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Mittwochvormittag, die grauen massigen Wolken nisten sich, wie schwer verdaubare und stark verschmutzte Pudelhaare, in die Stimmung der Menschen ein. Sie bilden zwei verschiedene Schichten vor dem Jura. Die Farbe der Ansammlung von sehr feinen Wassertropfen, die näher an der Gesteinserhebung weilt, scheint immer dunkler zu werden, als ob ein Lebewesen sein Atmen angehalten und die daraus erfolgte Färbung sich in die Nimbostratus Wolke übertragen hätte. Die nachfolgende Wolke lässt keine Hoffnung auf Besserung zu. Man erwartet das Schlimmste und ist dementsprechend ausgerüstet. Selbst das Gemüt ist nicht wenig antriebslos, weshalb die Personen lustlos ihren Arbeiten nachgehen.
Einige putzen das Gebäude, die sauberen Toiletten ebenfalls, andere sind im Lehrerzimmer und trinken, währenddessen das Jammern ihrer Berufskollegen vernehmend, ihren überlebensnotwendigen Kaffee. Derjenige, der nicht dort anwesend ist, beaufsichtigt herumkreisend die Schülerinnen und Schüler auf dem Pausenplatz. Da der Pausenhof nicht rund, sondern mehr rechteckig ist, sind es keine Kreise, die er zurücklegt. Sein Weg wird vielmehr von den einzelnen Gras- und Bauminseln festgelegt, wodurch er eine trapezförmige Strecke zurücklegt. In der rechten Hand hat er eine Zigarette, die schon halb fertig geraucht ist, in der linken eine leere Zigarettenschachtel. Die wievielte es ist, ist uns nicht bekannt, aber wir wissen, dass er Richtung Abfallkorb peilt, damit er sich von dieser Kartonschachtel vorbildlich entledigen kann, was seinen Schülerinnen und Schülern nicht einmal auffallen wird. Sie würden es bemerken, wenn er die Schachtel mit grosser Freude auf dem gepflegten Gras, das trotzdem wild wirkt, weil es von den Kindern mehrfach betreten wird und das grüne Zeug dadurch in die feuchte Erde eingedrückt wird, obwohl diese Grünoasen mit Terrassierband abgesperrt sind, werfen würde. Natürlich hätte man seine Ausgefallenheit sofort mit grandioser Sensation registriert. Unterwegs schaut er gegen den Himmel, dabei hebt er seine zusammengepressten Lippen wie ein Hase auf, daraufhin folgt seine Nase mit. Mit dieser Mimik sieht er aus wie ein Ameisenbär. Seine Nasenlöcher mit dem üppigen Nasenhaarwuchs nehmen eine überdimensionale Grösse an, als ob er ein Kolibri durch sein Atemorgan einsaugen würde. Er nimmt einen weiteren Zug, steht still und wendet den Blick seinem Arbeitsort zu.
Das Schulhaus macht unter der Blumenkohlanstauung des Himmels einen einsamen und traurigen Eindruck, obwohl es unter den Sonnenstrahlen ein Ort der Freude ist. Von oben gesehen sieht es T-förmig aus, wobei der untere Teil drei Mal kürzer ist, als der waagrechte Strich, sodass es sich eins zu drei verhält. Aber dafür wird der untere viel kürzere Abschnitt, der eben durch diese Raffung wie eine Nase erscheint, mit der Ausrichtung gegen den Jura belohnt, obwohl erstens keine Fenster, die garantiert die Nasenlöcher dargestellt hätten, in dieser Richtung vorhanden sind und zweitens wäre die Sicht vom gegenüberliegenden Gemeindehaus und dem danebenstehenden Grundschulhaus verdeckt. Dieser Teil dient als Aula, wo Chor- und private Musiklektionen stattfinden und somit nur aus einem grossen Geschoss besteht. Der Ziegelsteinaufbau, welche die Nasenflügel bilden, ist sowohl von innen als auch von aussen ersichtlich und charakteristisch für die Aula, die etwa Hundertzwanzig Personen aufnehmen kann, wodurch mit der Zeit verschiedene Moleküle die Riechzellen reizen. Im waagrechten Abschnitt sind Schulzimmer vorhanden, die sich über drei Stockwerke verteilen, wobei die Letzte, die modernste und hellste ist und erst 1996 gebaut wurde. Die Toiletten sind dort die saubersten und am besten gestalteten des ganzen Dorfes und zum Unwissen der Lehrer ein beliebter Treffpunkt von Schülerinnen, vielleicht des angenehmen Duftes wegen.
Er widmet sich wieder den tobenden Schülerinnen und Schülern. Denn neben diesem Schulhaus, welches nur von Oberstufenschülerinnen und -schülern besucht wird, gibt es ein kleineres Gebäude, das auf den ersten Blick nicht als Schulhaus, in dem viele Kinder zuerst das Schreiben und Rechnen lernen, erkannt werden kann, weil es mehr wie eine Bürounterkunft aussieht mit den dunkelroten Backsteinen und Ziegeln neben dem Gemeindehaus. Man muss besonders aufmerksam sein, weil in diesem Alter Streitereien zumindest bei den Knaben zur Tagesordnung gehören. Viele halten einen solchen Anlass, der früher oder später in sozialen Plattformen hemmungslos gezeigt wird, mit dem mobilen Telefon fest. Um solche Taten zu verhindern, wäre unmittelbar gegenüber dem Unterstufenschulhaus über dem Pausenhof eine Kirche anzutreffen. Diese dient aber mehr der Uhrzeitorientierung als einem Ort der Wertevermittlung. So bilden die Oberstufenschule im Stampfschulhaus, die Grundschule im Roteziegelschulhaus, der Kindergarten, die Kirche, das Gemeindehaus und der Gemeindesaal, der früher auch als Turnhalle gedient hat, aber durch die grüne Turnhalle ersetzt worden ist, die neben der Kirche platziert ist, einen Kreis um den Pausenhof. So hat man das Gefühl im Zentrum des Dorfes zu sein, da es tagsüber tatsächlich der lebendigste Teil ist, ausser der Hauptstrasse, die nur von Autos belebt wird. Mittlerweile hat er sich schon eine weitere Zigarette angezündet. Neben sich vernimmt der Aufsichtslehrer bekannte Stimmen aus seiner Klasse.
