Schweitzer Fachinformationen
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Nutte. Schlampe. Hündin. Hure. Dirne. Flittchen. Endlose Variationen. In einem Fall bezeichnete der alkoholisierte Mann seine Frau als Dona Sapa, fette Kröte (ich musste sofort an ein Foto im Internet denken, die Nahaufnahme einer hübschen Frau mit einem üppigen Doppelkinn, unter dem »Fick dich« stand). »fette Kröte«, kreischte der Mann vor Lachen. Sein Opfer lief durchs Haus, der Mann torkelte hinterher, »Dona Sapa, Dona Sapa, Dona Sapa«, rief er ein ums andere Mal. Vor den Kindern. »Cururu macht die Kröte unten am Fluss .«, sang er. »In dein schlaffes Doppelkinn passen locker zwei Kilo Orangen«, sagte er. Als er merkte, dass er sie damit nicht mehr ärgern konnte, attackierte er sie mit dem Küchenmesser und tötete sie. In einem anderen Fall war der Freund so umsichtig zu warnen: »Ich verpasse dir eine Kugel in die Möse.« Und hielt sein Versprechen. »Aas wie dich, Luzineide«, pflegte ein anderer Mörder zu sagen, »finde ich zuhauf im Schlachterabfall.« Tod durch Ersticken. Iracema, erwürgt. Ebenso wie Elisa, Marineide und Nilza.
Der Gedanke, der Mörder müsse sich wegen der Obduktion Sorgen machen, ist lachhaft. Das System ist darauf ausgerichtet, nicht zu funktionieren. Wer das Opfer am Ende obduziert, blickt es voller Verachtung an. Ist ja nur eine Frau, denkt er. Eine Negerin. Eine Nutte. Ein Etwas. Wenn möglich, geht er in dem Kabuff, in dem er arbeitet, gar nicht erst ans Telefon. Und überlässt den Fall der nächsten Schicht.
Mit meiner Mutter konnten sie das nicht machen, aus einem ganzen einfachen Grund. Sie war weiß. Und nicht arm.
Abgesehen von der einschlägigen Literatur zu dem Thema, hatte ich einhundertachtzig Verfahren in meiner Dokumentensammlung, die ich mir allesamt aus der Justizdatenbank von Acre heruntergeladen hatte. Im Gegensatz zu vielen Bezirken in reicheren Bundesstaaten des Landes war dort in einem heldenhaften Versuch, unsere Schalterkultur hinter sich zu lassen, der gesamte Datenbestand digitalisiert worden. Wanda. Telma. Abigail. Kelly. Die Liste der Namen füllte etliche Seiten auf meinem Computer, der während des gesamten Flugs angeschaltet blieb.
Beruf des Angeklagten: Soldat. Elektriker. Maurergehilfe. Bauer. Beamter im öffentlichen Dienst. Student. Man kann sagen, dass Frauenmord ein schichtübergreifendes Verbrechen ist. Ich legte meine eigenen Tabellen an, die künftige Statistiken erweitern würden. Bildungsgrad des Angeklagten: Semi-Analphabet. Abgeschlossenes Hochschulstudium. Analphabet. Universitätsniveau. Beziehung zum Opfer: Ehemann. Freund. Liebhaber. Ehemaliger Liebhaber. Bruder. Schwager. Stiefvater. Lediglich in fünf der Fälle kannte der Mörder das Opfer nicht.
Auf dem Flug musste ich an eine Freundin aus meiner Kindheit denken, die Insekten presste und in ein Heft klebte. Ich hatte mir auch so ein Heft zugelegt, aber Schmetterlinge zu töten war nie mein Fall gewesen. Vielleicht könnte ich jetzt mehrere Alben mit meinen Fotos der getöteten Frauen oder der Tatwaffen füllen. Messer. Sensen. Taschenmesser. Hacken. Flaschen. Hammer. Elektrokabel. Dampfkochtöpfe. Fleischspieße. Zum Frauenmorden taugt jeder Gegenstand als Waffe.
Ich blickte erst von den Akten auf, als wir in Brasília landeten. Nach und nach leerte sich das Flugzeug von jener Sorte Männer, die alle die gleichen Anzüge tragen und die gleichen Laptops bei sich haben. Wie viele von ihnen mochten wohl ihre Frauen verprügeln? Es wurde immer heißer. Ich überlegte, ob ich aufstehen und darum bitten sollte, die Klimaanlage wieder anzuschalten, aber im selben Moment überfiel mich eine plötzliche Müdigkeit. Wanda.
Abigail. Carmen. Joelma. Rosana. Deusa. Ich blickte auf diese Frauennamen, scheinbar nicht enden wollende Berge von Leichen. Und schlief ein.
Ich erwachte drei Stunden später in Cruzeiro do Sul; den Zwischenstopp in Rio Branco hatte ich gar nicht mitbekommen.
Beim Start in Brasília war ich die einzige Passagierin gewesen, jetzt war die Maschine voll. Während ich darauf wartete, dass wir aussteigen durften, überlegte ich, dass sicher viele Passagiere Kinder von Opfern waren. Sie kamen, so wie ich, um den Gerichtsverhandlungen beizuwohnen.
Beim Verlassen des Flugzeugs traf mich die feuchte Hitze von Cruzeiro do Sul wie ein Schlag. »Unser Acre - darauf sind wir stolz«, stand auf dem Willkommensschild.
Alles, was ich über die Region wusste - über die Besetzung Amazoniens im Allgemeinen und die von Acre im Besonderen -, hatte ich aus Euclides da Cunhas Krieg im Sertão, das ich noch während meines Studiums gelesen hatte. Acre wurde darin als eine Art »natürlicher Auslese im umgekehrten Sinne« beschrieben, als Ort der Verbannung.
