Schweitzer Fachinformationen
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Nach dem Ersten Weltkrieg bricht das Zeitalter der Utopien an.1920 zieht es den jungen Hermann Oberth von Siebenbürgen nach Göttingen, um Physik zu studieren - die spannendste Wissenschaft der Zeit. Hermann will den Menschheitstraum von der Mondrakete verwirklichen. Als der Durchbruch nah ist, weisen seine Professoren ihn ab.
Seine lebenslustige Frau Tilla versucht, einen gemeinsamen Alltag als Familie zu ermöglichen, als doch jemand an Hermanns Forschung glaubt: Wernher von Braun, Mitglied der SS. Doch statt der Mondrakete soll Hermann die V2 mit entwickeln, eine "Vergeltungswaffe" für die Nazis. Seine Kinder Ilse und Julius verliert er an den Krieg. Und so stellt sich ihm und auch Tilla mit voller Wucht die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Geschichte.
"Daniel Mellem hat nicht nur einen mitreißenden Roman geschrieben - er hat eine Rakete gezündet!" Sasa Stanisic
Der Schäßburger Sommer des Jahres 1899 war heiß wie immer. In den Häusern staute sich die Hitze, auf den Uferwiesen der Kokel verbrannte das Gras, und wenn man vom Siechhofberg durch die flimmernde Luft hinunter auf die kleine siebenbürgische Stadt schaute, dann wirkte die mittelalterliche Burg mit Stundturm, Klosterkirche und Bergschule wie eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Zeit.
Auf dem Siechhofberg, zwischen Eichenbäumen, streckte Hermann seinen Arm in die Ferne. Ein Hirschkäfer lief seine Hand entlang und erklomm langsam seinen Zeigefinger. Hermann betrachtete den fetten, rotbraunen Rumpf, die langen, schwarzen Beine und das Geweih, das beinahe so lang war wie der Körper selbst. Er hielt den Finger in die Höhe. Dieses plumpe Tier konnte unmöglich fliegen, und doch öffnete der Käfer jetzt seine Flügel. Hermann sah ihm nachdenklich nach, wie er langsam in das Tal hinabglitt.
»Lass uns baden gehen«, riss sein kleiner Bruder Adolf ihn aus seinen Gedanken. Hermann wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute hinunter zur Kokel, die in der Mittagssonne glitzerte. Warum nicht? »Wer zuerst unten ist«, sagte er und ging gleich in die Hocke. Adolf machte es ihm etwas ungelenk nach.
»Eins .«, sagte Hermann. Sie schauten einander herausfordernd an, Adolf stand vor Aufregung der Mund offen.
»Zwei .« Hermann ging noch ein Stück tiefer in die Hocke, um sich maximal in den Sprint hineindrücken zu können.
»Drei!« Damit rannte er los. Sofort war er vorneweg, ließ seinen kleinen Bruder hinter sich, er rannte über den feuchten Waldboden, zwischen den Bäumen hindurch hinüber zum Lehmpfad, der den Berg hinunterführte. Der Pfad war von der Sonne aufgeheizt worden und brannte unter den Füßen, und so lief Hermann schneller und schneller hinunter in Richtung Uferwiesen, er stolperte, verlor fast den Halt, dann fing er sich und war erleichtert, als der Boden endlich wieder flacher wurde. Unten angekommen grub er seine Zehen in den kühlen Flussschlamm und schaute zurück zu seinem Bruder. Noch lief Adolf auf wackligen Beinen, dann fiel er hin und rutschte bäuchlings die Böschung zum Fluss hinunter. Heulend hielt er sich die blutenden Knie. Sofort war Hermann bei ihm und half ihm aufzustehen. »Das wird schon wieder.« Er zog seinen Bruder in die Kokel und wusch die Schrammen aus. Adolf wimmerte, dann zeigte er auf etwas hinter ihnen.
