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Europa steht wieder am Scheideweg. Robert Menasse erklärt und verteidigt die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden.
1945 stoßen Visionäre ein epochales Friedensprojekt an, Grenzen fallen, der Nationalismus weicht der Kooperation - Europa bekommt eine zweite Chance. Doch dieses Projekt könnte schon bald Geschichte sein. Demokratische Defizite führen zu Protest. Mannigfaltige Krisen machen den Menschen Angst. In vielen Mitgliedstaaten erstarkt ein neuer Nationalismus. Wie wird die Welt von morgen aussehen?
Robert Menasse erklärt und verteidigt die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden. Die Alternative ist nicht kompliziert: Entweder gelingt das historisch Einmalige, nämlich der Aufbau einer nachnationalen Demokratie, oder es droht ein Rückfall in das Europa der Nationalstaaten. Das wäre eine weitere Niederlage der Vernunft - mit den Gefahren und Konsequenzen, die uns aus der Geschichte nur allzu bekannt sein sollten.
Was der EU heute also schmerzhaft fehlt, ist Phantasie. Sogar die historische, nämlich die Phantasie der Gründergeneration zu begreifen. Und was Europa am meisten bedroht, sind die politischen Phantasten. Das sind jene, die ihren Wählern Heil versprechen durch die Renationalisierung ihrer Staaten und die das schäbige Spiel spielen, mit Vetos im Europäischen Rat die Entwicklung der EU zu blockieren, um dann ihren Wählern sagen zu können: Ihr seht, die EU funktioniert nicht, wir müssen eine nationale Lösung finden.
Man kann die aktuelle Situation in einem Satz zusammenfassen: Die EU entwickelt sich fort!
Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich.
Die Gute ist, dass die Krisen zu heftig sind, die Herausforderungen der Zukunft zu groß, als dass die Union in einer bloßen Balance ihrer Widersprüche verharren könnte. Ja, doch, die EU entwickelt sich fort, nach Jahren des Stillstands, in denen das »Haus Europa« den Eindruck eines Rohbaus gemacht hatte, an dem die Arbeit eingestellt worden war. Das Haus war bezogen, die Räumlichkeiten eingeteilt, aber der weniger als halbfertige Zustand gab regelmäßig, geradezu rituell, Anlass zur Kritik an der Architektur, allerdings ohne davon die logische Einsicht abzuleiten, dass die Bauarbeiten eben weitergeführt werden müssten. Im Gegenteil. Was auch immer nur schlecht oder noch gar nicht funktionierte, wurde bei Hausversammlungen als Beweis dafür gesehen, dass der Plan nichts tauge und die Idee eines gemeinsamen Hauses nicht funktionieren könne.
Das war die Zeit, im Grunde die langen Jahre der deutschen Kanzlerschaft von Angela Merkel, in der Politiker, die sich nur darum kümmerten, dass der Rohbau nicht einstürzte, bereits als vorbildliche europapolitische Pragmatiker gefeiert wurden. Es war ein systemischer Zustand, vergleichbar jenem, den Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften am Beispiel Österreich-Ungarns mit den Worten charakterisiert hatte, dass der Vielvölkerstaat sich nur noch selbst irgendwie mitmachte. Die Verwaltung des Stillstands war seine ganze Balance. Wir wissen, wie das damals ausgegangen ist, weshalb all jene, die mit Hirn und Herz Europäer sind, in diesen Jahren Angst bekamen - oder lethargisch wurden. Weil es für diese Angst kein Verständnis von Seiten der Regierungen und der Medien gab.
Dann kamen die großen Krisen, die klarmachten, dass es bei Gefahr des sonstigen Untergangs nicht mehr genügte, sich nur noch irgendwie selbst mitzumachen, sondern dass jetzt doch Entscheidungen getroffen werden müssten, die einer europäischen Gemeinschaftspolitik mehr Möglichkeiten geben, einer Gemeinschaftspolitik, die von den Mitgliedstaaten blockiert worden war, weil sie darin einen zu weit gehenden Eingriff in nationale Souveränitätsrechte gesehen hatten.
Die Finanzkrise, die Haushalts- und Schuldenkrise einiger EU-Mitgliedstaaten, vor allem Griechenlands, die sogenannte Flüchtlingskrise, dann noch die Corona-Pandemie, der russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine - und, wie man immer wieder betont, gegen die »europäischen Werte« -, die Handelskrise durch die Unterbrechung der Lieferketten, die Energiekrise, die noch bis vor Kurzem unvorstellbar hohe Inflation. Und zugleich, lange Zeit verdrängt oder ignoriert, aber immer dramatischer in ihren Auswirkungen sichtbar, die Klimakrise.
