Schweitzer Fachinformationen
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Die »Bar jeder Hoffnung« in São Paulo: Hier, beim Kneipier Oswald, einem Wiener, treffen sich regelmäßig deutsche und österreichische Emigranten, die redselig und zuckerrohrschnapssüchtig von ihren Erlebnissen erzählen, »so als hinge ihr Lehen davon ab, daß es erzählt werden könne«. Die Bewußtseinszustände der Trinker waren schon postmodern, als es den Begriff »Postmoderne« noch gar nicht gab. Ihre Erlebnisse und Erzählungen erweisen sich als Wiederholungen von so noch nicht Dagewesenem, sind Farben ohne vorangegangene Tragödien, gleichsam Originalkopien. Aber kann das, was einer wirklich erlebt hat, eine Fälschung sein? Oder sind es die Zusammenhänge, die gefälscht sind? Süchtig sucht Roman, der Ich-Erzähler, das Authentische: in den Abenteuern mit Frauen, in Alkoholexzessen, in den Vorträgen des »Bar-Professors« Singer. Aber alles, was bleibt, ist die Gewißheit, etwas vergessen zu haben.
»Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht!«
»Hast du Angst vor mir?«
»Teilweise«
Alles zerfiel, brach auseinander. Mann konnte, wie ich feststellen sollte, die Scherben beliebig zusammensetzen.
Vera rief an und fragte, was ich am Abend machen werde.
Ich sagte, ich gehe in die Aspirina-Bar, Yuki, eine der Kellnerinnen, habe Geburtstag, und aus diesem Anlaß gäbe es ein Fest. Ein Fest in der Aspirina, sagte Vera, sei eine gute Idee. Sie fragte, ob ich mich freuen würde, wenn sie auch hinkäme. Ich sagte, es würde mich freuen. Hätte ich sagen sollen, es sei unerfreulich, wenn sie zu einem Fest in die Aspirina-Bar ginge oder wenn wir uns dort sähen?
Und dann rief Beatriz an. Sie erzählte, daß die Reifen ihres Wagens in Ordnung gebracht seien, sie habe auch mit ihrem Ex-Mann gesprochen, natürlich sei er es gewesen. Er sei immer noch so schrecklich eifersüchtig, aber er müsse eben lernen, mit den Tatsachen fertig zu werden. Yessss. Sie hoffe, daß ich mir über die Ereignisse der vergangenen Nacht keine Gedanken mache - Nein, sagte ich, ich mache mir keine Gedanken.
Sie fragte, was ich an diesem Abend vorhabe.
Ich sagte es ihr.
Sie sagte, sie würde auch gern hinkommen, ob ich etwas dagegen hätte? Ich sagte, nein. Hätte ich sagen können, daß ich etwas dagegen hätte, wenn Beatriz in die Aspirina-Bar ginge?
Am späteren Nachmittag fuhr ich ziellos in die Stadt, parkte ab und zu das Auto und lief die Straßen auf und ab. In einem Trödler-Laden fand ich eine Marionette, die sehr hübsch war, aber im Vergleich zu denen, die ich bei Yuki gesehen hatte, erschien sie mir allzu primitiv und beschränkt. Ich glaubte nicht, daß Yuki an einer Marionette Freude haben würde, die lediglich dekorativ ist.
In einem Antiquariat fand ich eine alte Ausgabe von Kleists »Über das Marionettentheater«, aber Yuki konnte nicht Deutsch. Als ich nach langem weiteren Herumgerenne nichts mehr fand, das ich mir zumindest theoretisch als Geburtstagsgeschenk für Yuki vorstellen konnte, wurde mir klar, daß ich Yuki einfach viel zu wenig kannte, um ihr wirklich ein persönliches Geschenk machen zu können. Ich trank einen cafezinho in einer Eckbar und sah mich schon mit Blumen zu ihrem Fest kommen. Blumen sprechen ja bekanntlich aus, daß man kein Wort gefunden hat, das konkret aussagen kann, was ein Mensch für einen repräsentiert, sondern daß alles so diffus und abstrakt ist wie ein Duft.