Ich nahm mir ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse des Hotels, in dem ich mich einquartieren wollte. »Helmpflicht«, stand in spanischer Sprache auf einem der Schilder, aber keiner der Motorradfahrer dort trug einen Helm.
»Sind Sie zum ersten Mal in Cruzeiro do Sul?«, fragte der Mann am Empfang, ein gut aussehender, kahlköpfiger Halbindio, der Marcos hieß und der Sohn des Hotelbesitzers war.
Ich bejahte.
»Dann können Sie Ihren Freunden in São Paulo ja schon mal erzählen, dass Acre tatsächlich existiert.«
An den darauffolgenden Tagen tauchte er immer wieder wie aus dem Nichts auf, stets begleitet von Tadeu, seinem Hund. Egal, ob ich aus dem Gerichtsgebäude trat oder auf dem Marktplatz ein Eis aß, plötzlich war er da, kam gerade aus der Uni, in einem seiner auffälligen, orange-, lila- oder pinkfarbenen T-Shirts, manchmal auch nur in Shorts und barfuß, um in einem der Waldflüsse in der Umgebung schwimmen zu gehen. »Willst du mitkommen, kurz reinspringen?«, fragte er mich ständig. Wenn er mit mir redete, sah er mir fest in die Augen, auf eine neugierige, fast kindliche Art und Weise. Seine Fußspitzen zeigten beim Gehen leicht nach innen, was sehr unmännlich wirkte. Wenn er mit dem Auto unterwegs war, bot er mir an, mich mitzunehmen.
Seine Mutter war eine Indigene aus dem Dorf der Ch'aska. »Du musst die Ch'aska kennenlernen.« Tag für Tag wurde die Liste dessen, was ich tun musste, länger. »Du musst in den Wald gehen.« »Du musst einen Schwarm Königstyrannen im Flug beobachten.« »Du musst im Rio Croa schwimmen.« »Du musst Ayahuasca trinken.« Ohne seine Allgegenwart und seine Bereitschaft wären wir nicht so schnell Freunde geworden.
Bereits am Abend meiner Ankunft, als er mein Interesse für den spanischen Willkommensgruß »an die Brüder und Schwestern aus Bolivien und Peru« auf dem Empfangstresen bemerkte, erklärte er mir lang und breit, dass es »eine irre Sache« sei, in einer Grenzstadt zu wohnen. »Am Ende bist du weder von hier noch von dort«, sagte er. »Aber es ist okay. Ich fühle mich als Weltbürger.«
Und dann zog er mich hinaus auf die Straße, um den Vollmond zu betrachten, obwohl überhaupt kein Mond am Himmel zu sehen war.
Später, nachdem ich geduscht hatte, packte ich meinen Koffer aus und hängte meine Sachen in den Schrank. Amir hatte mir eine weitere E-Mail geschickt: »Hast du mich auf deinem Telefon blockiert? Wann hörst du endlich mit dem Kinderkram auf und redest vernünftig mit mir?«
Um elf Uhr lag ich erschöpft im Bett und konnte nicht schlafen. Ich ließ das Licht brennen und betrachtete die Feuchtigkeitsflecken, die sich die Wand entlang bis zum Fenster erstreckten. Plötzlich spürte ich wieder, zack, die Ohrfeige in meinem Gesicht. Rückblickend stellte sich die Szene anders dar, nicht mehr so, als wäre ich zugleich eine Zuschauerin, die mir dabei zusah, wie ich geohrfeigt wurde. Das Beobachter-Ich war verschwunden. Ich war nun ganz allein mit meinem Aggressor. Schlampe! Das Brennen auf meiner Wange fühlte sich noch realer an als an dem verhängnisvollen Tag.
Es war niederschmetternd, zugeben zu müssen, dass sich meine Gedanken in den letzten Tagen im Kreis gedreht hatten. Von Ohrfeige zu Ohrfeige. Tatsächlich hat eine Ohrfeige die gleiche Wirkung wie ein Dumdumgeschoss. Bei aller Unterschiedlichkeit richtet sie im immateriellen Teil von uns das Gleiche an wie ein derartiges Projektil in unserem Fleisch: Statt den Körper zu durchbohren, implodiert die geballte Zerstörungskraft in unserem Inneren und vergrößert die Verletzung. Ein großer Teil von uns stirbt bei der Ohrfeige. Psychologisch gesehen. In mir jedoch hatte sie eine Art umgekehrten Dominoeffekt ausgelöst, sie holte etwas empor, das vor langer Zeit heruntergefallen war, etwas aus dem Inneren, das tot war, ein Bruchstück, das ein weiteres Bruchstück zutage förderte und immer so fort, bis hin zum allerletzten, dem am tiefsten gefallenen, fast schon begrabenen, und das hieß »Mutter«.
Mein Verhältnis zum Tod meiner Mutter hatte schon verschiedene Phasen durchlaufen. Es hatte eine Zeit des Ich-möchte-ihr-Gesicht-nicht-vergessen gegeben, in der meine Großmutter gezwungen war, mehrere Fotos von ihr vergrößern zu lassen und das Haus mit gerahmten Porträts von ihr auszustaffieren. Die vorpubertäre Phase des Ich-will-nicht-mehr-darüber-sprechen, in der alle Bilder wieder eingesammelt wurden, mit Ausnahme eines einzigen Fotos von ihr im Alter von achtzehn Jahren, auf dem sie in Shorts und Turnschuhen neben ihrem Hund sitzt. Dann kam die härtere Phase, in der ich meine Mutter unter dem Teppich meiner Renitenz begrub. Erst während meines Jurastudiums und ausgestattet mit dem entsprechenden Fachvokabular griff ich das...
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