Krebs und der Feind allen Lebens und aller Freude
Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass diese Idylle in meiner Kindheit nicht lange gehalten hat. Sonst wäre ich nicht die Person, die ich heute bin, und dieses Buch wäre nie entstanden.
Es begann damit, dass meine Oma immer öfter ins Krankenhaus musste. Sie hatte einen bösartigen Tumor, der so versteckt in einer Dünndarmschlinge lag, dass die Ärzte ihn viel zu spät entdeckten. Er hatte bereits gestreut. Dennoch versuchte man es mit Bestrahlungstherapie. Nun stellte sich die Frage, wer aus unserer Familie meine Oma pflegerisch unterstützen konnte, und die Wahl fiel auf meine Mutter. Meine Tante kam wegen eigener gesundheitlicher Belastungen nicht infrage, mein Onkel wohnte für eine so aufwendige Pflege viel zu weit weg und hatte ein Weingut zu verwalten.
Deswegen zogen wir, als ich sechs Jahre alt war, in das Mehrgenerationenhaus meiner beiden Omas um. Oma, Opa und Uroma im Erdgeschoss, wir in der Mitte und über uns meine Tante und ihre beiden Kinder. Meine Freunde wohnten mit einem Mal sehr weit entfernt. Weit weg von meinem gewohnten Umfeld und losgelöst von den spielerischen Zeiten mit den Großeltern in der Vergangenheit, begann ich, die Umgebung im Haus meiner Großeltern anders wahrzunehmen. In unserer Nachbarschaft wohnten alte Menschen und wirklich furchteinflößende Landwirte mit einem sehr bissigen Hund, der jedes Mal gegen den stark nach außen gewölbten Zaun sprang, wenn wir vorbeiliefen. Es schepperte gewaltig und meine kleine Schwester und ich waren uns nie sicher, ob der Zaun dieses scheinbar seelenlose Geschöpf überhaupt aufhalten konnte. Unsere Nachbarn hassten Kinder und drohten uns mit der Mistgabel, wenn wir zu nah an ihr Grundstück kamen. Die Straße vor unserem Haus war die Hauptstraße des Dorfes. Dort fuhren die Autos sehr schnell vorbei und es gab immer Verkehr.
Ich war mit der Situation überfordert und fühlte mich einsam. Die Stimmung im Haus war nun mehr bedrückend als einladend. Von der fröhlichen Atmosphäre, die ich als kleines Kind mit meinen Großeltern erlebt hatte, schien nicht mehr viel übrig zu sein. Dennoch gestaltete meine Mama mit aller Liebe unser Kinderzimmer. Wir hatten ein Hochbett, eine wundervolle Wandbemalung mit Tieren, die mit einem Fahrrad über einen Regenbogen fuhren, und eine Hängematte. Es gab viele Kisten mit schönen Spielsachen und Papa hatte eine Tellerschaukel an die Decke unseres Zimmers montiert, mit der wir wie wild im Raum umherschaukeln konnten. Diese kleine Idylle war wie eine Insel in dem stürmischen, unbarmherzigen Meer, in dem ich mich nun befand.
Immer häufiger wurde ich gebeten, mich um meine kleine Schwester zu kümmern. Und auch meine Hausaufgaben galt es zu erledigen, doch es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mama saß oft bis spätabends mit mir an den Aufgaben. Doch sonst war sie immer schwerer für mich zu erreichen. Manchmal hatte ich eine Frage und ging auf die Suche und fand sie einfach nicht.
Der Stress durch die Pflege ihrer eigenen Mutter begann sich in meiner Mama immer deutlicher zu zeigen. Irgendwann sprach er aus ihr heraus. Sie war ungeduldig mit mir. Sie band mich immer mehr in Verantwortlichkeiten ein, hatte aber gleichzeitig keine Zeit, um mir zu erklären, was sie von mir forderte. Ich war häufig verunsichert darüber, was ich zu tun hatte. Es gab keinen festen Plan oder Absprachen, alles musste spontan irgendwie funktionieren. Sie kam oft herein und ärgerte sich über etwas. Wie etwa, wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt oder das Zimmer nicht aufgeräumt war. Es war, als erwartete sie von mir, ihre Gedanken und Wünsche zu kennen, ohne sie vorher ausgesprochen zu haben. Dann war sie enttäuscht, wenn sie nicht das gewünschte Ergebnis vorfand. Das konnte schon bei scheinbar unbedeutsamen Kleinigkeiten so sein. Manchmal machte ich Dinge nicht, weil ich nicht daran gedacht hatte oder weil ich dazu eine Frage hatte. Aber für Fragen war keine Zeit. Es musste einfach irgendwie weitergehen. Meine Mama hatte selbst nicht richtig gelernt, Bedürfnisse zu kommunizieren. Das fehlte uns nun im Umgang miteinander.
Ich wurde unruhig. Fixierte mich mehr und mehr auf meine Mama, versuchte sie zu verstehen, ohne ihre Anweisungen, ihre Wünsche und Bedürfnisse überhaupt zu kennen. Das verursachte eine gewaltige innere Unruhe in mir, die von nun an zu meinem Alltag gehörte und lange Zeit unbemerkt blieb. Nachdem dieser Zustand einige Monate anhielt, entwickelte ich Allergien und Ticks. Ich träumte in der Schule und träumte zu Hause.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich wieder einmal mit meiner Mama noch bis um 6 Uhr abends an den Hausaufgaben gesessen hatte. Wir hatten gleich nach dem Mittagessen damit begonnen.
"Mama, wieso kann ich nicht mit den anderen Kindern spielen gehen?", fragte ich.
"Das hier ist viel wichtiger als die Zeit mit anderen Kindern, Eva! Erstmal musst du diese Aufgabe verstehen, danach kannst du etwas anderes machen."
