Schweitzer Fachinformationen
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Sirenengeheul dominierte die Stadt. Wo war Peter? Aufgeregt rief Karla nach ihrem Sohn, während sie sich die Tasche mit den wichtigsten Habseligkeiten schnappte. »Peter? Peter!«
Sieglinde begegnete ihr im Treppenhaus. »Hast du Peter gesehen?«, fragte Karla die Schwiegermutter, während sie die Stufen hinabrannte.
»Wieso fragst du?«
»Weil er nicht da ist!« Karla drückte Sieglinde die Tasche in die Hand, die von den anderen Hausbewohnern angerempelt wurde, als diese in den Keller rannten. »Nimm!«, sagte sie. »Ich suche nach Peter.« Was ihr Sieglinde nachrief, hörte sie nicht mehr. Im Garten, wo er noch bis vor fünf Minuten gespielt hatte, war er nicht mehr.
Vor dem Haus war niemand zu sehen. Sie rannte die Straße entlang bis zur Ecke Ahornstraße und schrie den Namen ihres Sohnes aus Leibeskräften. Die Straßen waren leer. Kein Kind, kein Mensch, nur der Lärm der Sirenen in unerträglichen Frequenzen. Der Himmel über Berlin war blutrot. Die Geschütze der Flak donnerten unentwegt hinein. Karla drehte um und rannte zurück bis zur Ecke Anhaltinerstraße. Sie musste kurz pausieren, stützte sich mit den Händen auf die Schenkel und schnaufte durch. Der Puls hämmerte in jeder Faser ihrer Zellen. Wo war Peter?
Ein älteres Ehepaar kam ihr entgegengerannt. Er trug einen Koffer, hielt seinen Hut fest, sie hatte nur eine Handtasche. »Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen? Er ist erst eineinhalb«, wollte sie die beiden aufhalten, aber sie ließen sie unbeachtet stehen. Karla drehte sich im Kreis. »Pe-ter!«, schrie sie immer wieder.
Da sah sie schon das erste Flugzeug kommen und hielt sich die Hände über den Kopf. Sechs weitere folgten in Formation. Es traf Berlin-Mitte. Um die Ecke kam ein Mann gerannt und sah sie erstaunt an: »Wat machense hier, um Gottes willen! Kommse mit in den Keller!« Er packte sie am Arm und wollte sie mitnehmen, doch sie riss sich los. »Ich suche meinen Sohn. Haben Sie ein kleines Kind gesehen?«
»Ein Kind? Ach, du heiliger Bimbam! Nee, nüscht jesehen. Den wird schon jemand in Sicherheit jebracht haben, jetzt kommse mit, in Gottes Namen!«
Wieder riss sie sich los und rannte zurück in die Beuckestraße. »Ich kann nicht, ich muss meinen Sohn finden!«
Karla kam in den Keller ihres Hauses. Dort hatten schon alle ihre Stammplätze eingenommen. »Ist Peter hier?«
»Um Gottes willen.« Sieglinde wurde blass. »Hast du ihn etwa nicht gefunden?«
Karla wurde panischer. »Ich suche noch mal im Garten!«
»Sind Sie wahnsinnig?«, rief Herr Frantz und zog sie so fest am Arm, dass sie zu Boden fiel. »Jetzt nach draußen gehen wäre Selbstmord. Sie bleiben hier!«
»Aber mein Sohn ist irgendwo da draußen. Ich muss ihn suchen!«
»Sie bleiben hier und warten, bis der Alarm vorbei ist. Wenn er jetzt nicht mehr draußen war, dann hat ihn sicher jemand in seine Obhut genommen.«
»Lassen Sie mich los!« Erneut riss sie sich aus den Händen eines Mannes los.
»Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass Sie ihn rechtzeitig zur Mutter-Kind-Evakuierung geben sollen. Dieser Leichtsinn!«, rief Herr Frantz ihr streng hinterher.
Karla beachtete ihn nicht weiter, sprang die Kellerstufen hinauf und sah nochmals im Garten nach. Keine Spur von Peter, stattdessen schlug es überall ein. Im Haus suchte sie inzwischen zum dritten Mal in den zwei Winkeln, in denen er sich manchmal zum Spaß versteckte, aber auch da war er nicht. Peter war verschwunden. Die Bombeneinschläge kamen näher, und nun tat es einen gewaltigen Schlag im Haus, sodass sie instinktiv die Hände über den eingezogenen Kopf hielt. Scheiben klirrten, Möbel polterten. Es nützte nichts, sie musste in den Keller. Vielleicht hatte Herr Frantz recht, und Peter war schon längst in Sicherheit. Aber wo?
Karla saß nun mit den Bewohnern des Hauses, den Bewohnern der ausgebombten Nachbarschaft und einer Flüchtlingswitwe aus Ostpreußen, Frau Grigoleit, zusammengekauert auf einer Matratze. Frau Grigoleit war vor ein paar Wochen mit ihren zwei kleinen Söhnen und ihrer jugendlichen Tochter Ilse halb verhungert angekommen. Man hatte sie in der Dachwohnung untergebracht. Neben ihnen saß der breite Bäcker Schlotzke, der mit seiner noch breiteren Frau bei dem Fräulein Köhler im zweiten Stock eingezogen war. Sie hatten ihr Geschäft gegenüber, bekamen aber schon seit Wochen keine Lieferung mehr. Fräulein Köhler war eine alte Jungfer mit Hakennase und dünnem Dutt. Man nannte sie nur alte Jungfer, weil sie Wert auf die Anrede Fräulein legte, dabei war sie fast vierzig. Sie war Lehrerin an der Nordschule in der Potsdamer Straße. Lebte sittsam, bescheiden und rein.
