Schweitzer Fachinformationen
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Eine Hand auf der Schulter, sie rüttelt mich immer heftiger.
»Mencarelli, aufwachen, mach schon, los!«
Es ist der Krankenpfleger, er versucht, mich zu wecken.
»Is elf schon durch, Viertelstunde muss beim Doktor sein.« Er packt mich an den Schultern und zieht mich hoch.
»Morgen, Prinzchen, hast ordentlich was geschlafen. Glaub ich gern, bei dem, was sie dir in die Vene geschossen ham, weiße noch, wie du heißt? Sag ma, los, versuch.«
Mein Mund ist trocken. Der Kopf dröhnt.
»Daniele. Daniele Mencarelli.«
Der Krankenpfleger versucht eine Art Lächeln. Er wird um die fünfzig sein, vielleicht etwas älter, das Gesicht ist stark von der Akne früherer Jahre gezeichnet.
»Siehswohl, geht doch, Daniele. Ich bin Pino, und Pino sagt immer gleich, was Sache ist. Gibt eins, das muss klar sein: Wenn du brav bist, bin ich auch brav, wenn du hier auf bösen Irren machs, werd ich noch böser, kapiert? Und kanns mir glauben, die Normalen, die können böser sein als wie die Verrückten, kapiert?«
Pinos Züge haben sich verhärtet, ich bemühe mich zu antworten, trotz der Benommenheit.
»Ich hab verstanden.«
»Noch was Wichtiges, Rumlaufen verboten, du bleibs hier oder im Fernsehraum nebenan. Aber nie, nie, nie in die Zimmer hinterm Fernsehraum! Die dadrin, die sind nich wie ihr, das sind die Bösen, kapiert?«
»Klar.«
»Gut, Daniele, und nu wach richtig auf, gleich ruft der Doktor, hier, Tee, trink paar Schluck.« Er reicht mir eine lauwarme Tasse, dann geht er.
Den Körper wieder in Besitz zu nehmen, bedeutet, eine Reihe überall verstreuter Schmerzen einen nach dem anderen zu spüren, im Rücken, am Hals, aber die linke Hand hat am meisten abbekommen. Ein großes Pflaster bedeckt sie, am Handknöchel klebt getrocknetes Blut. Von der Hand bis zum Hirn ist es nur ein kleiner Schritt: gegen die Wände, die Möbel, gegen den Fernsehbildschirm, bis er explodierte. Das sind die Wunden. Zuletzt, riesig wie der Himmel, sehe ich meinen Vater wie einen toten Gegenstand auf dem Boden liegen, alles wegen meines Theaters.
Ein Wald von Augen, die Augen meiner Zimmergenossen. Die sechs Betten stehen in zwei Reihen, die drei auf der anderen Seite sind alle besetzt. Der Junge im Bett mir direkt gegenüber mag so alt sein wie ich, als Pino mit mir sprach, habe ich manchmal zu ihm hingeblickt, jetzt bin ich fast sicher: Seit ich ihn heimlich beobachtet habe, hat er nicht aufgehört, einen unbestimmten Punkt über meinem Kopf anzustarren. Als würde er darüber hinaussehen, in ein Jenseits, das ihn völlig gefangennimmt, nichts, was in seiner Nähe geschieht, scheint ihn ablenken zu können.
Links von ihm, neben dem großen Fenster, ein Mann um die sechzig, schon im ersten Moment habe ich die unglaubliche Ähnlichkeit bemerkt - er sieht haargenau so aus wie der Gitarrist von Queen, aber an dessen Namen kann ich mich nicht erinnern. Das Bett rechts gehört dem Mann mit dem Mädchenschrei, jetzt hält er sich einen Taschenspiegel vors Gesicht, trägt Lipgloss auf und macht dabei Grimassen, lächelt sich an, er scheint einen Dialog zu improvisieren, einen Flirt.
