Zweiter Teil - Moby Dick
Inhaltsverzeichnis Auch ich, Ismael, gehörte zu dieser Mannschaft. Ich hatte mit allen anderen zusammen gebrüllt, mit den anderen zusammen geschworen; und ich hatte lauter gebrüllt als die anderen und meinen Eid noch lauter bekräftigt, um die Angst in meinem Herzen niederzuschreien. Ein wildes, rätselhaftes Mitgefühl war in mir. Ahabs unstillbarer Rachedurst war mein eigener geworden. Gierig hörte ich auf die Geschichten von jenem mörderischen Ungeheuer, dem ich und alle anderen Rache und Tod geschworen hatten.
Schon seit langen Jahren, wenn auch mit Unterbrechungen, war der einsam ziehende weiße Wal immer wieder in jenen öden Meeren aufgetaucht, in denen die Pottwalfänger am häufigsten jagen. Doch nicht alle wußten von seiner Existenz, und nur verhältnismäßig wenige hatten ihn je zu Gesicht bekommen; und noch kleiner war die Zahl derer, die wirklich Jagd auf ihn gemacht hatten. Es kreuzen ja viele Walfänger zerstreut auf allen Meeren umher, und manche von ihnen stoßen, von Abenteuerlust getrieben, in einsame Breiten vor, so daß sie im Laufe eines Jahres selten oder nie einem anderen Segler begegnen, der ihnen Neuigkeiten bringt. Die ungewöhnlich lange Dauer einer solchen Fahrt, die unregelmäßigen Auslaufzeiten aus den Heimathäfen, all das und andere Umstände erschwerten es lange Zeit, daß bei den Walfangflotten rings um den Erdball genauere Nachrichten über Moby Dick durchsickerten. Allerdings hatten verschiedene Schiffe versichert, daß sie zu der und der Zeit auf dem und dem Breitengrad mit einem Pottwal von ungewöhnlicher Größe und Bösartigkeit aneinandergeraten seien, mit einem Wal, der seinen Angreifern viel Schaden zufügte, ehe er spurlos verschwand. An diesen Berichten gab es keinen Zweifel. Und für viele stand fest, daß es sich bei diesem Wal nur um Moby Dick gehandelt haben kann. Allerdings war es bei der Jagd auf den Pottwal schon häufig vorgekommen, daß sich das angegriffene Riesentier mit wilder Wut, mit List und Bosheit zur Wehr gesetzt hatte. So ist es gut möglich, daß mancher Jäger, der, ohne es zu ahnen, mit Moby Dick aneinandergeraten war, den Schrecken, den er verbreitete, ganz allgemein den Gefahren der Jagd auf den Pottwal zuschrieb, nicht aber der Kraft und der Tücke des einen Gegners: Moby Dick. Auf diese Weise hatte man sich auch bisher ganz allgemein den verhängnisvollen Kampf zwischen Ahab und dem Wal erklärt. Und all jene, die schon früher von dem weißen Wal gehört hatten und ihn nun eines Tages zufällig zu Gesicht kriegten, ließen zuerst einmal kühn und unerschrocken ihre Boote zu Wasser wie bei jedem anderen Pottwal. Auf die Dauer aber entstand bei diesen Angriffen zu viel Unheil. Es blieb nicht bei verstauchten Gelenken oder gebrochenen Gliedmaßen oder schrecklichen Amputationen - sondern mancher Mann verschwand für immer. Diese immer wiederkehrenden Katastrophen steigerten den Schrecken, der von Moby Dick ausging, so daß die Geschichten, die man sich von ihm erzählte, auch das Herz eines unerschrockenen Walfängers erbeben ließen.
Dazu kamen natürlich wilde Gerüchte aller Art, die diese Geschichten weiter übertrieben und mit schrecklichen Einzelheiten ausschmückten. Denn wo sich etwas Furchtbares zuträgt, da wuchern auch die unheimlichsten Gerüchte wie die Pilze im Stamm eines geborstenen Baumes. Auf See aber wuchern die Gerüchte noch weit üppiger als an Land. All das aber wird bei weitem übertroffen, von dem, das man sich unter Walfängern an wunderbaren und gruseligen Geschichten erzählt. Die Walfänger sind, wie alle Seeleute, unwissend und abergläubisch.
Aber sie kommen noch viel enger als alle anderen mit den Wundem und Schrecken des Meeres in Berührung, nicht nur als Zuschauer, sondern im Kampf - sozusagen mit der Hand im Rachen. Einsam in den entlegensten Meeren der Welt, ist der Walfänger allen Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt, die seine Phantasie befruchten. So war es kein Wunder, daß die Gerüchte vom weißen Wal schon auf der Fahrt durch allerlei undeutliches Gerede, durch halbe Andeutungen bereichert wurden. Man schrieb ihm übernatürliche Kräfte zu, die ihn zu neuen, ungeahnten Schreckenstaten befähigten, weit über jedes vernünftige, nachprüfbare Maß hinaus. Am Ende hatte kaum einer, der die Geschichten mitangehört hatte, noch Lust, seinem Rachen zu nahe zu kommen.
Immerhin, einige Männer gab es doch, die trotz der Redereien die Jagd auf Moby Dick nicht aufgeben wollten. Eine noch größere Zahl hatte nur unbestimmte Geschichten ohne schreckliche Einzelheiten und abergläubische Ausschmückungen gehört. Sie waren bereit, dem Kampf nicht auszuweichen, wenn er sich ihnen anbot.
