Schweitzer Fachinformationen
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DIE STADT, in der mein Vater aufgewachsen ist, heißt Fürstenau. Sie liegt im Nordwesten Deutschlands, im Niemandsland zwischen der niederländischen Grenze und den Dammer Bergen. In einem Autoatlas ist sie leicht zu finden, man muss nur der alten Bundesstraße 214 folgen, die vom Harz aus quer durch Niedersachsen in Richtung Westen verläuft. Ich selbst bin nie dort gewesen, und bis heute kommt es mir so vor, als ob Fürstenau in Wirklichkeit gar nicht existiert. Die ehemalige Garnisonsstadt, die in alten Urkunden Verstenowe, Fastenouwe oder Fürstenouwe genannt wird, gehört für mich in ein Land, das aus Zeit und Raum gefallen ist und das ich nur als Kind zusammen mit meinem Vater hatte betreten dürfen.
In der Mitte der Stadt befand sich ein Schloss, das von einem breiten Graben umgeben war, dem Schlossteich, und wenn die Schule vorbei war, lief mein Vater über die Brücke, die von zwei mächtigen alten Buchen begrenzt wurde und über den Schlossteich auf die Insel führte. Hier konnte man noch die Reste einer mittelalterlichen Befestigungsanlage erkennen, Bollwerke aus Sandstein und handgefertigten Ziegeln, die von Moos, Gras und Sträuchern überwuchert wurden. Mein Vater verbrachte ganze Nachmittage damit, die verborgenen Einstiege aufzuspüren, die in die Kellerräume unter dem Schloss führten. Mit einem Kerzenstummel in der Hand erkundete er die unterirdischen Gänge. Fledermäuse hingen von der Decke, und schwere Eisenringe erinnerten daran, dass hier einst Gefangene angekettet worden waren.
Atemlos hörte ich zu, wenn mein Vater von diesen Expeditionen berichtete. Ich spürte im Nacken den kalten Luftzug, der durch die Verliese strich, ich erschrak, wenn die Kerzenflamme zu flackern begann, wenn die Schatten sich aus den Ecken und Mauervorsprüngen lösten und über die feuchten Wände tanzten. Das Herz schlug mir bis zum Hals, wenn mein Vater schilderte, wie er glaubte, sich in den Gängen verlaufen zu haben, bis ich schließlich erleichtert mit ihm aufatmete, wenn im letzten Moment ein Streifen Tageslicht die Dunkelheit durchbrach und ihm den Weg zum Ausgang wies, so wie es Tom Sawyer ergangen war, als er und Becky Thatcher sich in der Höhle verlaufen hatten.
»Tom Sawyer« war eines der Bücher, die mein Vater mir vorgelesen hatte. Doch die Geschichten aus Fürstenau waren mir lieber. Ich durfte bei all den Streifzügen meines Vaters mit dabei sein. Ich schlich mit ihm durch raschelnde Kornfelder, Pfeil und Bogen griffbereit und eine Taubenfeder im Haar; ich sah ihm über die Schulter, wenn er aus einer Astgabel und einem alten Fahrradschlauch eine Steinschleuder bastelte und im Pottebruch, dem Stadtwald von Fürstenau, mit Kieselsteinen auf Krähen und Elstern schoss, die sich in den dichten Kronen der Laubbäume verbargen. An flirrenden, heißen Sommertagen lief ich mit meinem Vater den kleinen Pfad an den Bahngleisen entlang, der aus der Stadt hinausführte. Ich begegnete bärbeißigen Gleisarbeitern und schweigsamen Streckenläufern, und ich bewunderte im Geiste die Kupfermünzen, die mein Vater auf die Schienen legte, um sie von den Rädern eines vorbeirauschenden Güterzuges zu hauchdünnen Kupferscheiben pressen zu lassen, die im Sonnenlicht in allen Farben schillerten.
Hinter dem Bahnhof, nur einen Steinwurf vom Güterschuppen entfernt, lag an einer schmalen Schotterstraße Arnolds Tischlerei. Am besten gefiel es mir, wenn mein Vater mir vom Alltag in der Werkstatt und im Haus seiner Großeltern erzählte, auch wenn es im Grunde genommen nur einige wenige Begebenheiten waren, die er zu immer neuen kleinen Geschichten zusammensetzte. Er hatte als Kind eine Wasserpistole besessen, die er in Karls Beizstube heimlich mit einer der ätzenden Flüssigkeiten gefüllt hatte, um Jagd auf die Fliegen zu machen, die hinter der Tischlerei auf der Bretterwand des Holzschuppens in der Sonne saßen. Dann gab es Rex, den ungestümen Schäferhundmischling, der in einer Hütte neben der Garage gehalten wurde, in der Arnolds Borgward Isabella stand. Einmal hatte mein Vater den Hund von seiner rostigen Kette befreit und ihn anschließend mit einem Stück altem Seil wie ein Zugpferd vor einen Handwagen gespannt, nur um nach einer kurzen und halsbrecherischen Fahrt vor dem Haus im Graben zu landen. Es war Anna, seine Großmutter, die seine blutigen Knie und Hände mit Wundpflaster versorgte, um ihm dann in der Küche eine Scheibe frisches Brot mit Butter und Zucker zu machen. Sie hielt den Laib fest an die Brust gepresst, wenn sie es schnitt, so wie sie es auf dem Bauernhof gelernt hatte, auf dem sie aufgewachsen war.