Bei Karla und ihrer Schwiegermutter Sieglinde waren heute das Ehepaar Höldner mit deren Schwiegertochter von der ebenfalls ausgebombten Wäscherei eingezogen. Karla hatte sie noch gar nicht kennengelernt. Und da Karla mit Sieglinde die größte Wohnung in dem Haus besaß, hatten sie auch Herrn Frantz aufnehmen müssen, ein Junggeselle in den Dreißigern mit schütterem Haar und Brille, Beamter bei den Kommunalen Heil- und Pflegeanstalten. Ständig trug er an seiner Kleidung das Abzeichen des Reichsbundes der Deutschen Beamten. Er war ausgemustert worden wegen einer Herzerkrankung, wie er sagte.
Und dann war da noch »Die Hetzel von unten«. Frau Hetzel war schon vor dem Krieg Witwe geworden und war die Seele des Hauses. Sie hatte die Parterrewohnung, aus der sie nie mehr gehen wollte, wie sie immer betonte. Für Karla und ihre Schwiegermutter war sie nur »Die Hetzel von unten«, denn Frau Hetzels Schwester lebte bis vor ein paar Wochen im Dachgeschoss, aber sie hatte es für besser gehalten, Berlin zu verlassen, bevor die Russen einmarschierten, und war zu ihrer Verwandtschaft ins Erzgebirge geflohen. Auf die entsetzte Frage, wie sie denn dann ausgerechnet in den Osten gehen könne, wo doch da der Russe herkam, hatte sie gelassen geantwortet: »Auf dem Land tut man uns doch nüscht. Da spaziert der Russe doch nur durch. Der Iwan will Berlin, nicht das Erzgebirge.« Sie alle waren zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengekrochen. Wie die Fledermäuse klebten sie stumm aneinander. Jeder barg die stille Hoffnung in sich, auch dieses Mal verschont zu werden. Karla dachte unentwegt an Peter und begann leise zu beten. Selten hatte sie den Namen Gottes öfter gehört als heute. Still begann sie, in ihrer Angst vor sich hin zu singen. »Ich hab so Sehnsucht, ich träum so oft, einst wird das Glück mir nah sein .«
Herr Frantz schüttelte verständnislos den Kopf. »Jetzt singen - als hätten wir sonst keine Sorgen.«
»Dann auch noch ein Lied von einem Juden. Muss das sein?« Sieglinde stupste Karla in grimmiger Ermahnung an.
Diese verstummte.
Aus der Ecke der Höldners sang eine Frauenstimme weiter. Lieblich und sanft, als gäbe es keinen Krieg. Tage und Nächte, wart ich darauf, ich geb die Hoffnung niemals auf. Ein paar weitere Stimmen setzten ein, und bald sang der halbe Keller: Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück, und ich denk daran in jedem Augenblick .
Das Lied hatte die Gemüter beruhigt. Die Flüchtlingswitwe Grigoleit summte leise weiter und wiegte dabei ihren jüngsten Sohn. Dasselbe müsste Karla jetzt mit Peter tun. Ihr zerriss es das Herz.
Als nach vielen Stunden des Ausharrens die Raketen der Stalinorgeln nicht mehr heulten, es ringsum wieder ruhiger wurde, die Häuserwände nicht mehr wankten und die Erschütterungen nachließen, kehrte auch das Gespräch zurück. Noch bis zu Beginn des Krieges hieß es euphorisch aus aller Munde: »Das haben wir alles dem Führer zu verdanken.« Nun sank die Begeisterung in die Tiefen der Angst. »Hoffentlich marschieren die Amis vor den Russen ein« . »Hitler und Göbbels sollen ja jetzt auch in Berlin sein« . »Na, Gott sei Dank, dann geht es wieder aufwärts« . »Aber Hitler und Göbbels hat doch keener mehr jesehen, jeschweige denn jehört .«
Man konnte sich nur noch über Hörensagen informieren, denn Radiosender gab es nicht mehr, keine Elektrizität und kein fließend Wasser. Gas war schon lange abgeschaltet. Wer Glück hatte, wie Karla, hatte noch ein Dach über dem Kopf. Vielleicht fehlte eine Außenwand, vielleicht waren ein paar Fenster eingeschlagen, aber das Haus stand noch. Bis heute war Karla von der ruhmreichen Idee der Nationalsozialisten überzeugt gewesen. Hatte sich blenden lassen, blind geglaubt, kritiklos gefügt, war der Einstellung der eingeheirateten Familie artig gefolgt. War nun alles vorbei?
Frau Hetzel hatte ihr - wie sie es so schön nannte - Hindenburglicht dabei. Ein kleines Kerzenflämmchen auf einem mit Talg gefüllten Marmeladendeckel. Der Keller war im letzten Jahr zum zweiten Wohnzimmer geworden. Wer konnte, hatte sich eine Matratze mitgebracht, modrig muffelnd klamme Decken lagen darauf. Manche hatten einen Hocker dabei, die meisten wenigstens ein dickes Kissen. Ein paar Essensvorräte lagerten auch immer im Keller. Sie gingen sparsam damit um.
Karla wollte nach draußen, doch wieder wurde sie von Herrn Frantz am Arm zurückgehalten. »Wir warten erst das Entwarnungssignal ab. Vorher geht hier niemand. Es ist viel zu gefährlich!«
»Ich lasse mir nicht verbieten, nach meinem Kind zu suchen!«, fuhr sie ihn an, riss sich von ihm los, und im selben Moment heulten die Stalinorgeln erneut auf, es schüttete Bomben auf Berlin, und Karla wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Weinend sank sie in die Hocke und zitterte...
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