Doch da fiel mir das Wort für Yuki ein: Lächeln. Und mit diesem Wort war es ein Leichtes, doch noch ein Geschenk für sie zu finden. In einem Geschäft, das eigentümlicherweise »much more« hieß und allerlei Kleinkram feilbot, fand ich einen kleinen, runden Taschenspiegel in einem Messingrahmen. Was ich bei diesem, meinem Geschenk selbst nicht verstand, war, daß in den Rahmen, wie bei einer Uhr, die Stundeneinteilung eingraviert war.
Ich stellte mir Yukis Lächeln wunderschön vor in diesem Spiegel, doch vom Rahmen unsicher gemacht, kaufte ich noch einen Strauß Blumen.
Das Geburtstagsfest. Die Mienenspiele. Ich kam zufällig zur selben Zeit wie Vera zur Aspirina-Bar. Wir trafen einander am Eingang.
Da wir die Bar sozusagen als Paar betraten, bekamen wir eine gemeinsame Konsumationskarte, »Vera + Roman« schrieb das Mädchen an der Kasse drauf. Ich dachte nicht daran, was das implizierte, es war eben so.
Ein Geburtstagsfest, kein Kostümfest. So machte die Bar den Eindruck einer gut besuchten Bar und nicht den eines Festes.
Yukis Lächeln. Es war so weich und unnachgiebig, wie steter Tropfen. Ich drückte Vera den Blumenstrauß in die Hand, sie bedankte sich.
»Gib ihn Yuki!« sagte ich, ich wollte, daß alle ihr etwas schenken.
Yuki küßte uns beide auf die Wangen, als ich ihr mein kleines Päckchen und Vera ihr die Blumen gab. Sie freute sich und lächelte, als dachte sie die Bewegungen weiter, die ich fahrig abhackte.
Sie schwirrte weiter. Alle Welt wollte bestellen oder ihr gratulieren.
Die Live-Musik vermittelte das Gefühl von langsamem Gehen auf einem Kiesweg, frischaufgeworfener Erde, verwelkenden Kränzen, von schwarzem Tuch in feuchtkühlem Wind.
Vera sah mich hölzern an.
»I'm very happy!« she said.
Das ist ja schön. Da sie allerdings auch feliz zu sein schien, wollte ich ihr doch klärend . aber da legte sie mir den Finger auf den Mund und sagte: »Pst! Ich weiß schon! Sag jetzt nichts! Es muß nicht noch gesagt werden, was wir schon fühlen!«
Ich fühlte mich überfordert. Sie produzierte ihre Täuschungen schneller, als ich sie enttäuschen konnte. Sicherlich wird sie auch ihre Enttäuschungen schneller produzieren, als ich sie täuschen konnte. Ich konnte überhaupt nichts mehr machen.
Wie ein junges Liebespaar oder ein altes Ehepaar saßen wir schweigend nebeneinander.
Von irgendwo fiel ein Schattenstreifen über ihre Augen, es sah aus, als wäre sie maskiert und wollte mir den Verstand rauben.
Beatriz! Sie kam herein, sich umsehend, und der Lichtstrahl eines aufblitzenden Spots traf ihr Gesicht, gerade als sie mich erblickte. Es sah so aus, als würde ihr Gesicht vor Wiedersehensfreude aufleuchten. Sie kam auf mich zu, und ihr Gesicht verdüsterte sich, nein, sie war natürlich aus dem Lichtstrahl getreten.
Veras Blick ließ glücklich von meiner Gegenwart ab und richtete sich besorgt auf das Kommende. Ich stand auf und begrüßte Beatriz, Küßchen auf die Wangen.
»Setz dich doch!« sagte ich, und sie begann schon aufgeräumt zu konversieren, während sie Platz nahm, wie es mir gehe, was ich heute Schönes gemacht hätte, als ihr Blick auf die Konsumationskarte fiel, die vor mir auf dem Tisch lag, »Vera + Roman« stand drauf. Yessss, sagte Beatriz.
