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Prohaska – männlich, Siebenmonatskind, ungewollt – kam an Heiligabend des Jahres 1914 während eines außergewöhnlich harten Winters in einem entlegenen Weiler im Norden Deutschlands, wo das Meer die Menschen, Felsen und Boote schleift, als dritter und letzter Spross einer mittlerweile ausgestorbenen Familie zur Welt.
Vielleicht verspürte er von Kindheit an den Reiz der Bilder, weil er nie den Vater kennenlernte – dem eine russische Granate in der Schlacht bei Tannenberg den Kopf abriss –, als könnten ihn die Bilder über den Verlust seines Erzeugers hinwegtrösten. Er suchte den Horizont ab und sah, er las die Ilias in einer illustrierten Kinderausgabe und sah, er zeichnete Figuren in den Sand und sah.
Er sah, wie der Vater Handelsschiffe lotste, vor den Mauern Trojas kämpfte, auf wundersame Weise in den Zeichnungen Gestalt annahm, das leere, weiße Antlitz seiner Frau küsste. Einer Mutter, seiner, die ihn nicht liebte, es nie getan hatte, die ihn still zurückwies, nicht unwirsch, aber bestimmt, auf die gleiche Art, wie ihn auch seine Geschwister wortlos ignorierten.
Als wäre er ein Kind des Zufalls, nicht des Fleisches.
So wuchs er also auf, umgeben von Menschen, doch ohne jede Liebe, mit dem mythologischen Ballast des unbekannten Vaters, von klein auf infiziert mit der entfesselten und zugleich reinigenden Macht der Bilder.
Prohaskas erstes erhalten gebliebenes Bild aus dem Jahr 1924 zeigt einen Kampf zwischen Krebsen. Rot und Gelb dominieren, und ein großer rostfarbener Fleck scheint für den Ort der Schlacht zu stehen, eine öde Sandfläche. Die Farben gab ihm ein protestantischer Pfarrer, ein begeisterter Landschaftsmaler, der in Friedenszeiten, auf einer Reise nach Paris, die Fauvisten für sich entdeckt hatte. Der Geistliche mit Namen Löw, dem die Geschichte die Gunst des Ursprungs gewährt, war Prohaskas erster Gesprächspartner auf dem Gebiet der Kunst.
Er starb, bevor der noch jugendliche Prohaska 1929 nach Berlin reiste. Die Krankenakten sprechen von Blutvergiftung, Gerüchte von einer leichtlebigen Ehefrau, die ihn in den Selbstmord trieb. In einer Notiz von 1960 an seinen Biographen Jakob Stelenski erinnert sich Prohaska an seinen ersten Lehrmeister »als einen guten, aber schwachen Menschen«.
Ein tiefes Paradox umgibt Prohaska, den Mann, der die drei Ikonen des zwanzigsten Jahrhunderts – Malerei, Fotografie, Film – kultivierte, von dem jedoch kein einziges Porträt, kein einziges Passbild, keine einzige auf Zelluloid gebannte Spur erhalten ist.
Ein Mann, der alles sah, den aber niemand sehen konnte.
Lassen wir also unserer Fantasie freien Lauf und denken uns das wechselvolle Schicksal eines einsamen, gesichtslosen Jungen, den wir uns von Salz und Kälte umgeben vorzustellen haben, gefangen in seinen Träumen, seine künftige Kaltherzigkeit herausbildend in einem ebenso schönen wie kargen Szenarium – etwas, das später immer wieder in seiner Ästhetik zum Ausdruck kommen sollte. Dieses Gefallen am Fehlen eines Urteils, diese Berufung, die Oberflächen der Welt zu zeigen – eine amputierte Hand, eine Pyramide aus Brillen, einen Pferdefriedhof –, ohne etwas auszulassen oder hinzuzufügen. Hand, Linse, Kamera als bloße Betrachter.
Kunst als Zeugnis, Kunst als Testament, Kunst als Beglaubigung: geisterhaft, transparent, unpädagogisch.
1918, Zeit des Hungers und der Entbehrungen, in der die Spanische Grippe mit ihrem gefräßigen Säbel Europa dezimiert. Ohne einen Laut der Klage stirbt Prohaskas älterer Bruder auf seiner bescheidenen, lauwarmen Pritsche an Auszehrung. Die zwei Kühe der Familie leben ein Jahr lang mit im Haus. Die Wärme ihrer Körper nährt die Träume der Kinder. Im Frühjahr 1919, als die Menschen Gras essen, um einen scheinbar Generationen währenden Hunger zu stillen, werden sie geschlachtet. Zusammen bilden sie eine bizarre Weihnachtskrippe: ohne Heilige Drei Könige, ohne Joseph, ohne Jungfrau noch Jesuskind. Eine deutsche Krippe.