Eine der zügellosesten Mutmaßungen, die sich an Moby Dick knüpfte, war die, daß der weiße Wal allgegenwärtig sei. Zu ein und demselben Zeitpunkt sei er in ganz entgegengesetzten Breiten beobachtet worden. Und diese Behauptung hatte sogar einen Schimmer von Wahrscheinlichkeit für sich. Denn wie man die Geheimnisse der Meeresströmungen noch nicht erforscht hat, so bleiben auch die Wege des Pottwals unter dem Spiegel des Meeres seinen Verfolgern großenteils verborgen. Von Zeit zu Zeit haben sie die merkwürdigsten und widersprüchlichen Vermutungen über die unglaubliche Geschwindigkeit hervorgerufen, mit der sich der Wal angeblich in großen Tiefen zwischen den entlegensten Punkten hin und her bewegt.
So viel ist jedenfalls bei amerikanischen und englischen Walfängern bekannt, daß man Wale im nördlichen Pazifik mit Harpunenhaken im Leib gefangen hat, die aus den Gewässern um Grönland stammten. Es ist auch unbestreitbar, daß in einigen Fällen zwischen den beiden Angriffen nur wenige Tage gelegen haben. Deshalb glauben manche Walfänger, daß der Wal die Nord-West-Passage, die dem Menschen so lange ein Problem war, längst gefunden hat.
Wenn man sich nun einmal an solche Wundergeschichten gewöhnt hatte und wußte, daß der weiße Wal auch wiederholte, tollkühne Angriffe überlebt hatte, so konnte es nicht überraschen, daß manche Seeleute noch einen Schritt weiter gingen und behaupteten, Moby Dick sei nicht nur allgegenwärtig, sondern auch unsterblich. Denn ein wahrer Wald aus Lanzen stecke bereits in seinen Flanken, und dennoch entrinne er jedesmal unversehrt.
Sieht man aber von all diesen übernatürlichen Dingen einmal ab, dann bleibt immer noch genug übrig, um die Phantasie zu beschäftigen. Denn es war nicht einmal seine ungewöhnliche Größe, die ihn von anderen Pottwalen unterschied, sondern seine schneeweiße, tiefgefurchte Stirn und sein hoher, pyramidenförmiger weißer Buckel. Das waren die Zeichen, mit denen er auf dem unendlichen Meer denen seine Gegenwart zu erkennen gab, die ihn kannten.
Sein Körper war weiß gestreift und gefleckt und marmoriert, so daß er Ende am zur Unterscheidung von anderen Walen den Namen der weiße Wal erhielt; ein Name, den er wahrhaftig rechtfertigte, wenn er am hohen Mittag durch das dunkelblaue Meer dahinzog, hinter sich eine Milchstraße von weißem Schaum, von goldenen Lichtern übersprüht. Doch, es war nicht so sehr seine ungewöhnliche Größe, auch nicht seine Färbung oder der mißgestaltete Unterkiefer, was ihn den Walfängern so furchtbar machte, als vielmehr die beispiellose Tücke und Schlauheit, die er bei seinen Angriffen immer und immer wieder bewies. Vor allem seine hinterhältigen Rückzüge waren der Schrecken der Jäger. Denn mehr als einmal soll er mit allen Zeichen der Furcht vor seinen Verfolgern davongeschwommen sein, um dann plötzlich zu wenden, auf sie loszurasen und die Boote in Stücke zu schlagen oder wenigstens zu vertreiben.
Diese Jagd hatte schon manchem das Leben gekostet. Aber solche Unglücksfälle bringt der Walfang eben mit sich, auch wenn man an Land wenig davon spricht. Wenn aber der weiße Wal einen in seiner rasenden Wut zum Krüppel geschlagen oder gar getötet hatte, dann wurde er nicht einfach als Opfer der dumpfen Kreatur betrachtet, sondern als Opfer eines bewußten, teuflischen Anschlags. So ist auch die Wut der verzweifelten Jäger zu verstehen, die inmitten der Trümmer ihrer zerschmetterten Boote und der versinkenden Gliedmaßen ihrer Kameraden herausschwammen aus dem weißen Strudel, den die Raserei des Wals erzeugte, zurück in das Licht einer Sonne, die heiter weiterleuchtet, als wäre nichts geschehen.
Einst hatte ein Kapitän, als seine drei Boote zerschmettert waren und Ruder und Männer im aufgewühlten Wasser umherwirbelten, das Messer aus dem Bug seines zerbrochenen Bootes gezogen und sich auf den Wal gestürzt, um mit der sechs Zoll langen Klinge die tiefliegende Lebensader des Wals aufzureißen. Dieser Kapitän war Ahab. Und da geschah es. Plötzlich war Moby Dick mit seinem sichelförmigen Unterkiefer unter ihm hinweggeschossen und hatte Ahabs Bein abgemäht wie einen Grashalm auf der Wiese. Kein Teufel hätte ihn tückischer treffen können. So ist es leicht zu begreifen, daß Ahab seit diesem verhängnisvollen Schlag unersättlich nach Rache dürstete. Denn er sah in seinem fast krankhaften Haß in dem Wal nicht nur den Urheber all seiner körperlichen Leiden, sondern auch seiner seelischen Qualen. Der weiße Wal schwamm vor ihm wie die Verkörperung alles Bösen. Auf seinen weißen Buckel häufte er den ganzen Haß und die Wut des Menschengeschlechts.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß dieser Wahn erst in dem Augenblick von ihm Besitz ergriff, als er vom Wal verstümmelt wurde. Als er mit dem Messer in der Hand auf das Ungeheuer eindrang, hatte er nur einer Regung plötzlichen Abscheus nachgegeben. Und als er den Hieb, der ihn zerfleischte, empfing, da fühlte er wahrscheinlich den rasenden Schmerz der Wunde, aber sonst nichts. Aber jetzt war er...