Mein Bett ist das mittlere auf unserer Seite, links von mir der Verrückte, der versucht hat, mich anzuzünden, er scheint sich beruhigt zu haben, offenbar schläft er sogar.
Das Bett zu meiner Rechten ist ordentlich gemacht, es dürfte leer sein.
Manchmal kommen Schreie aus anderen Zimmern, anderen Welten, ein steinerweichendes Heulen.
Pino steht in der Tür.
»Los, los, Mencarè, Mancino wartet.«
Mühsam richte ich mich auf, die Balance zu halten, scheint mir komplizierter als sonst, Pino hakt mich unter, so gehen wir aus dem Zimmer und betreten ein anderes direkt gegenüber.
Das Sprechzimmer ist klein, Pino zeigt auf einen Stuhl, geht dann hinaus.
Vor mir sitzt der Arzt, sofort fällt mir auf, dass er ungewöhnlich groß und massig ist. Das sehe ich an den Armen, an der Hand, mit der er eine Linie nach der anderen auf einem weißen Blatt zieht, den Kugelschreiber dabei fest aufs Papier drückt. Auch der Kopf ist gewaltig und die Schultern breit, wie groß er ist, kann ich nicht einschätzen, aber er muss ein Riese sein.
»Nun, Mencarelli.«
Er hat mich angesprochen, ohne den Blick vom Blatt zu heben, endlich schaut er auf, blaue Augen, winzig, eine große Nase, die Haare halb braun, halb weiß. Auch das Gesicht hat etwas Eindringliches, fast Brutales, wäre ich vertraut mit ihm, würde ich ihn fragen, ob er Rugby spielt oder gespielt hat, denn er wirkt durch und durch wie ein Rugbyspieler.
»Kannst du mir das Datum von heute sagen? Tag, Monat und Jahr.«
Ich nicke und fange an zu rechnen.
»Heute ist Dienstag, der 15. Juni 1994.«
»Der 14., Dienstag, der 14. Kannst du mir dein Geburtsdatum sagen?«
»26. April 1974.«
»Du bist also zwanzig Jahre alt. Weißt du, warum du hier bist?«
Vor meinen Augen wirbeln die Bilder des gestrigen Abends, scharfkantig, vergiftet.
»Ja, wegen gestern Abend.«
Der Arzt mustert mich, ohne eine Miene zu verziehen, sein Blick, zusammen mit der Statur, ergibt das Bild eines Mannes, der unfähig ist, Gefühle zu zeigen, zumindest kommt mir dieser Gedanke.
»Mehr hast du nicht zu sagen? Willst du mir erzählen, warum es passiert ist?«
»Vorerst nicht.« Meine Weigerung nimmt er ungerührt zur Kenntnis.
»Wie du willst. Heute Nachmittag kommt Doktor Cimaroli, er hat dich gestern Abend in der Notaufnahme übernommen. Und er hat mir von deiner Glanzleistung erzählt. Kompliment. Fast hättest du deinen Vater umgebracht. Dazu braucht man Talent.«
Ich schweige, während er mich weiter mustert und von Zeit zu Zeit etwas auf seinen hochwichtigen Blättern notiert, die sehr wahrscheinlich mich betreffen.
»Jedenfalls bist du seit heute in Unterbringung, weißt du, was das bedeutet? Doktor Cimaroli hat sich zusammen mit dem Kollegen in der Notaufnahme für diese Behandlung entschieden, das Prozedere läuft folgendermaßen ab, wir haben die Gemeindeverwaltung deines Wohnsitzes und das Amtsgericht von Velletri informiert, heute Morgen kam das Fax mit der behördlichen Genehmigung, also bist du sieben Tage lang hier zwangsuntergebracht und unserer ärztlichen Behandlung unterworfen.«
Keine Spur mehr von der chemischen Betäubung. Da ist sie, die Angst, die Beklemmung.
