Fünf
Das Bett ist riesig, gemessen an der zierlichen Frau, die in ihm liegt. Beide Arme ruhen auf den Laken, lang und dünn. Ihre Handrücken sind leichenblass. Caro hat die Augen geschlossen. Neben ihr steht ein Automat, der leise durch den Nachmittag summt und die Leitung der Infusion beharrlich mit Nachschub versorgt. Draußen trommelt Regen gegen das Fenster des Einzelzimmers. Die Luft ist warm und abgestanden, das Licht neben dem Bett viel zu kräftig für diese Stille hier. Über Caros Stirn zieht sich ein breiter Verband, der Kompressen in Höhe ihres linken Ohrs fixiert. Über Wangen und Kinn erstrecken sich Blutergüsse, dunkel wie Gewitterwolken. Sie heben sich in stummer Dramatik von der schneeweißen Nachbarschaft ab. Als Richard die Tür hinter sich schließt, öffnet Caroline die Augen. Sie sind dunkel, fast schon schwarz, aufmerksam, und füllen sich im nächsten Moment mit Tränen. Ein beunruhigendes Schauspiel. Eine Sekunde lang sieht es so aus, als starre ein Augenpaar die beiden Polizisten an, das in einem mit Gift gefüllten Tümpel schwimmt. Ein Windstoß treibt draußen noch mehr Regen über die Scheiben. Auch der Himmel weint.
„Polizei?“, fragt die junge Frau leise. Sie wischt sich Tränen aus den Augen, entschlossen, die Schläuche der Infusion hinter sich herziehend. „Polizei?“
„Mein Name ist Richard Wagner.“ Er nickt ihr zu und deutet auf seinen Nebenmann. „Das ist mein Kollege Thomas Decker. Wir führen die Ermittlungen und hoffen, dass Sie uns helfen können. Wir fassen uns kurz. Dürfen wir mit Ihnen sprechen?“
„Habe ich eine andere Wahl?“, erwidert Caro. Sie ist noch nicht lange wach und klingt benommen, immer noch. Die Schmerzmittel setzen ihr zu. Das sieht man ihr an. Ihr Kopf sinkt tiefer ins Kissen. „Ermittlungen. Klingt gut. Gibt nichts zu sagen. Ich habe da draußen kaum was gesehen. Ging alles schnell.“
Richard nimmt auf einem Schemel Platz, der neben Caros Bett steht. Der Lack über den Füßen aus Eisen ist abgeplatzt. Thomas geht ans Fenster und hält sich im Hintergrund. Richard weiß nicht, wie er das anstellt, aber irgendwie schafft es der Mann, sich in Momenten wie diesen unsichtbar zu machen und in Luft aufzulösen wie ein Geist aus der Flasche.
„Wie geht es Ihnen?“
„Blendend“, sagt Caro. Durch ihre Stimme zieht sich ein Beben, kaum zu messen auf der Richterskala. Ganz der Vater. „Sieht man das nicht? Ich habe heute früh nur zu viel Rouge benutzt. Nicht böse sein.“
Richard blickt zur Decke. Er sucht nach Worten, findet aber nur zwei Lampen und weiße Farbe. „Wir wissen, dass das nicht leicht für Sie ist.“
„Sie wissen gar nichts.“ Caroline schluckt, hustet tief, beginnt zu zittern und lässt den Tränen freien Lauf. Sie fließen über die Hämatome. „Sie wollen wissen, was wir zwei im Wald zu suchen hatten, oder?“
„Um ehrlich zu sein“, sagt Richard und sieht dabei noch einmal zur Decke, als könne er da oben doch noch passende Worte finden, „ist das für uns nicht von Belang. Waren Sie und Ihr Freund zum ersten Mal da draußen auf dem Parkplatz?“
„Von Belang.“ Diese Worte spuckt Caro aufs Bettlaken. „Schön gesagt, Herr Kommissar. Wir haben immer mal wieder da draußen geparkt. Weil wir da unsere Ruhe hatten. Meistens donnerstags nach neun, nach dem Tanzkurs. Für eine Stunde. Sie wissen schon.“
Richard spürt, wie Thomas am anderen Ende der Milchstraße tief Luft holt und sich fragt, ob es nicht besser ist, sofort zurück zur Mondbasis zu fliegen. „Ich sagte ja schon: Für uns ist das, was Sie da draußen getan oder gelassen haben, nicht von Belang. Wir wollen nur herausfinden, wer Ihnen das angetan hat.“
„Fein“, sagt Caroline und schürzt ihre giftgrünen und immer noch geschwollenen Lippen. „Dann sind wir ja schon zu dritt.“
„Ist Ihnen etwas Besonderes …“, fragt Richard, aber Caro fällt ihm ins Wort.
