Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Rio Toototobi, Amazonien
Sobald sich die Lichtstrahlen der aufgehenden Sonne durch das dichte Urwaldgrün tasteten, zogen sich die Xapiripé zum Schlafen zurück. An dünnen Fäden, fein wie Spinnweben, kletterten die Waldgeister zurück in ihre Zwischenwelt. Cauré sah ihnen fasziniert hinterher. Die kräftigen Farben ihrer bunt bemalten, zierlichen Körper flirrten im ersten Morgenlicht unter dem braungrünen Blätterdach der Urwaldriesen. Noch einmal bewunderte der junge Hapuweteri ihre kunstvoll gefertigten Armreifen, die mit winzigen Ara- und Papageienfedern verziert waren, dann lösten sie sich in den Lichtreflexen auf.
»Du gehörst zu denen, die die Geister in ihrer Welt besuchen können«, meinte Takawe, der Schamane. Zufrieden wischte er sich mit der Hand den schwärzlichen Rotz des Yakoana-Pulvers aus dem Gesicht. »Doch das ist nur der Beginn. Vor dir liegt noch ein weiter Weg, bis du ein großer Schamane bist. Viel schwerer ist es, die Xapiripé in der Hierwelt zu finden. Lerne ihnen zuzuhören. Erzähl mir, was du gerade gesehen hast.«
Cauré spürte immer noch die Nachwirkungen der Droge, die ihm Takawe mit dem Blasrohr durch die Nasenöffnung gejagt hatte. Er befand sich in einem merkwürdigen Zustand äußerster Wahrnehmungsfähigkeit. Nie zuvor war ihm die Natur gegenwärtiger erschienen. Das ohrenbetäubende Geschrei einer zankenden Brüllaffengruppe hoch über ihm im Geäst war ihm genauso nah wie das Rascheln der Ameisen neben sich auf dem Boden. Er konnte direkt über sich das Zischeln der Boa Constrictor hören, die sich oberhalb seines Kopfes einen Ast entlangschlängelte, genauso wie das geschäftige Treiben der Termiten im Inneren des Baumes, an dem er lehnte. Selbst das Rascheln eines weit entfernten Pekaris im Unterholz konnte er vernehmen.
»Die Xapiripé sehen aus wie wir Menschen«, antwortete er schließlich dem alten Schamanen. »Nur schöner und irgendwie wunderbar. Dabei sind sie so winzig wie Staubkörner und hell wie das Licht.« Cauré fühlte, wie eine Welle von Begeisterung sich in ihm auftürmte. »Nach und nach kamen so viele zu mir. Ich sah die Geister der Tukane mit ihren großen Ohrsteckern in leuchtend roten Lendenschurzen. Die Kolibrimenschen umflogen mich in einem wilden Tanz, während die Geister der Frösche Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trugen. Ich sah Nabelschweingeister und Fledermausmenschen, während die Xapiripé der Wasserfälle meinen Geist erfrischten. Meine Seele fing an zu strahlen und erfüllte mich mit höchstem Glück.«
»Die Xapiripé mögen klein sein, aber die Kraft, die in einigen von ihnen wohnt, ist mächtiger als das stärkste Gewitter, fürchterlicher als die schlimmste Krankheit und gefährlicher als der Tod«, warnte Takawe seinen jungen Schüler. »Das Yakoana-Pulver hat die Geister für dich zum Tanzen gebracht. Doch sie haben dir bislang nicht gezeigt, wer dein utupé, dein Doppelgänger, ist.« Cauré senkte beschämt die Augen. Wieder einmal war ihm die Erkenntnis versagt geblieben. War er etwa doch verflucht? Sein Ziehvater versuchte ihn zu trösten: »Es gibt eine Möglichkeit, deinen Doppelgänger zu finden«, sagte er leise. »Geh zu den hutu pata. Dort wirst du die Antwort finden.«
Cauré schauderte. Der Shapori verlangte viel von ihm. Er sollte nicht nur die Grenzen zur Geisterwelt überschreiten, sondern sich weit in ihr Gebiet vorwagen. Die Gefahr, sich in ihrer wirren Welt zu verlieren, war sehr groß. Doch ihm blieb keine Wahl. Solange sein zweites Ich sich vor ihm versteckte, war er kein richtiger Mann. Seine Brüder würden ihn niemals akzeptieren. Ohne Doppelgänger war er verdammt. Jeder Mensch in seinem Stamm besaß einen utupé. Er verlieh den Menschen Kraft und leitete sie durch schwierige Entscheidungen. Wer seinen utupé nicht fand, dessen Leben war verflucht. Für gewöhnlich erschien der Doppelgänger bereits in Kindertagen. Er zeigte sich in der Gestalt von Vögeln, Säugetieren, Insekten, in den Geistern von Bäumen und Wasserfällen oder gar in wildem Honig und auch in Steinen. Cauré hatte bislang noch keinen Ruf vernommen, obwohl er die Geister deutlicher sah als manch einer der Shapori.