Ich machte Beatriz mit Vera bekannt, die beiden tauschten ein paar höfliche, eiskalte Floskeln, mit ostentativem Desinteresse voneinander ablassend. Sie zeigten eine Unbeteiligtheit, die ich gerne für mich beansprucht hätte, wenn sie nicht zugleich so aggressiv gewesen wäre.
Da saßen wir drei nun.
Das waren Farcen, in denen sich Dinge wiederholten, die ich noch nie erlebt hatte. Farcen ohne vorangegangene Tragödien. Original-Kopien.
Yuki kam, um Bestellungen aufzunehmen. Ich lächelte unschuldig. Ihr Lächeln war das Spiegelbild des Spiegelbilds ihres Lächelns, eine unendliche Geschichte. Sie schwirrte davon wie ein Paradiesvogel.
Beatriz saß starr und abwartend da, ich hatte das Gefühl, daß sie erwartete, daß ich etwas mache, die Situation irgendwie kläre. Aber was sollte ich machen?
»Hör mal«, sagte ich, »es ist so, daß -«
»Du bist ein Kind, weißt du das?« schnitt sie meine Worte ab, die mir ohnehin nicht eingefallen wären. Sie saß so monumental da wie ein Ölgemälde. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit der Frau, die ich in der Sandwich-Bar kennengelernt hatte. Doch! Das Gesicht, das sie machte, schien jenes Abbild von ihr zu sein, das an ihrer Statt alterte.
Yessss. Sie stand auf, beleidigt lächelnd. Die Zahnreihe blitzte wie eine abweisende Mauer, die Zunge verschloß die kleine Ritze, den Durchschlupf. Sie ging weg.
Vera sah sich selbst erst jetzt so richtig ähnlich.
Dieses Pathos, in das ihre Gesichtszüge, ihre Haltung eingemeißelt waren, dieses starre Modelliert-Sein in einem geduldigen, leeren Triumph, der ihre Irritation aufsaugte, bebend und triefend. Sie saß neben mir wie ein Monument in Schwamm gehauen.
Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Aber was hat das zu sagen? Ich empfand mir selbst gegenüber eine solche Taubheit, als wäre ich gar nicht anwesend, ein stumpf gewordener, ferner Voyeur.
Plötzlich sah ich Norbert und Maria, aber wozu das alles erzählen, er lachte kurz mal komplizenhaft her, bevor er sich wieder ins Getümmel warf, das natürlich ein anderes Getümmel war als meines. Aber dann setzten sich er und Maria doch kurz an unseren Tisch, und ich nützte diese Gelegenheit, um aufstehen zu können, wegzugehen von Vera.
Im anderen Raum sah ich Beatriz an einem Tischchen sitzen, mit einem jungen Burschen, der angeregt auf sie einredete. Ich ging zu ihr hin, sagte »Entschuldige!« und wollte ihr etwas erklären, was gar nicht einsichtig zu erklären war, weil jede Erklärung zugleich das Phänomen war, das es erklären sollte, aber ich war eben offenbar doch noch selbstverliebt und daher ein Freund der Harmonie.
Daß ich Yuki versprochen habe, zu ihrem Geburtstagsfest zu kommen, daß ich deswegen hier sei, erklärte ich Beatriz, und nicht, weil ich mit Vera oder mit ihr oder mit beiden hier verabredet sei, ich habe das sowohl ihr als auch Vera am Telefon gesagt, und ich könne ihnen ja nicht verbieten, ebenfalls hierher zu kommen, versuchte ich zu erklären und wiederholte die Worte, die wir am Telefon gewechselt hatten, aber wozu das alles erzählen. Es interessierte nicht einmal Beatriz. Der Junge neben ihr blickte unwirsch wie ein Angler auf einen lärmenden Spaziergänger.
Du bist ein Kind, du mußt noch viel lernen, sagte sie; es interessierte mich so wenig wie das, was ich gesagt hatte.
Alles, was du in deinen Jahren gelernt hast, habe ich schon viel schneller aus Büchern gelernt gehabt und auch schon widerlegt, bevor ich es mitsamt meinen Widerlegungen vergessen habe, hätte ich am liebsten gesagt. Aber ich...
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