Vor dem Gemeindehaus haben sich Max, Midori und Annemarie um einen hüfthohen Wegbeleuchter, der für sie als runder Minitisch dient, versammelt. Sie bilden zusammen ein stumpfwinkliges Dreieck, wobei Midori im grössten Winkel ist und ihr Körper gegen den Kindergarten zugerichtet ist. Max und Annemarie jedoch stehen sich gegenüber und man sieht, dass die zwei heftig am debattieren sind. Immer wieder baumeln die zwei blauen Schnüre des Kordelzuges von Max' Regenjacke, die ihm viel zu klein ist, mit den Befestigungskugeln wild umher. Midori spielt zu diesem Zeitpunkt die objektive Moderatorin, die aufgrund ihrer Zurückhaltung einen professionellen Eindruck gegen aussen macht. Sie nennen dieses Spiel, bei dem es um gute Argumentation und Überzeugungskraft geht, Kolosseum. Das Pendant zur Arena, die ab und zu im Fernsehen zu sehen ist. Gerade sie haben sich möglicherweise durch diese verbalen Kämpfe ein Vergnügen eingeführt, um die Pausen schmackhafter werden zu lassen, wodurch sich gelegentlich Schaulustige um die Redner versammeln. Einige sogar bringen sich in die Debatte ein, wenn sie glauben, einen ungeheuerlichen Drang des Mitteilens zu verspüren. Heute haben die Hauptdarsteller zumindest das Gefühl, unbeobachtet diskutieren zu können. Max nimmt einen erneuten Anlauf.
"Wir haben gesagt, dass Liebesbriefe heutzutage nicht ernst genommen werden könnten. Wir haben gesagt, dass solche Briefe als altmodisch gelten und wir haben gesagt, dass wir das Schreiben verlernen werden, weil durch die technischen Geräte manuelle Fertigkeiten unnützlich, sogar überflüssig werden. Und man stelle sich vor, dass jemand einen Brief gerade wegen der unsauberen Handschrift gar nicht lesen kann, was dann? Das wäre ja oberpeinlich für den Verfasser. Also ist man auf der sicheren Seite, wenn man es jemandem direkt sagt, was zwar mehr Mut erfordert, aber garantiert authentischer ist, oder per SMS ."
Annemarie, die ihren Kopf und ihren ausgestreckten Zeigefinger demonstrativ gegen ihn schwenkt, unterbricht. Max ist sofort ihr abgekauter Fingernagel aufgefallen. Anders hat er ihre durchscheinende Keratinplatte noch nie gesehen.
"Da kann ich wieder nicht zustimmen. Ich denke, die Überflutung heutiger Medien durch diverse elektronische Geräte, lässt einen Liebesbrief als etwas Persönliches erscheinen. Ich, als Frau Bundesrätin, habe noch nie einen Liebesbrief bekommen. Wie gerne hätte ich so etwas in meinen Händen! Ich warte heute noch darauf. Jede Frau würde sich geschmeichelt fühlen, einen solchen Brief zu bekommen. Es ist ein Urwunsch jedes weiblichen Wesens, mindestens einmal im Leben schriftlich beglückt zu werden. SMS oder Plauderecken sind Mode, doch langweilig und machen einen unseriösen Eindruck. Die Seltenheit eines solchen Stück Papiers macht es umso begehrlicher für Frauen. Man fühlt sich verehrt und begehrt ohne ."
Midori, die schon lange nichts mehr gesagt hat, möchte ihren Senf beigeben. Vielmehr aber, um die Diskussion wieder auf einen Punkt zu fokussieren.
"Ich kann mich hier sehr gut anschliessen. Das Thema hingegen ist nicht geschlechtsabhängig. Wir haben etwas den roten Punkt verloren, deshalb bin ich dafür, dass wir jetzt differenzierter sprechen und uns darauf konzentrieren, unter welchen Umständen man einen Liebesbrief schreiben soll und unter welchen lieber nicht. Denn bis jetzt haben wir nur eine trübe Brühe erschaffen..."
So wie es aussieht, nehmen sie die Rolle anderer Persönlichkeiten ein. Dies lässt die Diskussion umso spannender werden und alles lässiger durchdebattieren. Eine fremde Haut fühlt sich angenehmer an. Anscheinend geht es um Liebesbriefe in unserer Zeit, die sowieso niemanden zu interessieren scheint. Jedenfalls hat der Lehrer genug, denn die Pause geht seinem traurigen Ende zu. Dies umso mehr, weil er immer öfter einen Blick auf die Kirchenuhr wirft, obwohl er selber eine Armbanduhr besitzt, die aus grünem Plastikband und einem flachen silbrigen Gehäuse mit einem schwarzen Ziffernblatt besteht. In der Hand hält er immer noch die leere Zigarettenschachtel. Bevor er überhaupt seinen Zielort erreichen kann, sieht er, dass auf dem Boden ein Füllfederhalter liegt. Er nimmt den letzten Zug und betrachtet dieses Objekt aufmerksam für einen Bruchteil eines Augenblicks....