»Mach die Furcht nicht zu deinem Freund, mein Sohn«, riet ihm Takawe und erhob sich schwerfällig von seinem Platz. Wie es Sitte war, vermied der Schamane es, ihn bei seinem Spitznamen zu nennen. Cauré bedeutete »kleiner Falke mit den scharfen Augen«. Bei den Hapuweteri war die Anrede mit Eigennamen mit einem Tabu belegt. Man nannte einen Namen nur, wenn der Betreffende nicht anwesend war. »Mach dich auf den Weg zu dem Plateau hoch über den Baumwipfeln. Dort oben mögen dir die Xapiripé das Lied deiner Bestimmung singen oder dich in ihr Reich aufnehmen.«
Ohne sich nochmals nach ihm umzudrehen, machte sich Takawe auf den Weg zurück in den Shabono. Cauré wusste, dass der Schamane damit ein Urteil gefällt hatte. Sollte er dieses Mal wieder scheitern, durfte er nicht mehr ins Dorf zurückkehren. Ohne utupé bedeutete er eine Gefahr für die Gemeinschaft. Er versuchte den letzten Rest seiner Benommenheit abzuschütteln, dann griff er nach Köcher und Bogen und sprang leichtfüßig auf die Beine. Auch er sah sich nicht um, als er sich durch das Dickicht der Lianen und Luftwurzeln einen neuen Weg bahnte. Sein Ziel war die Hochebene des Tafelberges, der sich eine gute Tagesreise von seinem Dorf entfernt wie der Panzer einer riesigen Schildkröte aus dem grünen Teppich der Urwaldbäume erhob.
Dieser Berg war ein heiliger Ort. In grauer Vorzeit hatte dort einmal ein mächtiges Volk gelebt. Es hatte Bauwerke aus Stein errichtet und breite, steinerne Wege durch den Urwald gebaut. Die Alten in Caurés Stamm erzählten, dass ihr Kazike den Zorn der Xapiripé auf sich gezogen hatte, weil er den Geistern befohlen hatte, sich ihm unterzuordnen. Die Folge war ein fürchterlicher Krieg zwischen den Xapiripé und den Menschen gewesen, der dem ganzen Volk den Untergang gebracht hatte. Nichts war von ihrem mächtigen Reich übrig geblieben, nur die wenigen steinernen Überreste auf dem lebensfeindlichen Plateau. Und noch immer hing die Macht der Zerstörung wie ein drohender Gewittersturm über jenem Ort. Nur wenige wagten sich dorthin, denn man musste den Geistern zuhören können und ihnen die richtigen Fragen stellen, wollte man wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren.
Je näher Cauré diesem unheilvollen Kraftort kam, desto unruhiger wurde er. Es gelang ihm nur schwer, seine aufsteigende Angst zu bezwingen. Es war weniger die Angst vor den Launen der Xapiripé, die ihn umtrieb, als die Furcht davor, dass er keinen Doppelgänger finden könnte. Lag wirklich ein Fluch auf ihm? Er war schon immer anders als seine Altersgenossen gewesen, ein Sonderling, weil er lieber allein für sich blieb, als die Gesellschaft der Dorfgemeinschaft zu suchen. Beobachten und Nachdenken lagen ihm mehr als übereilte, scheinbar mutige Entscheidungen. Er war kein Feigling, konnte hervorragend Spuren lesen und war sicher im Umgang mit Blasrohr und Pfeil und Bogen. Doch sein Bruder Nakitao spottete über ihn, weil er sich weigerte, auf die Jagd zu gehen. Er verstand einfach seinen Zwiespalt nicht. Solange er nicht wusste, wer sein Doppelgänger war, durfte Cauré keine Tiere töten. Einen utupé zu töten bedeutete nämlich, das Unglück auf sich zu ziehen. Hatte er diese Schuld etwa längst auf sich geladen?
Cauré fröstelte, als er vor der aufragenden Felswand stand, obwohl die Schwüle schon seit Tagen unerträglich war. Dann machte er sich an den Aufstieg.
Das erste Stück kam er gut voran. Lianen und Luftwurzeln, die über die Felsen wuchsen, erleichterten ihm das Klettern. Nach einigen Stunden erreichte er die Baumgrenze. Mit einem Mal verließ er das gewohnte, dämmrige Licht der von Grüntönen bestimmten Dschungelwelt. Cauré hielt den Atem an. Ohne den Schutz der Bäume fühlte er sich einsam und verlassen. Die Leere des Himmels und seine unendliche Weite machten ihm Angst. Er hatte den Dschungel noch nie von oben gesehen. Wie ein grüner Ozean erstreckte er sich bis zum Horizont. Nur hin und wieder wurde das Grün von den milchig braunen Windungen des Rio Toototobi unterbrochen. Die gewaltigen Baumriesen, deren Stämme oft so dick waren, dass zehn Männer sie kaum umfassen konnten, wirkten von Caurés Standort aus wie Inseln in einem grünen Meer aus Froschgrün, Lianengrün, Schlammgrün, aus dem grauen Grün der Nachtmotten und dem Gelbgrün der Kochbananen - sein Volk kannte so viele Namen für die Farbe Grün, die seine Welt bedeutete. Doch hier oben war alles anders.
Der Himmel über ihm war so blau wie das Gefieder eines azurblauen Aras. Nur am äußersten Horizont ballten sich gewaltige grauschwarze Gewitterwolken zusammen als Vorboten der nun bald einsetzenden Regenzeit.
Cauré war sich bewusst, dass er die Grenze zum Reich der Xapiripé nun überschritten hatte. Doch das war nicht genug. Er musste ihr Land betreten und sich ihren Launen stellen. Der schwierigste Weg stand ihm noch bevor. Grau und abweisend türmten sich die nackten Felswände vor ihm auf. Nur wenige Büsche und dürre kleine Bäume wuchsen aus den Felsspalten, in denen sie von Wind und Regen mit Nährstoffen versorgt wurden. Caurés Hände und Füße suchten in den schroffen, spitzen Felswänden nach Halt. Stück für Stück zog er sich weiter nach oben. Das bröckelige Gestein machte das Klettern zu einem wagemutigen Unterfangen. Immer wieder stieß er auf tiefe Felsspalten, die ihn zwangen, nach einem anderen Weg zu suchen. Der Urwald lag bald weit unter ihm. Dann endlich erreichte er den letzten Absatz. Nun trennten ihn nur noch wenige Meter von dem Klippenrand, dann würde er die Hochebene erreicht haben.
Plötzlich hörte er ein...
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