Ich gab mein Bestes, versuchte, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Doch wie sehr ich mich auch bemühte, ich las Sätze durch und wusste nicht mehr, was darin gestanden hatte. In der Schule hörte ich die Lehrerin sprechen, doch es war wie ein Rauschen für mich. Ich hatte keinen Zugang zu dem, was sie mir sagen wollte. Manchmal war ich so unaufmerksam, dass ich nicht einmal mitbekam, dass sie mich aufgerufen hatte.
Ich hatte aber eine ausgeprägte Fantasie und verbrachte viel Zeit mit meinen Kuscheltieren, mit denen ich Abenteuer durchspielte. Meine Schwester und ich bauten uns Höhlen aus Decken und Kissen. Doch auch sie war nicht immer erreichbar für mich.
Meinen Papa sah ich in dieser Zeit noch weniger. Er war arbeiten. Wenn er nicht arbeiten war, traf er sich oft mit Freunden. Bei Anliegen innerhalb der Familie orientierte er sich sehr an meiner Mama. Wenn ihr etwas nicht passte, war er auch unzufrieden. Wenn sie etwas einforderte, pflichtete er ihr bei.
In dieser Zeit vermisste ich es, Menschen um mich herum zu haben, die wirklich zu mir hielten oder sich für meine Bedürfnisse einsetzten. Wenn ich mich einmal verletzte oder mir etwas fehlte, reagierten meine Eltern häufig mit Sätzen wie: "Ach, ist doch nicht so schlimm." Oder: "Stell dich nicht so an." Meinem Vater fiel es nicht leicht, mich zu fragen, was ich auf dem Herzen hatte. Es kam vor, dass es Spannungen gab, die so weit gingen, dass mein Papa mir mit Schlägen drohte. Dadurch fühlte ich mich sehr schlecht und wurde ängstlich.
Auch wenn ich verträumt war als Kind, war ich dennoch nicht gänzlich in mich gekehrt. Ganz im Gegenteil, ich konnte sehr ausdrucksstark sein. Ich hatte eine sehr sensible und empfindliche Wahrnehmung und konnte sie gut zu Papier bringen, indem ich Geschichten schrieb oder malte. Mein Lachen war schon früh sehr durchdringend und kraftvoll, weshalb ich in der Zeit, in der wir mit meinen Großeltern im Haus lebten, oft Zurückweisung durch sie erfuhr. Auf der Suche nach Gemeinschaft ging ich zu meiner Oma und Uroma. Begann zu erzählen, zu singen, zu lachen. Doch sie hatten dafür nicht viel übrig. Die beiden, oder auch meine Mama, wiesen mich in solchen Momenten regelmäßig scharf zurecht: "Geh raus! Wir können dich hier nicht gebrauchen!" Wenn sie es auch genossen hatten, mich und die anderen Kinder unserer Großfamilie im Kleinkindalter um sich herum zu haben, so waren sie nun völlig wesensverändert und abweisend. Diese Abweisungen rissen eine tiefe Wunde in mir auf, die sehr lange brauchen sollte, um zu heilen. Noch viele Jahre später war sie mein ständiger Begleiter. Es sollte eine Zeit kommen, in der ich alles daransetzte, um die Anerkennung von jungen Männern zu bekommen, damit ihre Nähe ein Balsam auf dieser Wunde werden konnte. Doch mit jeder Begegnung wurde die Wunde nur noch größer. Aber davon erzähle ich später.
Die Luft im Haus meiner Großeltern war mittlerweile so dick, dass man darin kaum atmen konnte. Jede Freude wurde gleich im Keim erstickt.
Dabei hatte ich immer wieder kreative Ideen. Ich mochte es, mit meinen kleinen Cousins und Cousinen Raubtier zu spielen oder unseren Garten in einen Wasserspielplatz zu verwandeln. Das stieß aber auf ärgsten Widerstand bei den Erwachsenen. "Du hast ja nur Dummheiten im Kopf! Du bist zu nichts zu gebrauchen! Kannst du denn nicht mal ein Vorbild für die Kleineren sein?! Du bist ja die Schlimmste von allen zusammen!" Sie konnten nicht verstehen, warum ich nicht etwas in ihren Augen Sinnvolles tat. Zum Beispiel im Haus zu arbeiten. Für meine Spielereien und Fantastereien hatten sie nicht viel übrig.
Doch ich war nicht die Einzige, die mit Ablehnung konfrontiert war. Auch mein Vater war in den Augen meiner Oma und Uroma ein Anstoß. Und selbst meine Mutter musste sich - trotz ihres großen Einsatzes - ständig Nörgeleien und Vorwürfe anhören. Meine Oma drangsalierte sie regelrecht und forderte sie ständig auf, etwas für sie zu tun. Wenn ihr etwas nicht passte, gab es großen Ärger. Eigentlich gab es in jeder Hilfestellung meiner Mama etwas, das sie falsch machte und "übersehen" hatte. Meine Mama war überladen mit Schuldgefühlen und verlor ihr Selbstvertrauen. Sie war massiv verunsichert und drehte sich um sich selbst und all ihre Sorgen. Ich werde nie vergessen, wie oft meine Oma mit einem sehr lieblosen Tonfall nach meiner Mama rief. "Heikeeee, Heikeeee!" Meine Mama bekam dann immer den Blick von einem scheuen Reh, das eine Gefahr witterte, und lief sofort los. Es war, als ob jemand mit einer Peitsche hinter ihr her war. Sie kam kaum noch zur Ruhe. Ihre Gespräche drehten sich nur noch darum, was zu tun war, damit alle im Haus versorgt waren. Wer braucht wann welche...