Ein paar Meter entfernt lag halb im Wasser ein großer Büffel, der in der Sonne döste. Das schwarze Fell glänzte, der nasse Schwanz schlug nach ein paar Schnaken aus. Hermann betrachtete ihn, überlegte. Dann bückte er sich, nahm etwas Uferschlamm und warf nach dem Tier. Er verfehlte es knapp, das Wasser spritzte. Der Büffel hob den Kopf. Unter dem Fell zuckten die Muskeln, dann stemmten vier dünne Beine den Körper langsam in die Höhe. Hermann klatschte ein paarmal in die Hände, bis der Büffel ihn endlich ansah. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, ging er näher heran, bis er den Atem des Tieres im Gesicht spüren konnte. Er beugte sich noch ein Stück vor, um in die dunklen Augen des Büffels zu schauen, zwei Murmeln, die geheimnisvoll in der Sonne glitzerten. »Hermann, komm!«, rief Adolf hinter ihm. Hermann schüttelte den Kopf. Vorsichtig griff er mit Zeigefinger und Daumen nach einer der beiden Murmeln. Der Büffel brüllte, taumelte zurück. Dann senkte er auf einmal die Hörner.
Durch die Rundbogenfenster fiel Licht herein, an den Wänden schimmerten weiße Kacheln. Die Helligkeit des Krankenzimmers blendete Hermann, er kniff die Augen zusammen. Der Brustkorb schmerzte so sehr, dass er kaum atmen konnte. Langsam kam die Erinnerung zurück. Er sah die zu Halbmonden gebogenen Hörner des Büffels vor sich, dann den riesigen Kopf, der zustieß. Er schämte sich. Er hatte sich in Gefahr gebracht und, was noch viel schlimmer war, er hatte seinen kleinen Bruder in Gefahr gebracht. Hoffentlich war Adolf nichts passiert. Er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Mühsam drehte er sich auf die andere Seite. Er atmete auf. Auf dem Bett neben der Tür saß sein Bruder und ließ die Beine baumeln. »Du glaubst nicht, wie wütend Vater war.«
Es war eine Strafe, dass ausgerechnet der Vater Direktor des Spitals war. In den folgenden Tagen traute Hermann sich in seinem Krankenbett kaum zu atmen. Nicht nur, weil die gebrochene Rippe so wehtat, wichtig war vor allem, so leise wie möglich zu sein und bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tür zum Krankenzimmer stand den ganzen Tag offen, er konnte sehen, wie der Vater, Vollbart und kurz geschorene Haare, die Treppen hinauf- und wieder hinuntereilte und die Flure entlanghetzte. Hermann war jedes Mal erleichtert, wenn der Vater nicht bei ihm im Türrahmen stehen blieb und ihn mit schmalen Augen anblitzte, bevor er weiterhastete. Hermann war sich sicher, das Einzige, was den Vater davon abhielt, von morgens bis abends mit bösem Blick bei ihm im Zimmer zu stehen, war sein ewiges Pflichtgefühl. Von nichts redete der Vater häufiger als von seiner Pflicht. Achtzehn Stunden am Tag arbeitete er, selbst nachts stand er auf und ging vom Wohnhaus, wo sie mit einer anderen Arztfamilie lebten, nebenan ins Spital, um nach seinen Patienten zu sehen. Alle in Schäßburg bewunderten den Vater. Es hieß, er mache keinen Unterschied, ob einer arm sei oder reich, und könne jemand die Behandlung nicht bezahlen, dann übernehme er die Kosten selbst. Aus ganz Siebenbürgen kamen Patienten nach Schäßburg, sogar aus Budapest und Wien, um sich mit der neuartigen Strahlenmaschine, die der Vater angeschafft hatte, untersuchen zu lassen. Einmal hatte er einen ungarischen Bauern von seiner Taubheit befreit und der hatte ihn daraufhin einen Gott genannt. Der Vater hatte abgewunken. Es sei doch nur eine einfache Spülung gewesen.