Im Sommer nahm Anna meinen Vater auf dem Fahrrad mit in den Pottebruch, um Blaubeeren zu sammeln, die hier in der Gegend Bickbeeren genannt wurden. Sie kannte die besten Stellen, und abends wurden die Beeren zusammen mit frischer Dickmilch gegessen, die den Tag über mit einem Geschirrtuch bedeckt in einer großen Schüssel auf den warmen Stufen des Hauses gestanden hatte. Aus Johannisbeeren und Himbeeren machte Anna Saft, den sie auf Flaschen zog oder zu Obstwein vergor, und im Spätsommer, nach den ersten Regenfällen, zog sie los, um Steinpilze zu suchen. Im Herbst röstete sie Esskastanien auf dem Ofen, und im Winter verrührte sie Sahne, Zucker und Schnee zu Eiscreme, die sie am Sonntag zum Nachtisch servierte.
In den Erinnerungen meines Vaters wurde seine Kindheit zu einem endlos langen Ferienaufenthalt bei den Großeltern. Es war ein einziges Idyll, und ich wäre nie darauf gekommen, ihn zu fragen, warum seine Mutter Marianne in den Geschichten aus Fürstenau nur am Rande vorkam und warum von einem Vater nie die Rede war. Stattdessen bat ich ihn immer wieder, mir eine jener vielen Geschichten zu erzählen, die ich längst auswendig kannte.
Fürstenau war eine Geisterwelt, bevölkert von Menschen, von denen ich die meisten nie selbst kennengelernt habe. Eleonore zum Beispiel, die jüngere Schwester meiner Großmutter, kannte ich nur aus den Geschichten meines Vaters, bei Geburtstagen und anderen Festen im Haus meiner Großeltern war sie nicht zugegen, obwohl ihr Name gelegentlich fiel und alle sie weiterhin Lorchen nannten.
Auch an Anna, die Großmutter meines Vaters, habe ich keine Erinnerungen, nur an Arnold, ihren Mann. Er war 1977 gestorben, und die letzten Jahre seines Lebens hatte er bei seiner Tochter Marianne gelebt. Wenn wir sonntags bei ihr zu Besuch waren, saß er im Wohnzimmer in einem Schaukelstuhl, eine hellblaue Wolldecke über den Beinen. Manchmal fuhr er mir mit seiner zittrigen Hand über den Kopf, aber die meiste Zeit döste er vor sich hin. Er war weit über achtzig Jahre alt. An den Gesprächen am Kaffeetisch nahm er nicht teil, und wenn er doch einmal etwas sagte, drangen nur unzusammenhängende Worte aus seinem zahnlosen Mund.
Arnold war Jahrgang 1891. Er hatte als Minenwerfer am Ersten Weltkrieg teilgenommen, und als er zurück nach Fürstenau kam, war sein Vater gestorben. Anstatt sein Studium an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf zu Ende zu bringen, übernahm Arnold die Tischlerei in Fürstenau. Mit dem Krieg müssen ihn glückliche Erinnerungen verbunden haben, denn 1939 ging er noch einmal an die Front. Er war mit achtundvierzig Jahren bereits zu alt, um als Wehrpflichtiger eingezogen zu werden, doch er meldete sich gleich nach Kriegsausbruch freiwillig zum Einsatz.
Arnold war als Offizier mit der Wehrmacht in Frankreich und in Russland. Auf dem Vormarsch in Richtung Osten sah er bei Smolensk die Reste der Brücken, die Napoleon hier einst hatte über den Dnjepr bauen lassen, und an einem klaren Tag im November des Jahres 1941 waren vor ihm am Horizont die Stadtmauern von Moskau aufgetaucht, kurz bevor die deutschen Truppen zurückgedrängt wurden und bei Schnee und Eis den Rückzug antreten mussten. Arnold hatte ein Baubataillon mit Turkmenen, Afghanen und Usbeken angeführt, die auf die deutsche Seite übergelaufen waren. Aus dieser Zeit stammten seine Russischkenntnisse, die er aus dem Krieg mit nach Hause gebracht hatte und mit Hilfe der Grammatik aufrechtzuerhalten versuchte.
Wenn mein Vater von seinem Großvater sprach, nannte er ihn Atti, nicht Opa Atti, einfach nur Atti. Lange Zeit hatte ich geglaubt, dass es sich um eine Kurzform von Arnold handele, denn auch die anderen Erwachsenen nannten ihn so. Erst als die Kindheitserinnerungen meines Vaters erste Kratzer und Schrammen bekamen, verstand ich, dass dem Namen eine Verwechslung zugrunde lag. Als mein Vater sprechen lernte, nannte er seine Mutter Mutti, seine Großmutter Oma und für seinen Großvater, der die Rolle seines Vater eingenommen hatte, benutzte er das Wort Atti, eine kindliche Form von Vati. Korrigiert hat ihn niemand.
Eine der Geschichten meines Vaters drehte sich um eine Konfektschachtel, die Arnold von einer seiner seltenen Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Ein Schokoladenfabrikant im Ruhrgebiet hatte sich den Tischler aus Fürstenau empfehlen lassen, der sich auf altdeutsches Schnitzwerk verstand. Es ging um einen lukrativen Auftrag, ein Erbe aus der Zeit, als die Tischlerei in Fürstenau unter Arnolds Vater noch Kunden überall in Deutschland beliefert hatte, und als er nach Hause kam, hatte er nicht nur eine stattliche Anzahlung in der Tasche, sondern auch eine Schachtel Pralinen aus der Herstellung des Fabrikanten im Gepäck.
Das war etwas Besonderes. Die Speisekammer im Keller war immer reich gefüllt, und Anna kochte mehrmals in der Woche in großen Töpfen Vanillepudding, zu dem...
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