Eines Tages im Jahr 1920 betritt ein Mann die Bühne, um den freien Platz im Bett des kopflosen Erzeugers für sich zu reklamieren. Prohaska wird immer voller Respekt von ihm sprechen. »Mein Stiefvater«, schreibt er in Nach Diktat eines grausamen Gottes, seinen 1975 posthum veröffentlichten Memoiren,
war ein gebildeter, schweigsamer Mensch, Buchhalter von Beruf in einer Welt, die keine Buchhaltung benötigte. Von ihm hörte ich zum ersten Mal den Namen Hitler. Als ich mein Zuhause verließ und nach Berlin zog und er uns schon seit einiger Zeit verlassen hatte,
schließt Prohaska,
erinnerte ich mich, dass er sich immer gern in seine Einsamkeit zurückgezogen hatte. Was das betrifft, war er ein wichtiger Mensch in meinem Leben, lehrte er mich doch, dass andere häufig nur ein Ärgernis darstellen und die Misanthropie ein unschätzbares Gut ist.
1919, dem Jahr der gescheiterten Revolution, versinkt Deutschland in Blut. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht werden wie Hunde erschlagen. Die rote Stadt Hamburg wird geschleift. Tausende Arbeiter finden den Tod. Die Hoffnung auf ein anderes Deutschland zerrinnt auf dramatische Weise. Nur wenige Jahre später schlägt das Land an der Hand des Nationalsozialismus den Pfad der Selbstzerstörung ein. In diese unheilvolle Spirale fügt sich Prohaskas Schicksal ein.
»Wäre Deutschland damals kommunistisch gewesen«, gesteht er in Brief an die zukünftigen Mörder, seiner letzten Schrift, »wäre ich ebenfalls sein Fotograf, sein Maler und sein Filmemacher gewesen. Doch als ich erwachsen war, war Deutschland faschistisch. Und ich, der ich nie einer Ideologie anhing, war dort.« Eine doppelte, unmöglich zu beantwortende Frage liegt über allem: Ist es möglich, ohne Gesicht und Ideologie zu leben?
Versunken in seine zeugenlose Einsamkeit durchstreift der damals fünfjährige Knabe die Dünen und hält Zwiesprache mit der Leiche des vor langer Zeit bei der Verteidigung eines in Auflösung begriffenen Reichs verstorbenen Vaters. Eine Welle umspült seine Füße. Prohaska betrachtet sie leidenschaftslos, zählt mit lauter Stimme die verrinnenden Sekunden, bis der Sand den letzten Rest von Schaum verschlungen hat. Eins, zwei, drei.
Prohaska, der Forensiker.
»Alle glücklichen Familien«, et cetera, et cetera. Der Klassiker lügt nicht. Deshalb ist er klassisch. Denn aus seinem Mund spricht die Zeit. Das Glück der jetzt von einem Mann namens Müller umsorgten Familie Prohaska gleicht einer altbekannten Rhapsodie: Spaziergänge am Meer, geteilter Hunger, spektakuläre Sonnenuntergänge, die Gnade des gemeinsamen Opfers, ein gewisser, niemals offen ausgeübter Jansenismus. Doch erst im Unglück beginnt Prohaska seine Einzigartigkeit herauszubilden. Müllers Anwesenheit sortiert die Ökonomie der Gefühle neu. Einmal mehr wird der jüngste Sohn benachteiligt. Als der neue Mann, ein Erwachsener, in die intime Runde eindringt, verschärft sich seine Einsamkeit. Die Mutter überlässt ihn endgültig der Langeweile, der Melancholie, dem Schicksal, für sich selbst zu sorgen.
Doch Prohaska resigniert nicht. Er trinkt von seinem Unglück wie ein Baum, der seine Wurzeln nach verborgenen Quellen ausstreckt, und sucht fern von zu Hause, was ihm das Zuhause vorenthält. Am Ufer der Nordsee, seinem liebsten Zufluchtsort, träumt er gelegentlich, dass sein kopfloser Vater von einem russischen Kriegsschiff herabsteigt, gekleidet als Kosak oder in einen Prinzen verwandelt, wie sie die Seiten der Klassiker bevölkern. »Dort«, wird er seinem Vertrauten Stelenski in einem ihrer unzähligen Gespräche verraten,
am Ende der Welt, das die Strände für mich bedeuteten, auf dem Rücken der Fantasie, war das Leben erträglich. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich nie einen Roman geschrieben habe. Obwohl ich mich immer viel wohler vor einer leeren Leinwand oder in einer Dunkelkammer gefühlt habe als im Reich der Buchstaben.
Eines Morgens im Winter 1922 überschwemmen Hunderttausende von Heringen die Strände.
Es ist eine Landschaft wie vor oder nach dem Menschen, prä- und postapokalyptisch zugleich. Eine Landschaft, die dem Menschen seine Nichtigkeit vor Augen führt, seine kümmerliche Rolle in der Abfolge der Lebewesen, den Überfluss an Organismen, die ihm vorangingen und später einmal folgen werden. In seinen gefütterten, mit Fett eingeriebenen schweinsledernen Jagdstiefeln schreitet Prohaska über den Fischteppich wie der alte Wundertäter über das Wasser. Seine Schritte verlieren sich in der Weite des Friedhofs. Er geht und geht, und als er den Blick wendet und seine Fußspuren betrachtet, erkennt er sich inmitten des silbernen Lakens, wie ein Kind, das...
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