So wohlmeinend der Vater mit seinen Patienten war, so hart war er gegen sich selbst. Vor einigen Monaten hatte er an einem Tag unter heftigen Bauchschmerzen gelitten. Gleich mehrmals war er aus dem Spital zu ihnen ins Haus gekommen und war lange auf der Toilette verschwunden. In der Nacht hatte Hermann ein seltsames Gestöhne aus dem elterlichen Schlafzimmer gehört und hatte sich in den Flur geschlichen. Durch den Türspalt konnte er sehen, wie der Vater seinen nackten Bauch abtastete und die Mutter bat, ihm seine Arzttasche zu bringen. Besorgt sah sie ihn an. Er solle sich doch lieber im Spital behandeln lassen, wozu sonst stecke er ihr ganzes Erspartes dort hinein? Doch der Vater schüttelte den Kopf und wie immer, wenn er auf etwas bestand, gab die Mutter nach. Sie holte die Tasche, der Vater zog sich eine Spritze auf und setzte sie sich in die Seite. Dann befahl er der Mutter, sich mit der Öllampe neben das Bett zu setzen und einen Spiegel in der Beuge zwischen Oberschenkel und Leiste zu platzieren. Sie tat wie geheißen, doch wandte ihr blasses Gesicht ab und starrte zu Boden. Plötzlich stach sich der Vater mit einem Skalpell mitten in den Bauch. Hermann musste einen Schrei unterdrücken, als er sah, wie fürchterlich es blutete. Der Vater wies die Mutter an, das Blut wegzuwischen und die Wunde so weit aufzuziehen, dass er ganz hineinsehen konnte. Hermann merkte, dass auf einmal sein kleiner Bruder neben ihm stand. Adolf wollte auch in das Zimmer der Eltern hineinschauen, aber Hermann drängte ihn zurück und hielt ihm die Hand vor die Augen. Der Vater steckte sich ächzend eine Schere in die offene Wunde, öffnete und schloss sie wieder. Dann holte er mit einer Hand etwas aus der Wunde heraus, das wie eine blutige Wurst aussah. Er warf sie neben das Bett und ließ sich von der Mutter Nadel und Bindfaden reichen. Hermann wurde übel, aber er konnte den Blick einfach nicht abwenden. Erst nachdem der Vater sich den Bauch wieder zugenäht hatte, hatte Hermann seinen Bruder an der Hand genommen und war mit ihm zurück ins Bett geschlichen.
Jetzt lag Hermann im Krankenzimmer und er war sich sicher, ohne den Verband um seinen Brustkorb hätte es längst eine Tracht Prügel gegeben. Am ersten Abend im Spital hatte der Vater ihn angebrüllt. »Was erlaubst du dir, einen Büffel zu reizen! Wie kannst du es wagen, mir mit solchen Dummheiten die Zeit zu stehlen!«
Sogar die Mutter hatte den Kopf geschüttelt. Dabei hatte sie Hermann sonst immer zur Seite gestanden. Im vergangenen Winter zum Beispiel, als er heimlich zum Bahnhof gelaufen war. Dort war er, während der Lokomotivführer auf dem Bahnsteig stand und seine Pfeife rauchte, in das Führerhaus der Wusch gestiegen. Die kleine Schmalspurbahn verband seit zwei Jahren Schäßburg mit Agnetheln und Hermann liebte es, wenn sie am Marktplatz vorbeifuhr und die Dampfglocke pfiff. Im Führerhaus hatte er vor den vielen Skalen der Manometer gestanden und vor den zahllosen Schläuchen, Drehverschlüssen und Hebeln, und hatte sich gefragt, was sie wohl bedeuteten und was sich mit ihnen anstellen ließ. Er hatte angefangen, daran herumzuspielen und plötzlich hatte es gezischt und es hatte gefaucht, der Zugführer war herbeigestürmt, hatte ihn herausgezerrt und ihm eine ordentliche Ohrfeige verpasst. Auch der Vater hatte später sehr geschimpft, nur die Mutter war nicht böse gewesen. Still, aus ihrem weichen, melancholischen Gesicht hatte sie ihn angesehen und ihm über den Kopf gestrichen, als er ihr von dem aufregenden Führerstand erzählte.
Doch bei dem Vorfall mit dem Büffel hatte auch sie verständnislos geschaut. »Was ist nur in dich gefahren?« Hermann hatte geschwiegen. Er wusste es nicht.
Einen Monat nachdem er wieder genesen war, weckte ihn die Mutter kurz nach Sonnenaufgang. Zusammen mit Adolf verließen sie das Arzthaus. Der Morgen war düster. Im Garten hämmerte der ungarische Spitaldiener schweigend auf einem Stück Holz herum, auf der Straße...
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