahe die Nerven. »Wir nehmen Sie mit«, sagt jemand von der Bundeswehr und lächelt freundlich. »Nein«, ruft Pandora ins Telefon. »Bleib da. Er fährt nicht ohne dich. SIEHST du ihn nicht?« Dabei bin ich doch schon mal hier gewesen. Ich sehe doch alles. Ich kenne mich doch aus. Ich werde doch den Fahrer finden. »Sie können gerne mit uns kommen. Kommen Sie«, sagt der Mensch von der Bundeswehr. Doch ich muss in diesem Moment Liberia und Pandora treu bleiben. Beweisen, dass ich Vertrauen habe, obwohl die Angst schon wieder überhandnimmt. (Ein Zimmer im Palm Spring Hotel kostet 250 Dollar, und die meisten Hotels sind wahrscheinlich schon ausgebucht.) »Wo?«, schreie ich fast. »Ich sehe ihn nicht.« Ich sehe überhaupt niemanden. »Hier ist absolut niemand.« Dabei ist hier die Welt zu Gast, die Retter aus aller Herren Länder. Sie sind gekommen, um dem geschundenen Land zu helfen. Pandoras Stimme dagegen hört sich alles andere als geschunden an. »Dreh dich um! Wo bist du ... Siehst du ihn nicht?« Dabei ist sie selbst eine gute Autostunde entfernt. Sie tut so, als hätte sie alles unter Kontrolle, während ich schon bei der Ankunft die Kontrolle über meine Bewegungen verliere und jetzt in der Erinnerung nicht mehr weiß, wen, was und ob ich überhaupt irgendetwas angefasst habe. Ganz zu schweigen, dass ich meine viel zu große, unhandliche Desinfektionsflasche nicht finde, sie ist irgendwo im Rucksack verborgen. Fass dich nicht an. Und dann steht plötzlich der Fahrer vor mir mit gequältem Gesichtsausdruck und einem großen Schild, auf dem aber nicht mein Name steht. »Ja, ja«, sagt er. »Richtig, genau«, sagt er, und dann steige ich ein.
Der Flughafen ist das Drehkreuz, wo sich das Virus auf den Weg macht, sagt der Bio-Theoretiker Jürgen Brockmann. Von hier aus entscheidet sich, in welche Richtung es sich bewegt und ob es das überhaupt schafft, aus dem Land, in dem es wütet, herauszukommen. Wir sind jetzt alle hier, um das zu verhindern. (Die Schwedin, die für das norwegische Radio berichtet, der Tracing-Experte von CDC, dem Center for Desease Control and Prevention, oder die Leute vom Roten Kreuz und der Bundeswehr.) Kratz dir nicht die Nase, wisch dir nicht übers Gesicht. Halte Abstand. Auf der Fahrt in die Stadt halte ich meine Hände so, als säße ich in der Kirche. Die Gebetshaltung stellt sicher, dass die Hände sich daran erinnern (und dass sie sich gegenseitig berühren, ist ja okay), nichts anzufassen und schon mal gar nicht das Gesicht. »Siehst du«, sagt Pandora, als sie wenig später den Fahrer anruft, der mir sein Telefon nach hinten reicht. (Ich fasse das Telefon an und halte es ans Ohr, und das könnte schon der zweite Fehler sein.) »Ich habe es dir doch gesagt.« Und dann kommt der traurigste Moment. Nach der Fahrt durch die tropische Nacht, die einem so sanft den Fahrtwind um den Kopf weht. Man kann seine Freunde nicht umarmen. Oder: Man umarmt seine Freunde nicht. Aus Angst. »Natürlich kannst du deine Freunde in Liberia umarmen«, hat Charles noch gesagt. »Wenn sie keinen Kontakt mit Kranken haben.« Aber Charles ist in Rom, auf einem Hügel, und hält sein Gesicht von der Sonne weg und will dann schließlich weiter spazieren. »Das ist doch Quatsch«, sagt Pandora über die Ellbogen-Begrüßung, die ich von den Bundeswehrsoldaten gelernt habe. Ich treffe in acht Tagen keinen Einzigen, der sie praktiziert. »Welcome to Liberia«, sagt Pandora, aber sie sagt es mit der Wärme und Fröhlichkeit, die ihr eigen ist, und wenig später ist der Moment der Umarmung, auf die wir verzichtet haben, wieder vergessen. Ruhe und Frieden kehrt ein. Pandoras Nichte ist da. Comfort. Wir essen. Die Hitze ist jetzt nur noch ein zusätzlicher ungebetener Gast, genauso wie das Virus, das jetzt fürs Erste gebannt zu sein scheint. Charles war lange in Liberia. Ihm verdanke ich die Erkenntnis, dass die Liberianer zwar relativ unzugänglich und schroff sind, dafür aber eine besondere Gabe haben: ein großes Durchhaltevermögen,...