»Was bedeutet das? Ich kann nicht nach Hause?«
Der riesige Arzt schüttelt den Kopf.
»Von heute, Dienstag, 14. Juni, bis zum nächsten Montag, dem 20., bleibst du auf unserer Station. Gefällt dir das nicht?« Sein Lächeln lässt keinen Zweifel zu: Meine Niedergeschlagenheit freut ihn.
»Nicht mal, wenn ich mich anständig benehme? Wenn ich meine Eltern kommen lasse, und ihr redet mit ihnen? Ich bin nicht gefährlich, ich bin schon seit ein paar Jahren in Behandlung, ich war bei vielen Ihrer Kollegen. Ich habe niemandem je etwas Böses angetan.«
»Na ja, der Herzanfall deines Vaters, das, was du dir selbst angetan hast, wie auch immer, von jetzt an entscheiden wir, ob du gefährlich bist oder nicht, und auch darüber, was du hast oder nicht hast. Wie heißen die Kollegen, die dich behandelt haben?«
»An alle erinnere ich mich nicht, Sanfilippo, Lorefice, Castro, vielleicht noch ein paar andere.«
»Dein Vater und deine Mutter mussten sicher tief in die Tasche greifen, um dich zu all diesen Professoren zu schicken, wir werden das überprüfen, dieses Gespräch sollte dich nur von der OTU in Kenntnis setzen, also dass du in obligatorischer therapeutischer Unterbringung bist. Ich bin Doktor Mancino, heute Nachmittag sprechen wir uns noch einmal zusammen mit Doktor Cimaroli, du kannst jetzt in dein Zimmer zurück. Mann, was für 'ne Scheißhitze in diesem Krankenhaus!«
Der abschließende Fluch ist ihm halb im Dialekt rausgerutscht, auf jeden Fall ein Dialekt aus dem Süden, ich könnte allerdings nicht sagen, von wo genau.
Vom Sprechzimmer bis zum Patientenzimmer sind es höchstens ein Dutzend Schritte. Ich gehe langsam, die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter, meines Bruders und meiner Schwester begleiten mich stumm. Seit ich auf der Welt bin, habe ich nichts anderes getan, als Unordnung zu stiften, eine überzogene Reaktion nach der anderen, getrieben von einem Impuls, dem ich wohl oder übel folgen musste. Anders kann ich nicht leben, ich schaffe es nicht, diesem wilden Drang zu entkommen: Jeden Gipfel muss ich besteigen, jeden Abgrund ausloten.
Als ich mich auf dem Bett ausstrecke, sehe ich Doktor Mancino mit schnellem Schritt im Flur vorübergehen, er ist wirklich ein Riese. Ich versuche, seinen Blick auf mich zu ziehen, aber er hat Augen für nichts und niemanden, er strahlt Feindseligkeit aus, wenn nicht sogar Verachtung. Noch immer sehe ich seine Miene vor mir. Wie kann man einen Menschen, dem man helfen sollte, so offen verachten? In den letzten beiden Jahren meines Leidenswegs zwischen Psychiatern und Pathologien, habe ich mich an Gleichgültigkeit, an Lieblosigkeit seitens der Ärzte gewöhnt, aber ein so offen bekundeter Hass ist mir noch nicht begegnet.
»Ciao.«
Ohne dass ich ihn bemerkt habe, steht der Mann mit dem Mädchenschrei neben mir.
»Harter Brocken, Mancino, was? Aber is nich der Schlimmste hier drin, glaub mir. Ich bin Gianluca.« Er streckt mir seine Hand mit lackierten Fingernägeln entgegen.
»Daniele.« Wir geben uns die Hand.
»Du auch OTU?«
Ich nicke.
»Ich auch, seit gestern, was has gemacht?« Gianluca wird um die vierzig sein, seine wenigen Haare in vielen Farben, von Aschgrau über Goldbraun bis Leuchtendrot, hat er zu...
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