Konfrontiert mit all diesen Krisen - jede für sich eine große Herausforderung, sie alle zusammen eine dramatische Bedrohung - reichte es nicht mehr, den Status quo zu verwalten, sich im mühsamen Ausgleich sogenannter nationaler Interessen zu erschöpfen und dies Europapolitik zu nennen. Die EU musste sich jetzt bewegen, sich weiterentwickeln, die Möglichkeiten von Gemeinschaftspolitik ausbauen, um diese Krisen zu managen, mit denen kein einziger Mitgliedstaat bei Wahrung seiner nationalen Souveränität alleine fertigwerden könnte. Diese Krisen zeigten das Rohe, das Halbfertige, das buchstäblich Beschränkte des europäischen Projekts, mit dem die Mitgliedstaaten die längste Zeit geglaubt hatten, weiter leben zu können. Aber diese Krisen, eine nach der anderen, führten immer wieder aufs Neue vor, dass das nicht funktioniert. Zum Beispiel die globale Finanzkrise: Die Union hatte sich zu einer gemeinsamen Währung auf dem gemeinsamen Markt durchgerungen. Aber sie hatte sich nicht auf eine gemeinsame Finanzpolitik einigen können. Das hatten die nationalen Regierungen, die nationalen Finanzminister und die nationalen Parlamente, deren höchstes Gut die Budgetpolitik ist, nicht zugelassen. Die heilige nationale Souveränität.
Die Flüchtlingskrise: Die Union hatte die Binnengrenzen im Schengenraum abgeschafft. Aber der gemeinsame Schutz der Außengrenzen konnte nicht organisiert werden, es hätte in nationale Rechte eingegriffen.
EU-Bürger haben in der ganzen Union Niederlassungsfreiheit und Arbeitserlaubnis. Aber es gibt keine europäischen Tarifverträge, kein europäisches Steuersystem, keine europäische Sozial- und Krankenversicherung. Und eine gemeinsame europäische Asyl- und Arbeitsmigrationspolitik im offenen Europa wurde von den Mitgliedstaaten blockiert. Das konnte man nationalen Wählern schon gar nicht verkaufen. Aber was ist, wenn sie trotzdem kommen, Flüchtlinge, Migranten? Dann herrscht ein Chaos, das in dieser Größenordnung nur entsteht, weil jeder Nationalstaat macht, was er will, ohne verbindliches gemeinsames Regelwerk, ohne gemeinsamen Rechtszustand in den akut wichtigen Politikfeldern.
Die Eurokrise: Auf einem gemeinsamen Markt mit gemeinsamer Währung national zu bilanzieren und Nationalökonomen zu Oberrichtern über die europäische Wirtschaftsleistung zu erklären, ist ein so grotesker Unsinn, dass die Schulden Griechenlands in der Höhe von circa drei Prozent der Wirtschaftsleistung der Eurozone beinahe zum Konkurs von Griechenland, zum Zerbrechen der Union und zum Absturz des Euro geführt hätten. Drei Prozent! Kalifornien hat vergleichbar hohe Schulden, aber den Vorschlag, Kalifornien aus der Dollar-Zone zu werfen, hat niemand gemacht.
Die Pandemie: Wie ideologisch verblendet und populistisch müssen nationale Staatenführer sein, wenn sie unbedingt in täglichen Pressekonferenzen erklären wollen, dass sie das Management der Pandemie und die Impfstoffbeschaffung besser meistern als die Regierungen der anderen europäischen Staaten, die natürlich dasselbe von sich behaupten? Der österreichische Kanzler zum Beispiel versprach vollmundig, in Österreich werde es viel früher als in den anderen europäischen Staaten Impfungen geben, da sein guter Freund Putin den »Sputnik«-Impfstoff liefern werde - der nie ankam.
Gesundheitspolitik war keine Kompetenz, die die Mitgliedstaaten der EU übertragen wollten. Aber welchem EU-Bürger ist damit gedient, dass seine Gesundheit zum Spielball nationaler Konkurrenz wird? Und ist einem denkenden Gemüt einsichtig zu machen, dass innerhalb Europas von manchen Staaten wegen der Pandemie die Grenzen geschlossen und Grenzkontrollen eingeführt wurden, als könnte man ein Virus an nationalen Schlagbäumen aufhalten? Und wem ist damit wirklich gedient, wenn eine der großen Errungenschaften der europäischen Gemeinschaftspolitik, der freie Schengenraum, infrage gestellt und zurückgebaut wird?
Das alles wurde schmerzhaft klar, so mancher nationale Politiker musste schließlich über seinen Schatten springen, diesen langen Schatten aus finsteren Zeiten, und die Union konnte weiter reichende Gemeinschaftsentscheidungen treffen, die davor undenkbar gewesen waren, zum Beispiel über die gemeinsame Beschaffung und Verteilung von Impfstoff.
In der sogenannten Schuldenpolitik stimmten Mitgliedstaaten, die strikt gegen Eurobonds gewesen waren, bei Gefahr des sonstigen Untergangs zu, erstmals gemeinsame Schulden aufzunehmen, was der Beginn einer gemeinsamen Finanzpolitik der Eurozone sein könnte.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat dazu geführt, dass endlich über eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur diskutiert wird. Immerhin diskutiert. Die Idee, ich möchte sagen: die Einsicht in die Notwendigkeit, gibt es seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der französische Ministerpräsident René Pleven vorschlug, eine europäische Armee und ein europäisches Verteidigungsministerium zu schaffen. Seither gab es für diesen Plan...
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