„Aufgefallen? Nichts. Gar nichts ist uns aufgefallen. Wir haben nie jemanden da draußen gesehen. In der ganzen Zeit nicht. Deswegen haben wir da auch geparkt.“ Das letzte Wort zieht Caroline in die Länge, ganz so, wie es ihr Vater Minuten zuvor getan hat. „Der Parkplatz war immer verlassen. Wir hatten ihn für uns. Kein Auto, kein Mensch weit und breit. Bis zuletzt.“
„Erinnern Sie sich an Details? Was haben Sie gesehen?“
„Ich weiß nicht, wie lange wir schon im Auto saßen. Vielleicht eine Viertelstunde. Ich habe das Gespenst zuerst entdeckt. Stand auf einmal da. Weit weg, zwischen den Bäumen, und schaute uns zu. Ich dachte zuerst, der Spanner hat ein Fernglas.“
„Und? Hatte er eines?“
„Nein. Sah nur so aus. Ich glaube, er trägt eine Brille. Eine starke Brille mit dicken Gläsern.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Obwohl er weit weg stand, konnte ich das klar und deutlich sehen. Es sah, nun ja, es sah irgendwie lustig aus.“
„Lustig?“
„Was glauben Sie? Da steht auf einmal ein Typ vor Ihnen, der ein Bettlaken über dem Kopf trägt, mit einer Brille wie im Karneval. Die Gläser sahen aus wie Lupen und machten ihm große Augen. Dann ging alles schnell. Ich habe Chris gesagt, dass da draußen jemand am Auto steht, und er stieg sofort aus, um den Kerl zu verjagen.“
„Warum sind Sie nicht einfach weggefahren? Ich meine, Sie wussten doch nicht, was der Mann, der Sie beobachtet, im Schilde führt.“
„Dachte ich auch.“
„Sie haben es aber nicht geschafft, dass Ihr Freund einfach wegfährt.“
„Das ist“, ruft Caroline, kämpft wieder mit Tränen und korrigiert sich noch im Landeanflug. „Das war nicht seine Art. Chris war extrem sauer und wollte sich den Spanner kaufen. Und dann war er auch schon draußen, um ihm eine Lektion zu erteilen.“
„Was dann?“
„Nichts zunächst. Ich sah nur, dass der Kerl aus dem Wald irre verkleidet war.“
„Mit Bettlaken.“
„Mit Bettlaken. Habe ich Ihren Kollegen schon gesagt. Ich dachte zuerst, der Typ ist irre, der meint das nicht ernst.“ Caroline sucht nach Worten. „Aber er meinte das ernst. Völlig ernst. Er kam näher, als sei nichts dabei. Als sei gar nichts dabei. Der Typ ging auf Chris los, hielt was Spitzes in den Händen, stach zu, schob Chris zum Wagen, und plötzlich waren die beiden auf der Motorhaube.“
„Was haben Sie dann gesehen?“
„Zuerst gar nichts.“ Die Frau zittert. Ihre Arme rutschen über das Laken, und einen Moment lang schaukelt die Infusion in der Flasche. Thomas macht einen Schritt nach vorne, hält dann aber inne. „Dann war da Blut. Jede Menge Blut. Der Kerl hat Chris nicht mehr losgelassen, nicht eine Sekunde lang. Hat auf ihn eingestochen. Mit einem Messer. Zuerst hat Chris versucht, sich zu wehren, aber er war schon schwer verletzt. Er hatte gegen diesen Irren keine Chance.“
Richard zieht zwei Fotos vom Tatort aus seiner Jacke und lässt sich auf den Bildern zeigen, wo Caroline den Fremden zuerst gesehen hat. Thomas kommt hinzu und macht sich Notizen. Dann herrscht betretenes Schweigen. Draußen ist eine weit entfernte Durchsage und das Schlagen von Fahrstuhltüren zu hören.
„Ich konnte Chris nicht helfen. Das war das Schlimmste. Ich saß einfach nur da, im Auto, und habe zugesehen, wie mein Freund umgebracht wird. Ich musste zusehen, die ganze Zeit, und ich glaube, das hat dem Scheißkerl gefallen. Hat ihn angemacht. Als er mit Chris fertig war, hat er das Blut zur Seite gewischt und mich durch die Scheibe angeglotzt. Dann hat er mich aus dem Auto geholt.“
„Haben Sie sein Gesicht gesehen?“
„Er hatte kein Gesicht.“
„Kein Gesicht?“
„Nein! Er trug immer das verdammte Laken über dem Kopf. Zwei Löcher für die Augen, ein breites für den Mund. Und diese irren Lupengläser. Sonst nichts. Ich glaube, der Kerl trug eine Spezialbrille. Sah ein bisschen aus wie der Frosch mit der Maske in diesem Edgar-Wallace-Film.“
„Eine Spezialbrille?“ Richard beobachtet, dass Thomas sich immer noch Notizen macht.
„So ein Ding, das man sich beim Schwimmen überzieht, damit kein Wasser in die Augen kommt. Der Typ sah aus wie ein Gespenst. Und er war kräftig. Sehr kräftig. Er konnte sich unter all dem Zeug sehr gut bewegen. Es sah aus …“
„Wie sah es aus?“, will Thomas wissen.
„Es sah als, als hätte er das schon oft gemacht“, sagt Caro mit fester Stimme, ganz so, als nehme sie Anlauf. „Für ihn waren die Laken nichts Besonderes.“
„Trug er Handschuhe?“
„Ja. Aus Gummi.“ Caroline nickt misstrauisch. „Ich glaube, sie waren grün.“
„Konnten Sie seine Schuhe sehen?“
„Dazu waren die Laken zu weit. Und ich hatte andere Sorgen.“
Die Frage, welche Sorgen das waren, erübrigt sich mit einem Blick in ihr Gesicht. Caroline fehlt das linke Ohr. An dessen Stelle sitzt ein wuchtiger Verband.
„Das Schwein hat mich wie einen Teppich in den Wald gezogen. Ich weiß nicht, wie weit. Zwischendurch war ich weg. Dann kam der Schmerz, und ich wurde wach, als er mit dem Messer loslegte. Schauen Sie sich an, was der Dreckskerl getan hat. Schauen Sie sich das mal an.“ Caroline greift sich mit beiden...